16. November 1938 in den frühen Morgenstunden

Die Zugfahrt hatten sie gut und ohne Vorkommnisse überstanden.

Der freundliche Schaffner hatte ihre Fahrkarten geknipst und ihnen eine gute Fahrt gewünscht.

Obwohl Violetta todmüde war, hatte sie im Abteil kein Auge zugetan.

Die letzten Tage waren wie ein Albtraum gewesen. Jetzt steuerte sie mit Hans hoffentlich in eine neue, glücklichere Zukunft.

Vor dem Hamburger Hauptbahnhof wurden sie von einem kleinen, unscheinbaren Mann zu einem Wagen gewinkt. Er trug eine unmoderne Prinz-Heinrich-Mütze.

»Fräulein Schwarz?«

Violetta nickte, dann folgten sie seiner Aufforderung und stiegen hinten in den Wagen ein. Der Fremde setzte sich ans Steuer und drehte sich zu ihnen um.

»Hier sind Ihre Visa. Ich fahre Sie jetzt zum Hafen. Auf dem Kai reihen Sie sich in die Warteschlange ein. Getrennt. Niemand darf wissen, dass Sie zu zweit an Bord gehen. Die Kontrolleure werden alle Passagiere genau unter die Lupe nehmen. Bedenken Sie, dass ein falsches Wort Sie verraten könnte und Ihre Flucht gefährdet. Gute Reise.«

Violetta kam die Anweisung des Fluchthelfers, getrennt in der Warteschlange zu stehen, seltsam vor. Ihr Bauchgefühl sagte, dass etwas nicht stimmte.

Dann startete er den Motor und fuhr sie schweigend zum Hamburger Hafen. Sie war froh, dass er nicht sprach, denn sie war viel zu aufgeregt, als dass sie sich auf ein Gespräch hätte einlassen können.

Es wehte ein eisiger Wind, als Violetta und Hans einzeln den Kai betraten und sich in die Schlange der wartenden Passagiere einreihten. Zwei riesige Schiffe schaukelten zu beiden Seiten sanft auf den Wellen. Beim Anblick der Schaukelbewegungen wurde Violetta ganz flau. Die Gruppe SS-Männer in schwarzen Uniformen am Fuße der Schiffstreppe flößte ihr mehr als Respekt ein. Wie gern hätte sie jetzt nach Hans' Hand gefasst. Der stand zwei, drei Meter hinter ihr in der Schlange. Sie wagte nicht, sich nach ihm umzudrehen.

»Keine Angst, alles wird gut gehen. Morgen sind wir in England und beginnen unser neues Leben«, hatte Hans ihr vorhin im Zug zugeflüstert. Doch ihre Zuversicht sank beim Anblick der SS-Männer.

Im Geist ging sie noch einmal alles durch, was sie besprochen hatten. Jeder von ihnen besaß ein entsprechendes Schreiben vom Reichswirtschaftsministerium, das ihnen die Ausreise erlaubte.

In den vergangenen Tagen hatten die Nazis Hans' Vater verhaftet, der etwas gegen die Partei gesagt hatte. Das trübte ihre Abreise. Die Widerstandsbewegung hatte von Hans für die Flucht und sämtliche Papiere dreißigtausend Reichsmark verlangt. Das hatten ihre Eltern bezahlt. Hans hatte sich zunächst geweigert, das Geld anzunehmen, bis Violetta ihm gedroht hatte, ihn nicht zu begleiten. Hans hatte sich schließlich einverstanden erklärt, wenn er ihnen alles auf Heller und Pfennig zurückzahlen durfte.

Auch die Miete hatte ihr Vater an den Cellisten überwiesen.

Alles war perfekt organisiert.

Violetta zog den Kragen enger um den Hals, als der eisige Wind unter ihre Kleidung kroch. Immer die Angst im Nacken, dass noch irgendetwas ihre Flucht verhindern könnte. Mit Unmut nahm sie wahr, dass die Schlangen auf dem Kai lang waren. Familien, Pärchen, Einzelpersonen.

Sie vermisste die anderen und das Theater schon jetzt.

Violetta wurde unsanft aus ihren Grübeleien gerissen, als ihr jemand einen Schubs gab.

»Vorgehen bis zur Kontrolle!«, forderte der Matrose mit der Bassstimme neben ihr. Sie nickte und schloss zu einem Pärchen auf.

Plötzlich wurde ein Mann zwei Reihen vor ihr von einem der SS-Männer grob gepackt. Seine Begleiterin schrie auf und klammerte sich an seinem Arm fest. Gleich darauf bekam sie einen Schlagstock von einem der anderen SS-Männer zu spüren und stürzte auf den Boden. Violetta wollte ihr aufhelfen, wurde aber von einem Matrosen daran gehindert. Das brutale Vorgehen erschütterte sie. Sie beobachtete, wie das Pärchen gleich darauf zu einem Transporter geführt wurde und einstieg.

Plötzlich fühlte sie sich beobachtet und sah sich um. Ein Stück von den Wartenden entfernt standen zwei Männer in langen, dunklen Mänteln, die zu ihr herüberschauten und tuschelten. Sie vermutete, dass sie von der Gestapo waren.

Unwillkürlich blickte Violetta zu Hans.

Die Angst wuchs. Wieder wurden Wartende aus der Schlange gezerrt und abgeführt.

»So etwas passiert, wenn man sich denen widersetzt«, sagte hinter ihnen ein älterer Mann mit Vollbart.

»Wir haben alle erforderlichen Dokumente dabei«, erwiderte die Frau hinter ihr.

»Fühlen Sie sich nur nicht zu sicher. Keiner weiß, was in deren Köpfen vorgeht«, raunte der Vollbärtige wieder. »Die riechen einen Juden von Weitem.«

Violetta schluckte und verdrängte die Frage, ob Hans durch seinen Vater ebenfalls ins Visier der Gestapo geraten sein könnte.

Ihre Hände waren eiskalt, als sie an der Reihe war. Einer der SS-Männer befahl ihr vorzutreten.

»Sie reisen allein, Fräulein ...?«

Violetta reichte ihm ihre Papiere, in denen er zu blättern begann. »Fräulein Schwarz?«

»Ja.« Violetta lächelte den SS-Mann an. Ihr Lächeln gefror unter dem eisigen Blick ihres Gegenübers. Wieder musste sie an die Nacht der brennenden Synagoge denken, in der sie hautnah die Gewalt der SS und SA gesehen hatte. Die schrecklichen Bilder würden ihr ewig im Gedächtnis bleiben.

»Sie sind Schweizer Staatsbürgerin?«

Violetta nickte. Seine Miene blieb unbeweglich.

»Warum nach London?« Seine Fragen nervten sie.

»Ich habe dort ein Vorsingen. Und wenn ich Glück habe und angenommen werde, ein Konzert.« Sie hatte mit ihren Eltern jeden Satz einstudiert. Dennoch bebte sie vor Aufregung. Nach einer gefühlten Ewigkeit erhielt sie ihre Papiere zurück und steckte sie ein.

»Sie können weiter«, drängte sie der SS-Mann und schob sie nach vorn.

»Der Nächste.«

Erleichtert ging Violetta auf den Anlegesteg zu. Jetzt musste nur noch alles bei Hans glattlaufen, dann konnten sie gemeinsam auf dem Schiff die Luft der Freiheit einatmen. Bevor sie emporstieg, drehte sie sich noch einmal um.

Zwischen ihr und Hans wurden eine kleine Familie und der Vollbärtige überprüft. Die Familie sprach Englisch und wurde ohne große Kontrolle durchgewunken. Den Vollbärtigen hielten sie zurück.

»Weiter!«, brüllte sie einer der SS-Männer an. Violetta schleppte ihre schweren Reisetaschen bis zum Anlegesteg. Dort nahm einer der Matrosen ihr das Gepäck ab und trug es an Bord. Oben an Deck wurden die Passagiere namentlich aufgerufen und die Kabinen zugeteilt, sodass sich alles auf dem Steg staute. Violetta drehte sie sich noch einmal zu Hans um. Er sprach mit dem SS-Kontrolleur und den zwei dunkel gekleideten Männern, die hinzugetreten waren, und war seltsam blass. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte.

Der SS-Kontrolleur ließ sich mit der Durchsicht von Hans' Papieren viel Zeit. Zu viel Zeit, wie Violetta fand. Ihr wurde ganz flau im Magen, besonders als die Gesten der Männer eindringlicher wurden. Sie konnte nicht verstehen, was sie sprachen.

Der Vollbärtige und die Familie waren inzwischen zu ihr aufgeschlossen. »Gehen Sie endlich weiter. Sie halten den ganzen Verkehr auf.«

»Aber ...« Sie wollte Hans rufen, aber dann dachte sie an die Warnung ihres Fluchthelfers.

Der Steg schwankte durch die Schaukelbewegung des Schiffes. Violettas Magen begann zu rebellieren.

Als sie wieder in der Schlange stand, drehte sie sich nach Hans um. Der Blick hinunter machte sie schwindlig. Sie krallte sich an das Geländer. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und die Übelkeit wuchs. Sie sah, wie Hans den Kopf schüttelte und abwehrend die Hände hob. Dann blickte er zu ihr hinauf. In seinen dunklen Augen lagen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

Violettas Knie knickten ein. Hätte sie nicht einer der Matrosen gepackt, wäre sie den Steg hinabgestürzt.

»Nein, nein«, stammelte sie. Die beiden dunkel gekleideten Männer packten Hans rechts und links, zogen ihn aus der Warteschlange und führten ihn zu einem Wagen.

»Ich muss zu ihm«, sagte sie.

»Das geht nicht. Kommen Sie, Fräulein.« Die Stimme des stämmigen Matrosen klang ungeduldig.

»Aber ich muss zu ihm!« Tränen rollten ihr übers Gesicht.

»Seien Sie doch vernünftig.« Sie wollte sich losreißen, als ihr plötzlich schwarz vor Augen wurde und ihre Beine nachgaben. Dann hüllte sie Dunkelheit ein.

Als Violetta erwachte und die Augen aufschlug, lag sie in einer Kajüte. In ihrem Kopf dröhnte es wie nach einem Kater. Durch das Schaukeln des Schiffes war ihr wieder übel. Sie sah sich um. Sie war allein. Wo war Hans? Die Furcht um ihn schnürte ihr die Kehle zu. Violetta wollte sich aufsetzen, aber der pochende Schmerz hinter den Schläfen ließ sie zurück aufs Kissen sinken.

Im gleichen Augenblick betrat eine blonde Krankenschwester die Kajüte. H. Miller stand auf dem Schild, das an ihrer Brust steckte. Als sie sah, dass Violetta aufstehen wollte, eilte sie zu ihr.

»Bitte bleiben Sie liegen, Miss«, sagte sie bestimmt auf Englisch und drückte Violettas Schultern hinunter.

»Aber ... aber ich muss nach meinem Verlobten suchen«, widersprach sie.

»Sie müssen sich in erster Linie ausruhen. Ich bin Schwester Miller«, stellte sie sich vor und reichte Violetta die Hand.

»Violetta Schwarz.« Der Händedruck der Schwester war fest und kurz. Sie besaß ein sympathisches Lächeln.

»Ist Ihr Verlobter denn an Bord der Arcadia?«

»Ja ... nein ... Ich hoffe es.« In Violettas Kopf dröhnte es, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Außerdem kämpfte sie erneut gegen die Übelkeit.

Schwester Miller sah sie mitleidig an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Sie hoffen es? Sind Sie denn nicht gemeinsam an Bord gegangen?«

»Nein. Da waren zwei Männer ... und ich bin ohnmächtig geworden.« Die Männer in den langen, dunklen Mänteln hatten Hans zu einem Lastwagen geführt. Das war das Letzte, woran sie sich erinnerte.

Violetta erzählte der Schwester in wenigen Sätzen, was geschehen war.

»Zwei von der Besatzung haben Sie hergetragen. Aber da war niemand bei Ihnen.«

Dann war Hans also nicht an Bord gegangen. Violetta schlug die Hände vors Gesicht.

»Ich muss zurück.« Violetta versuchte aufzustehen.

»Unmöglich. Wir befinden uns auf See.«

Es dauerte einen Moment, bis Violetta ihre Lage begriff. Hans war vermutlich in Hamburg, und sie befand sich auf dem Weg nach England. Eine Träne lief ihr über die Wange.

»Es tut mir leid. Die Männer ... die müssen von der Gestapo gewesen sein.«

Bei dem Gedanken lief es Violetta eiskalt den Rücken hinunter.

»Wie heißt denn Ihr Verlobter?«

»Hans. Hans Brünn. Er ist Komponist. Wir kommen aus Hannover.«

»Ich werde einen der Offiziere fragen, ob er an Bord ist«, schlug die Schwester vor. Dankbar lächelte Violetta sie an.

»Sie ruhen sich bitte aus.«

»Aber ...«

»Keine Widerrede. Wir legen bald in Dover an.«

Violetta wollte protestieren. Wie könnte sie hier liegen, wenn sie nicht wusste, was mit Hans geschehen war?

Überhaupt, was sollte sie ohne ihn in England?

Von der ganzen Aufregung wurde Violetta wieder übel. Sie würgte und presste die Hand auf den Mund. Da eilte die Schwester hinaus und kehrte mit einer Schüssel zurück.

Violetta erbrach sich. Danach ging es ihr etwas besser. Schwester Miller reichte ihr ein Tuch und ein Glas Wasser.

»Verzeihen Sie meine Frage. Sind Sie nur seekrank oder vielleicht guter Hoffnung?«

Violetta erschrak. In all der Aufregung hatte sie über diese Möglichkeit gar nicht nachgedacht.

»Seekrank«, antwortete sie ausweichend.

»Dann müssen Sie liegen bleiben. Ich komme zurück und helfe Ihnen, sobald wir den Hafen erreicht haben.«

Violetta dachte an ihr Gepäck.

»Meine Sachen?«

»Stehen da drüben.« Die Schwester deutete in die Kajütenecke auf die beiden Reisetaschen.

»Danke.«

»Bis später.«

Mit diesen Worten verabschiedete sich Schwester Miller.

Grübelnd starrte Violetta an die Kajütendecke. Hans und sie hatten gemeinsam ein neues Leben beginnen wollen. Und jetzt war er womöglich nicht an Bord. Die Angst um ihn brachte sie um. Sie dachte an die Geschichten über die Juden, die in ein Lager geschickt worden waren. Konnte das Schicksal wirklich so grausam sein und sie von dem geliebten Mann trennen?

Violetta drehte sich in die Kissen und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Nach einer Weile öffnete sich die Kajütentür, und Schwester Miller kehrte zurück. Ihre Miene verriet, dass sie keine guten Nachrichten mitbrachte.

»Es tut mir sehr leid. Ihr Verlobter stand auf der Passagierliste, aber er hat das Schiff nicht betreten. Vermutlich wurde er von der Gestapo ...«

Die folgenden Worte gingen ungehört an Violetta vorbei. Ihre Befürchtungen wurden zur Gewissheit. Sie klammerte sich verzweifelt an die Hoffnung, dass Hans stark genug war, die Haft oder ein Lager zu überleben. Sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um herauszufinden, wo er sich befand. Violetta war sogar bereit, sich dafür Armin Mahler hinzugeben.

Dumpfe Geräusche hallten durch die Kajüte.

»Wir laufen gerade in den Hafen ein. Kommen Sie, ich helfe Ihnen beim Ankleiden«, sagte Schwester Miller.

»Können Sie mir bitte helfen? Ich muss wieder zurück.«

»Nach Deutschland?« Ungläubig sah die Schwester sie an.

»Ja, natürlich.« Violetta hatte in diesem Moment beschlossen, nach Hause zurückzukehren.

»Vor morgen Abend läuft kein Schiff mehr aus. Und wenn Ihr Verlobter tatsächlich von der Gestapo festgenommen wurde, sind Sie dort vermutlich nicht mehr in Sicherheit.«

Violetta hatte das Gefühl, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Aber ich muss doch gleich zurück«, sagte sie leise.

Schwester Miller legte die Hand auf ihre Schulter.

»Es tut mir leid.«

Die Tränen rannen über Violettas Gesicht. Das musste ein Albtraum sein. Eben noch waren sie und Hans voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft gewesen.

»Sie können nicht an Bord bleiben. Kommen Sie.« Schwester Miller reichte ihr die Hand. Wie betäubt erhob sich Violetta und folgte der Schwester durch die schmalen Gänge nach oben. Was sollte sie ohne Hans?

»Werden Sie von jemandem erwartet?«, fragte Schwester Miller. Violetta schüttelte den Kopf.

»Nein. Aber ich habe eine Adresse. In London.« Sie nannte der Krankenschwester die Adresse von Clive Owens.

»Ich fahre heute auch nach London zurück. Mit der Bahn anderthalb Stunden. Die Straße liegt in der Nähe von Kings Cross. Keine sichere Gegend für uns Frauen.«

Da hatte sie gedacht, es könnte nicht schlimmer werden, und doch war es so.

Ihr Vater hatte in London gesungen und jedes Mal in Hotels übernachtet.

»Aber wo soll ich denn dann hin?«

»Eine Freundin von mir führt eine nette, gepflegte Pension in Hammersmith. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie dorthin.«

Violetta sah Schwester Miller forschend an. Konnte sie der Krankenschwester vertrauen? Was würde Mr Owens sagen, wenn sie nicht wie verabredet zu ihm käme?

»Sie können diesen Mr Owens anrufen oder ihm eine Nachricht bringen lassen«, schlug Schwester Miller vor, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Meine Freundin besitzt einen Fernsprecher.«

Die Antwort der Schwester überzeugte Violetta schließlich. Sie nickte.

»Sie können mich ruhig Heather nennen«, sagte sie und reichte Violetta die Hand.

»Danke. Ich bin Violetta.«

Gemeinsam verließen sie das Schiff.