Die Tage schlichen dahin. Das war also ihr neues Leben in England. Es war so ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Einsam ohne Hans und ihre Familie. Was hatten sie für Träume und Pläne gehabt!
Alle schwiegen. Wir wissen nicht, ob Hans im Gefängnis ist oder in ein Lager gebracht wurde, hatte ihr Vater in seinem letzten Brief geschrieben.
Bis heute wusste sie nichts über das Schicksal ihres Verlobten.
Sie hatte ihren Vater angeschrieben und angefleht, sich zu erkundigen, was mit Hans geschehen war.
Ich möchte so gern zu euch zurückkommen. Ich vermiss euch so. Dabei war eine Träne aufs Briefpapier getropft.
Ihr Vater hatte sie daraufhin gewarnt zurückzukehren.
Das können wir nicht riskieren. Mahler war im Theater. Er ist verantwortlich für Hans' Verhaftung. Mahler weiß alles von den gefälschten Dokumenten von Hans' Mutter. Er hat sich deinetwegen Hoffnungen gemacht. Jetzt fühlt er sich in seiner Eitelkeit gekränkt, weil du mit einem Mann mit jüdischen Wurzeln geflohen bist. Das wird er dir nie verzeihen. Uns hat er angedroht, dass er dich bei deiner Rückkehr verhaften lassen will! Sei vernünftig, Violetta, und bleib in Sicherheit.
So schwer es ihr auch fiel, sie musste hier in England bleiben und auf bessere Zeiten hoffen.
Es gab für sie momentan kein Zurück.
Jeden Abend vor dem Einschlafen betete sie für Hans und ihre Familie. Ihre Hoffnung, sie bald wiederzusehen, schwand mit jedem Tag.
Selbst wenn sie sich zu einer Rückreise entschließen würde, konnte sie diese nicht bezahlen. Ihr Geld war längst für ihren Lebensunterhalt aufgebraucht, und ihre Eltern wollte sie nicht darum bitten. Sie musste endlich ein Engagement bekommen, um mehr als nur von der Hand in den Mund zu leben.
Weil die Wohnung des Cellisten Clive Owens wie von Heather beschrieben in einer üblen Gegend lag, war sie in die kleine Pension von Heathers Freundin Sally gezogen. Sally war nicht viel älter als sie und eine warmherzige Person. Sie hatte ihren Mann früh verloren und musste ihre drei kleinen Kinder allein durchbringen. Violetta fühlte sich bei ihr wohl.
»Ich weiß nur zu gut, wie es ist, wenn man sich allein durchschlagen muss«, hatte sie zu Violetta gesagt. »Ich habe auch nichts gegen die Deutschen.«
Sally hatte ihre missliche Lage sofort erkannt und sie ohne zu zögern bei sich aufgenommen.
Violetta hatte ihren Eltern mitgeteilt, dass sie nicht bei dem Musiker Clive wohnte und nach einem Zimmer suchte. Sie bewarb sich um Engagements auch außerhalb Londons und wusste nicht, wie lange sie noch bei Sally wohnen würde.
Bei den meisten Londonern war Violetta unerwünscht, sobald sie hörten, dass sie aus Deutschland kam.
Seufzend schaute sie aus dem kleinen Fenster ihres Zimmers auf die verschneiten Hausdächer. Wie es jetzt wohl in Hannover aussah? Ob im elterlichen Garten ebenso viel Schnee lag? Sie verspürte ein solches Heimweh nach der Familie und dem Theater, dass es schmerzte.
Mit einem Engagement hätte sie sich leichter eingefunden. Stattdessen verdiente sie ihr Geld als Straßenmusikerin.
Violetta stand auf, um sich einen Tee zu kochen. Morgen würde sie wieder in den Straßen Londons singen und musste gut bei Stimme sein.
Nachdem sie den Wasserkessel auf den Holzofen gestellt hatte, klopfte es an ihrer Tür. Sie guckte durch den Spion und war erleichtert, als sie Heather erkannte. Seit der Überfahrt auf der Arcadia hatten sie sich miteinander angefreundet. Hier durfte sie wenigstens am Vormittag ungestört singen, wenn die anderen Pensionsgäste außer Haus waren. Nur leider fehlte Violetta ein Klavier, das ihr das Üben erleichtert hätte.
»Hallo Heather.« Zur Begrüßung umarmte sie die neugewonnene Freundin. »Mit dir habe ich nicht gerechnet.«
Heather strahlte. »Ich bringe gute Nachrichten.«
Sofort schöpfte Violetta Hoffnung, die Freundin könnte etwas von Hans erfahren haben. Heather hatte versprochen, durch einen Matrosen der Arcadia etwas herauszufinden.
»Hans?«
Das Lächeln auf Heathers Gesicht erlosch. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein.« Verlegene Röte überzog deren Wangen. »Ich habe einen Raum gefunden, wo du jederzeit üben kannst. Ein Klavier gibt es dort auch.« Violetta suchte schon seit langem vergeblich nach einem geeigneten Übungsraum.
Die Nachricht rührte sie zu Tränen.
»Wirklich?« Sie konnte es kaum fassen.
»Reverend Hull hat meiner Bitte stattgegeben. Drüben im kleinen Gemeindesaal steht ein Klavier, das selten genutzt wird. Er meinte, du könntest dort außer sonntags üben, wann immer du willst und keine Veranstaltungen sind. Ist das nicht toll?«
»Ja«, antwortete Violetta und umarmte Heather. »Danke«, flüsterte sie der Freundin ins Ohr.
»Schon gut.« Die burschikose Heather klopfte ihr auf den Rücken. »War schwer, den guten Reverend zu überzeugen.«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Das erleichtert mir das Üben ungemein.«
»Ich kann doch der Karriere einer solch tollen Sängerin wie dir nicht im Wege stehen«, sagte Heather augenzwinkernd.
Das Gemeindehaus von Reverend Hull lag nur wenige Meter von der Pension entfernt. So würde es Violetta möglich sein, auch abends zu üben.
Violetta bot Heather einen Kräutertee an.
Sie setzten sich mit den Teetassen an den kleinen runden Tisch in ihrem Zimmer.
»Ich habe noch etwas mitgebracht.« Heather zog etwas in Butterbrotpapier Eingewickeltes aus ihrer Handtasche. Es war ein Stück Schafskäse. Letzte Woche hatte Violetta solch einen Heißhunger darauf verspürt und sich im Laden um die Ecke ein größeres Stück Käse gekauft. Gierig hatte sie es verschlungen. Heute jedoch bewirkte der Geruch des Käses Übelkeit. Violetta hielt sich erst die Nase zu, dann presste sie die Hand auf den Mund. Der Geruch war unerträglich, dass sie zur Toilette rannte, wo sie sich erbrach.
»Alles in Ordnung?«, fragte Heather besorgt, als Violetta von der Toilette zurückkehrte. Violetta nickte.
»Sei mir nicht böse, aber bist du sicher, dass du nicht schwanger bist? Deine ständige Übelkeit ... Und zugenommen hast du auch, obwohl du wie ein Vögelchen isst.«
Auch Violetta hatte schon darüber nachgedacht. In diesem Moment verspürte sie ein unglaubliches Glücksgefühl, vielleicht Hans' Kind unter dem Herzen zu tragen.
»Vielleicht hast du recht.«
»Dann solltest du unbedingt einen Arzt aufsuchen, um Gewissheit zu haben.«
»Aber ich kann keinen Arzt bezahlen.« Violetta verdiente nicht viel als Straßensängerin.
»Lass mich mal machen. Mir wird schon was einfallen. Schließlich kenne ich als Krankenschwester einige Ärzte.«
Heather war wirklich ein Schatz.
»Ich lass dir den Käse trotzdem hier. Vielleicht überkommt dich noch der Hunger.«
Dann plauderten sie über Violettas Straßenmusik. Nur wenige Minuten weit von der Pension entfernt lag ein Platz, auf dem regelmäßig Straßenmusiker spielten. Violetta war schon ein paar Mal dort gewesen. Sie brauchte dringend Geld. Parallel dazu bewarb sie sich an verschiedenen Bühnen.
Heather hatte sie ins Grübeln gebracht, dass sie vielleicht schwanger sein könnte. Ein Kind würde ihren Plan von einem Engagement durchkreuzen. Nachdem die Freundin gegangen war, betrachtete sich Violetta eingehend im Spiegel. Bildete sie es sich nur ein, oder wirkten ihre Brüste praller? Ihre ohnehin schon immer sehr schwach gewesene Monatsblutung war seit geraumer Zeit ganz ausgeblieben. Zugenommen hatte sie kaum, denn es gab Tage, an denen sie nur wenig zu essen hatte. Violetta hatte ihre Übelkeit immer auf den Hunger und ihre Traurigkeit zurückgeführt. Ein Kind würde ihr Leben erschweren. Doch der Gedanke daran erfüllte sie mit einem warmen Gefühl. Sanft strich sie über ihren Bauch. Würde Hans sich freuen, wenn er von einem Kind erfuhr?
Um Gewissheit zu bekommen, dass sie schwanger war, wollte sie Heathers Ratschlag befolgen und einen Arzt aufsuchen.
Sie grübelte die ganze Nacht, wie sie ein Kind ohne Hans und fern der Eltern aufziehen sollte, bis sie erschöpft gegen Morgengrauen einschlief.