20. Dezember 1938

Es schneite heftig, als Violetta am Vormittag das Haus des Arztes verließ. Sie setzte die Kapuze auf und zog den Wollschal enger um den Hals. Den Kopf nach vorn geneigt stapfte sie durch den Schnee. Endlich hatte sie Gewissheit. Sie trug Hans' Kind in ihrem Bauch. Wenn er doch nur bei ihr sein könnte. Nichts hätte sie sich mehr gewünscht, als die Freude darüber mit ihm zu teilen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Wochen waren vergangen ohne ein Lebenszeichen von ihm. Und wenn er nicht mehr lebte? Violetta schüttelte den Kopf. Hans lebte, und sie würden sich wiedersehen. Daran wollte sie fest glauben.

Der Glaube versetzt Berge, pflegte Justine immer zu sagen.

Einen Moment lang war sie versucht, ihren Eltern ein Telegramm zu schicken, um ihnen die frohe Botschaft mitzuteilen. Doch sie würden sicher sofort zu ihr nach England reisen wollen. Und was wäre dann mit dem Theater? Mitten in der besten Bühnensaison? Nein, sie hatte ihren Eltern genug Scherereien gemacht. Sie beschloss, ihre Schwangerschaft erst einmal zu verschweigen.

Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Zum ersten Mal würde sie es ohne die Familie verbringen. Allein, in dem winzigen Pensionszimmer.

Violetta lief zu Sallys Pension zurück, um Heather und Sally die frohe Kunde mitzuteilen. Nur wenige Schritte vor der Haustür eilte ihr Reverend Hull entgegen. Der gütige und hilfsbereite Geistliche trug trotz der Kälte über seinem Anzug nur die Soutane, die im Wind flatterte. Seine Nase war von der Kälte knallrot. Er hob zum Gruß die Hand und lief zum kleinen Gemeindesaal, der gegenüber der Kirche lag. Früher hatte dort ein Chor geprobt, wie sie von Sally erfahren hatte. Violetta folgte ihm und holte ihn in der Vorhalle ein.

»Reverend Hull, kann ich Sie vielleicht kurz sprechen?«

Er drehte sich zu ihr um. Der drahtige Mann mit dem rotblonden Haar lächelte freundlich.

»Ja, natürlich. Was kann ich für Sie tun?« Im Gegensatz zu vielen anderen Londoner Bewohnern behandelte er sie stets mit Respekt.

»Das Klavier im Saal, es müsste dringend gestimmt werden. Haben Sie vielleicht einen Klavierstimmer an der Hand?« Ihr Vater hatte großen Wert darauf gelegt, dass die Instrumente immer perfekt gestimmt waren. Sie unterdrückte erneut das Heimweh, das stets in ihr aufkam, wenn sie an Hannover dachte.

»Es tut mir leid, Miss Schwarz, aber momentan können wir uns keinen Klavierstimmer leisten. In wenigen Tagen ist Weihnachten, und die Kirchenglocke muss bis dahin repariert sein.«

»Oh«, antwortete sie enttäuscht. »Aber Sie kennen doch sicher jemanden, der ein Klavier stimmen kann? Vielleicht ist jemand aus Ihrer Gemeinde so spendabel, die Kosten zu übernehmen? Ich würde dafür auch in Ihrem Gottesdienst zu Weihnachten singen. Umsonst natürlich. Als Gegenleistung.«

Er zog die Stirn kraus und schien zu grübeln.

»Ich nehme Ihr Angebot gern an, dem Herrn Freude zu bereiten. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass eines der Gemeindemitglieder den Klavierstimmer bezahlen würde.«

»Weil ich allein darauf übe und aus Deutschland komme?«

Reverend Hull schaute auf den Boden, was Violetta in ihrer Annahme bestätigte.

»Aber wenn das Klavier fertiggestimmt ist, könnten Sie es doch noch zu anderen Gelegenheiten nutzen. Für den Kirchenchor zum Beispiel. Das wäre vielleicht ein Argument.«

»Ich werde mit dem Kanonikus sprechen«, antwortete er nach einer Weile. Der Schnee in seinem Haar taute auf und tropfte ihm ins Gesicht.

»Danke.« Violetta strahlte ihn an.

»Versprechen kann ich Ihnen nichts. Wenn der Bischof zustimmt, werde ich Herrn Mandler bitten, das Klavier zu stimmen.«

»Sagten Sie eben Mandler?« Violetta war sich sicher, den Namen schon einmal gehört zu haben, aber sie konnte sich nicht erinnern.

»Mr Gideon Mandler. Er ist Instrumentenbauer hier in London und kümmert sich auch um die Instrumente meiner Gemeinde.«

»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Reverend.«

»Schon gut, Miss Schwarz.« Der warme Ausdruck in seinen Augen erinnerte sie wieder schmerzhaft an Hans und ließ sie erneut traurig werden.

»Haben Sie denn schon etwas von Ihrem Verlobten gehört?«

Wie sensibel der Geistliche war, bewies er mit dieser Frage.

»Leider nein.«

»Alles Gute. Wegen Weihnachten ... Sie können gern in der Kirche üben. Abends spielt unser Organist Martin dort. Er könnte Sie auf der Orgel begleiten. Ich sage ihm nachher gleich Bescheid. Jetzt muss ich aber zur Krippenspielprobe.«

Gideon Mandler! Wann und wo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört?

Violetta kehrte in ihr Zimmer zurück und feuerte den Holzofen an, um sich zu wärmen und eine Suppe zu kochen.

Die Kirchturmuhr schlug sechs. Da sie schon öfter im kleinen Gemeindesaal geübt hatte, wusste sie, dass der Organist meistens um diese Zeit in der Kirche spielte. Violetta löffelte hastig ihre Suppe und begab sich anschließend zur Kirche. Sie hatte sich einen zweiten Wollschal um den Hals gewickelt. In der Kirche singen. Wie sehr ihr das Theater fehlte, wurde ihr erst jetzt wieder bewusst.

Aus der hell erleuchteten Kirche drangen Orgelklänge. Wie immer, wenn sie sich ein einem Gotteshaus betrat, war sie von Ehrfurcht erfüllt. Sie hatte schon lange keins mehr besucht, obwohl sie die Akustik darin liebte. Als Jugendliche hatte sie mit dem elterlichen Chor in verschiedenen Kirchen Hannovers gesungen.

Als sie vom Vorraum ins Kirchenschiff trat, sah sie zwei riesige Tannenbäume rechts und links des Altars stehen. Ein warmes Gefühl durchströmte Violetta. Im Theater hatten sie im Foyer zur Weihnachtszeit auch immer einen Christbaum aufgestellt. Orgelklänge hallten durch die Kirche. Sie blieb stehen und blickte zur Empore hinauf. Der Organist spielte die Toccata und Fuge in d-moll von Bach. Die Musik und die geschmückte Kirche erinnerten sie an ihre Heimatstadt, an die gemütlichen Winterstunden mit der Familie. In diesem Augenblick wurde Violetta klar, dass alles der Vergangenheit angehörte und nur noch Teil ihrer Erinnerungen war. Sie war nie sehr gottesfürchtig und fromm gewesen. Dennoch setzte sie sich in eine der Kirchenbänke und betete für Hans, ihre Familie und das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug. Gebete gaben ihr Kraft, diese schwere Zeit zu überstehen. Violetta lauschte dem Orgelspiel. Erst als der Organist die Fuge beendet hatte, stieg sie die Treppe zur Empore hinauf.

»Guten Abend«, begrüßte sie den rotblonden Organisten.

»Guten Abend ... Miss Schwarz?«, fragte er freundlich. Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig. Sein Lächeln war nicht aufgesetzt oder herablassend, sondern angenehm sympathisch.

Violetta nickte.

»Ich bin Martin Piper.« Er hob die Hände. »Ich weiß, mein Name passt hervorragend zu meinem Beruf.« Er zwinkerte ihr zu.

»Ehrlich gesagt habe ich jetzt nicht daran gedacht.« Violetta lächelte ebenfalls.

»Dann bin ich ja beruhigt. Reverend Hull hat mir gesagt, dass Sie zu Weihnachten in der Kirche singen würden.«

Wenn er lächelte, sah sein hageres, streng geschnittenes Gesicht viel jünger aus.

»Ja, das stimmt.«

Eine Weile sprachen sie über das, was sie in der Christmette singen könnte. Die meisten von Martins Vorschlägen waren Choräle, die so gar nicht Violettas Wunsch entsprachen.

»Ich würde gern die Sopranarie aus dem Weihnachtsoratorium singen, Flößt mein Heiland«, schlug sie vor. Hans hatte die Arie geliebt, und ihre Mutter hatte sie zigmal bei Konzerten gesungen. Violetta schluckte gegen den Kloß der Traurigkeit in ihrer Kehle an.

Martin Piper wirkte erstaunt.

»Das ist aber ein sehr schweres Stück. Trauen Sie sich das wirklich zu?«

Scheinbar wusste er nicht, dass sie eine ausgebildete und bühnenerfahrene Sopranistin war. Violetta verkniff sich ein Schmunzeln.

»Ich denke schon. Können Sie es denn spielen?«

Martin schnappte empört nach Luft. »Na, hören Sie mal, ich habe schon in der Queen's Hall gespielt.«

»Auf der Orgel?«

»Nein, auf einem Flügel.«

Die Bach-Fuge, die sie eben von ihm gehört hatte, war sehr gut gespielt worden. Sie hoffte, jemanden gefunden zu haben, mit dem sie zusammen musizieren könnte. Das gab ihr ein gutes Gefühl.

»Wollen wir es nicht erst mit etwas Einfachem versuchen?«, fragte er und kramte in dem Notenregal neben der Orgel.

»Einverstanden«, antwortete Violetta.

Er suchte ein Notenbuch hervor und zog ein paar Register an der Orgel.

Wenig später schallten die ersten Orgelklänge durch das Gotteshaus.

Zum Glück kannte sie das Lied The first Noel, das er ausgesucht hatte. Sie mochte das schlichte Weihnachtslied, das durch sanfte Töne zu überzeugen wusste.

Sie öffnete den Mund, und ihre voluminöse, sanfte Stimme erfüllte die Kirche. Immer wenn sie sang, tauchte sie in eine andere Welt ein. Eine Eigenschaft, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Er verschmolz stets mit seiner Rolle und vergaß alles um sich herum. Von ihrer Mutter hingegen hatte sie die warme Stimmfarbe geerbt.

»Wow«, sagte Martin, nachdem der letzte Ton verklungen war. »Sie besitzen die schönste Stimme, die ich je gehört habe. Und technisch war das perfekt. Wo haben Sie so singen gelernt?«

»Von meinen Eltern.« Dann plauderte Violetta über das Theater und ihre musikbegeisterte Familie.

»Wir alle sind Musiker«, sagte sie stolz. Es tat gut, sich mit jemandem darüber unterhalten zu können.

Martin stand mit offenem Mund da.

»Sie müssen unbedingt an einer Bühne vorsingen.«

Seine Fürsorge ehrte sie, aber sie hatte bereits erfahren müssen, dass man in England nicht gut auf Künstler aus Deutschland zu sprechen war. Obwohl sie einen Schweizer Pass besaß, fühlte sie sich im Herzen als Deutsche.

»Glauben Sie mir, ich habe mich schon für mehrere Vorsingen beworben, bekam aber immer eine Absage. Sobald ich sage, woher ich komme, werden alle sehr reserviert.«

Martina Piper schüttelte den Kopf. »Eine Schande ist das! Bei Ihrem Talent! Haben Sie schon den Instrumentenbauer Mr Mandler kennengelernt? Er ist mit jemandem aus der Royal Philharmonic Society befreundet. Der könnte Ihnen vielleicht weiterhelfen.«

»Leider nein. Reverend Hull hat ihn erwähnt, als ich ihn um einen Klavierstimmer gebeten habe. Aber die Kirche hat vor Weihnachten kein Geld dafür. Und ich, offen gestanden, auch nicht.«

»Ich habe schon eine Ewigkeit nicht mehr auf diesem Klavier gespielt. Wenn Sie wollen, kann ich Mr Mandler bei nächster Gelegenheit fragen.«

Violetta schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, ich kann mir das nicht leisten.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass Mr Mandler bei Ihnen eine Ausnahme macht, wenn er Sie hört. Er ist sehr großherzig und mir noch einen Gefallen schuldig.«

Sie allein wäre sicher mit weniger Geld ausgekommen und hätte das Stimmen bezahlen können. Aber sie musste jetzt auch an ihr Kind denken.

»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Martin, aber ich will keine Umstände machen. Das Üben hat bisher auch mit dem verstimmten Klavier funktioniert.«

»Na, vielleicht klappt es ja doch. Es geschehen immer noch Zeichen und Wunder.«

Martins Worte verliehen ihr Zuversicht.

Zum Abschied verabredeten sie sich für ein weiteres gemeinsames Musizieren.

Der Name Mandler ging ihr nicht aus dem Sinn. Wo und in welchem Zusammenhang hatte sie diesen Namen schon einmal gehört? Eigentlich besaß sie immer ein gutes Gedächtnis. Hier jedoch ließ es sie im Stich.

Als sie ihre Zimmertür aufschloss, war sie durchgefroren. Schnell feuerte sie den Ofen an und wärmte ihre Finger darüber. Bei ihren Eltern war es in der Vorweihnachtszeit immer warm und gemütlich gewesen.

Du musst stark sein. Für dich und das Kind.