Violetta war froh, dass sie bei der Hitze drinnen saß.
Zufrieden polierte sie die Bratsche, die Gideon Mandler für einen jungen Violinisten gebaut hatte. Anschließend legte sie sie in den samtausgeschlagenen Geigenkasten und platzierte obenauf das Kärtchen mit dem Namen des Adressaten: Yehudi Menuhin. Der Violinist war nicht älter als sie und galt als Wunderkind. In der Zeitung hatte gestanden, dass er sich gerade auf einer Konzertreise in Südamerika befand. Er hatte bei Gideon den Bau eines zweiten Instruments in Auftrag gegeben, das nach Buenos Aires geschickt werden sollte. Ein wahres Glanzstück, wie sie fand. Sie bewunderte Gideons Arbeiten und seine Akribie, mit der er die Instrumente fertigte. Bislang hatte ein Streichinstrument für sie wie das andere geklungen. Doch seit sie Gideons gefertigte Violinen gehört hatte, wusste sie die feinen Nuancen der Klänge zu unterscheiden. Gideon verlieh jedem Ton seiner Instrumente Wärme. Das wussten auch seine Kunden zu schätzen.
Er konnte zu Recht stolz auf seine Arbeit sein. Die Tätigkeit für Gideon bereitete Violetta Spaß. Sie war zwar nicht anspruchsvoll, aber Violetta konnte sich den ganzen Tag über die Zeit einteilen, was ihr sehr entgegenkam. Ihre Nächte waren durch Constanze kurz und unruhig, dass Violetta am Tag oft eine bleierne Müdigkeit überfiel. In letzter Zeit hatte sie nicht mehr oft Singen geübt, weil sie todmüde ins Bett fiel. Die Geburt hatte ihrem Körper viel Kraft geraubt.
Zum Glück kümmerte sich Sally während ihrer Abwesenheit rührend um Constanze. Manchmal nahm Violetta ihre Tochter auch mit zur Arbeit, wenn Gideon keinen Besuch angekündigt hatte. Doch in der vergangenen Nacht war ihre Tochter so unruhig gewesen, dass Sally darauf bestanden hatte, sie zu Hause zu lassen.
Seitdem Constanze geboren worden war, wuchs in Violetta der Wunsch, wieder auf der Bühne zu stehen. Der Weihnachtsabend hatte ihr klargemacht, dass sie die Bühne schmerzlich vermisste. Sie ging zwar in der Mutterrolle auf, aber das Leben auf der Bühne war etwas, wo sie ihre tief verborgenen Sehnsüchte und Träume ausleben konnte. Etwas, das nur ihr gehörte. Jetzt verstand sie, was ihre Mutter dazu getrieben hatte, ihr Leben dem Theater zu widmen.
Violetta vermisste das Lampenfieber vor jeder Aufführung und den Beifall, wenn den Zuschauern ihr Vortrag gefallen hatte.
Oftmals schloss sie die Augen und erlebte noch einmal ihre Auftritte. Nur die Erinnerungen daran waren ihr geblieben.
Violettas Magen knurrte laut. In der morgendlichen Hektik hatte sie das Frühstück ganz vergessen. Das Läuten von Big Ben kündigte die Lunchtime an. Auf dem Tresen über den fertiggestellten Instrumenten lag der rotbackige Apfel, den sie in Sallys Garten gepflückt hatte. Obwohl Gideon sie großzügig bezahlte, reichte ihr Lohn kaum zum Leben für sie und Constanze. Wenn das Geld am Monatsende knapp wurde, musste sie auf der Straße singen. Manchmal musste sie auf die Straßenmusik verzichten, weil sie müde war und ihre Stimme heiser klang.
Nachdem sie den Instrumentenkasten verschlossen hatte, streifte sie die Handschuhe ab, die Kratzer auf dem Instrument verhinderten. Hungrig nahm sie ihren Apfel vom Teller, um ihn in dem winzigen, fensterlosen Hinterzimmer zu essen. Kaum war sie dort, ertönte das kleine Glöckchen über dem Eingang. Das musste Gideon sein. Er war heute Morgen losgefahren, um Kartons für die Auslieferung zu besorgen, und wollte bis zum Nachmittag zurück sein.
»Ich bin hier hinten!«, rief sie und schluckte hastig das Apfelstück hinunter.
Gideon kam nicht wie gewohnt, um mit ihr die Aufträge zu besprechen. Er hatte ihr avisiert, dass einer der Kunden sein Instrument lieber persönlich abholen wollte. Violetta wischte mit dem Handrücken über den Mund, bevor sie in den vorderen Raum trat.
Mitten in der Bewegung erstarrte sie, als sie Brian Wilcox gegenüberstand. Der dunkelblaue Maßanzug stand ihm gut. Schon in Hannover war ihr aufgefallen, dass er nie einen Hut trug. Das durch die Glastür einfallende Sonnenlicht verfing sich in seinem blonden Haar.
»Ah, Mr Wilcox. Gideon ist leider nicht da.«
»Ich weiß. Ich wollte zu Ihnen.«
»Zu mir?« Ihr Herz klopfte schneller.
»Ja. Ich bin hier, weil ich es schade finde, dass Sie Ihr Talent vernachlässigen.«
»Hat Gideon das gesagt?«
»Lassen Sie uns das doch beim Lunch besprechen. Ich habe nämlich einen Mordshunger.«
Sein Vorschlag klang eigentlich sehr verlockend. Dennoch zögerte sie zuzustimmen. Nur zu gut erinnerte sie sich an seine begehrlichen Blicke am Weihnachtstag. Sie wollte ihn nicht zu mehr ermutigen.
»In Conny's Café gibt es die besten Sandwiches weit und breit. Ich lade Sie natürlich ein.«
Bei der Vorstellung lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Violettas Magen knurrte laut zur Bestätigung. Brian Wilcox schien das zu amüsieren. Schließlich war ihr Hunger so übermächtig, dass sie Brian trotz ihrer Vorbehalte begleitete. Es kam selten vor, dass sie sich satt essen konnte. Lieber verzichtete sie für Constanze darauf.
Violetta musste an sich halten, dass sie ihr köstliches Thunfisch-Sandwich nicht gierig verschlang. Schließlich sollte Brian Wilcox nicht denken, dass sie keine Tischmanieren besaß. Er betrachtete sie amüsiert, während er von einem geplanten Konzert in der Queen's Hall sprach. Sein Sandwich lag noch immer unangerührt auf dem Teller.
Da war sie wieder, diese Spannung, die jedes Mal in der Luft lag, wenn sie sich begegneten.
»Ich dachte, Sie könnten vielleicht noch einmal die Arie der Carmen in meinem Konzert singen. Hier in London. Ich bin mir sicher, dass Sie das Publikum genauso begeistern werden wie die Gäste von Reverend Hull und ... mich.«
Bei seinem Vorschlag verschluckte sich Violetta und begann zu husten. Er reichte ihr sein Taschentuch, als ihr die Tränen liefen.
»Nun? Was halten Sie von meinem Vorschlag?« Die Gage, die er ihr bot, würde für eine längere Zeit weiterhelfen, und es bliebe sogar noch etwas zum Sparen übrig. Außerdem würde sie endlich wieder auf einer Bühne stehen.
»Danke, dass Sie mir noch einmal eine Chance geben. Ich werde gern auf Ihrem Konzert singen.«
Er griff über den Tisch nach ihrer Hand.
»Sie ahnen nicht, welche Freude Sie mir machen. Vielleicht öffnet Ihnen der Auftritt die Türen zu Londons Bühnen.«
Sanft strich sein Daumen über ihre Hand. Die einfache Berührung verlieh Hoffnung, dass das Leben mehr für sie bereithielt als nur Schicksalsschläge. Sie blickte ihm in die Augen, die in diesem Moment heller strahlten als zuvor.
Brian Wilcox war einfach ein guter Freund, der an sie glaubte und in schwerer Zeit half. Konnte das nicht sein?
Violetta ließ es geschehen, dass er noch immer ihre Hand hielt. Es vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Tief tauchte sie ein in die Wärme seines Blickes.
Hans' Berührungen schienen eine Ewigkeit her zu sein. All die Nächte ohne ihn, in denen sie sich einsamer gefühlt hatte denn je. Sie sehnte sich nach menschlicher Nähe, nach jemandem, der sie umarmte. Der sie liebte.
So begehrlich wie Brian Wilcox hatte Hans sie nie angesehen. Bei der Erinnerung an Hans zog sie ihren Arm zurück.
Brian Wilcox wirkte enttäuscht und nahm seine Hand vom Tisch.
»In gut zwei Wochen beginnen die ersten Proben. Es wäre schön, Fräulein Schwarz, wenn Sie dazukommen könnten.« Er notierte ihr auf einem Zettel die Adresse des Proberaums und schob ihn über den Tisch. Violetta steckte ihn ein.
Ein Auftritt! Sie hatte schon fast vergessen, wie sich das anfühlte.
»Haben Sie denn gar keinen Hunger?« Sie deutete auf seinen Teller. Er hatte keinen Bissen vom Sandwich gegessen.
»Sie können das Sandwich gern haben.« Er schob ihr seinen Teller hin.
»Danke. Ich glaube, ich muss jetzt wieder ins Lager zurück.« Violetta verdrängte ihren Appetit und stand auf. Brian Wilcox erhob sich.
»Ja, natürlich.«
Galant zog er ihren Stuhl zurück und reichte ihr den Arm, damit sie sich unterhaken konnte. Bei ihm fiel es ihr leicht, weil sie ihn mochte. Er roch angenehm. In seiner Gegenwart fühlte sie sich wohl. Vor dem Café verabschiedeten sie sich, denn Violetta wollte nicht, dass er sie zurückbegleitete.
»Danke für das Essen.« Sie vermied es, zu ihm aufzusehen.
»Gern. Wann immer ich Ihnen helfen kann, lassen Sie es mich wissen.«
Violetta nickte und sah hastig weg, bevor sie sich erneut in seinem Blick verlor.
Was hatte Brian Wilcox nur an sich, dass er es bei jeder Begegnung schaffte, sie zu verwirren?
Deutlich spürte sie seinen Blick im Rücken, als sie zur Tür des Lagerhauses ging, das am Ende der Straße lag. Sie war versucht, sich nach ihm umzudrehen, gab aber dem Gefühl nicht nach.
Als Violetta am Abend nach Hause zurückkehrte, begegnete sie im Hausflur Heather, die Sally besucht hatte. Sie trug ihre Schwesterntracht und schien es eilig zu haben. Die Haube saß schief auf dem Kopf.
»Hallo Heather.«
»Violetta.« Die Freundin sah sie prüfend an.
»Was ist denn? Habe ich vielleicht einen Punkt auf der Nase?«, scherzte Violetta.
»Das nicht, aber du siehst irgendwie verändert aus.«
Heathers Worte irritierten sie.
»Wie meinst du das?«, hakte sie nach.
»In deinen Augen liegt ein Leuchten.«
»Wirklich?« Violetta schluckte.
»Entweder du hast jemanden getroffen oder ein Engagement bekommen.«
Violetta spürte, wie die Hitze in ihre Wangen stieg.
Heather lächelte. »Oder hast du vielleicht eine Nachricht von Hans?«
Violetta schüttelte traurig den Kopf. Heather streichelte tröstend ihren Arm.
»Nein, ich werde bei einem Konzert singen.« Grob erzählte Violetta von Brian Wilcox' erneutem Angebot.
»Das sind ja wunderbare Nachrichten!« Heather umarmte sie. »Ich freue mich für dich. Diesen Mann solltest du dir warmhalten. Er scheint an dich zu glauben. Bitte nimm es mir nicht übel, aber meine Schicht beginnt gleich.«
Mit diesen Worten eilte Heather davon.
Constanze schlief friedlich neben Violetta und nuckelte am Daumen. Violetta hingegen konnte nicht einschlafen. Die Vorfreude, an Brian Wilcox' Konzert teilzunehmen, raubte ihr die Ruhe. Sie konnte es kaum erwarten, wieder vor einem größeren Publikum zu singen. Hatte Brian Wilcox ihr das Angebot vielleicht nur wegen ihrer Eltern gemacht? Sie wusste nicht, ob er noch Kontakt zu ihnen hatte. Sein Lob hatte aufrichtig geklungen. Genauso wie in der Kirche und im Pfarrhaus. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie endlich ein.
In der Nacht wachte sie vom Weinen Constanzes auf. Sie zog die Wiege zu sich heran, die ihr Sally überlassen hatte, und versuchte, ihre Tochter zu beruhigen. Vergeblich. Constanze weinte herzzerreißend. Violetta prüfte die Windeln, gab ihr das Fläschchen, konnte ihr aber nichts recht machen. Summend trug sie Constanze durchs Zimmer und wiegte sie in den Armen. Irgendwann schlief ihr Kind ein, und sie konnte es zurück in die Wiege legen. Doch gleich darauf ging das Geschrei von vorn los.
Violetta war müde und verzweifelt. Sie wusste nicht, was ihrem geliebten Kind fehlte. Ihre Mutter wüsste jetzt sicher Rat. In ihrer Not ging sie hinüber zu Sally und weckte sie.
»Mit Constanze stimmt etwas nicht. Ich weiß nicht mehr weiter«, sagte sie außer sich vor Sorge. Ihre Tochter war das Einzige, was ihr geblieben war.
»Ich komme«, antwortete Sally verschlafen und verließ das Bett.
»Sie glüht vor Fieber«, stellte Sally fest, als sie ihre Hand an Constanzes Stirn legte. »Du musst ihr Wadenwickel machen.«
Violetta nickte und lief in die Küche, um eine Schüssel Wasser und saubere Handtücher zu holen.
Alle halbe Stunde erneuerte sie bei Constanze die Wickel, die sich mit aller Kraft dagegen wehrte. Doch das Fieber wollte nicht sinken. Wieder musste sie Sally wecken, die ihr das aber zum Glück nicht übelnahm.
»Wir sollten einen Arzt holen«, schlug Sally besorgt vor.
Violetta erschrak. Wie sollte sie die Kosten für eine Behandlung tragen? Aber Constanze ging es schlecht. Sie brauchte dringend Hilfe.
»Warum bittest du nicht Gideon um einen Vorschuss?«, fragte Sally, die Violettas Zögern richtig deutete.
Sallys Vorschlag war gut gemeint, aber Violetta wollte es allein schaffen.
»Ich werde noch einmal auf der Straße singen.«
Sally sah sie zweifelnd an. »Wie ich neulich im Vorbeigehen erkennen konnte, ist dein Platz von einem anderen besetzt.«
Bisher hatten ihr alle immer einen Platz zugestanden. Violetta hoffte, dass es auch diesmal so sein würde.
»Ich muss, Sally, ich muss. Hier geht es um das Leben meiner geliebten Kleinen.«
»Ihr Baby hat eine Angina. Es braucht dringend Penicillin und viel Ruhe. Und vor allem keine Zugluft.«
Violetta fiel ein Stein vom Herzen. Dennoch bereitete ihr der Preis für die Medizin, den der Arzt ihr nannte, Sorge.
»So viel kann ich jetzt nicht auf einmal bezahlen.« Violetta war das peinlich.
»Haben Sie denn niemanden, der Ihnen etwas borgen könnte?« Der Arzt sah sie durch seine dicken Brillengläser an. Sie schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall wollte sie jemanden anbetteln.
»Tja, dann«, sagte der Arzt seufzend und war im Begriff, die braune Glasflasche mit der Medizin wieder in seine Tasche zu stecken.
»Bitte, Sie müssen meiner Tochter helfen!«, flehte Violetta und umklammerte den Arm des Arztes.
»Wenn Sie bezahlen.« Er blieb hart.
»Ich kann Ihnen heute Geld geben und morgen den Rest«, versprach sie. Hinter der gerunzelten Stirn des Arztes schien es zu arbeiten.
»Also gut«, gab er nach. Violetta fiel ein Stein vom Herzen. Sie holte ihre Börse und gab dem Arzt ihr letztes Geld. Er steckte es ein und flößte Constanze ein in Wasser gelöstes Pulver ein.
»Danke.«
»Mit zwei Gaben ist es sicher nicht getan. Und ich kann nichts versprechen. Der Zustand ihrer Tochter ist kritisch. Ich werde übermorgen wiederkommen, es sei denn, es geht der Kleinen schlechter. Das Penicillin ist rar. Geben Sie ihr viel zu trinken.«
»Ich kümmere mich darum. Sie bekommen von mir das restliche Geld. Versprochen.«
Er nickte, bevor er sich von ihr verabschiedete und das Zimmer verließ.
Constanze lag friedlich in der Wiege und schlummerte. Ihr Gesichtchen war hochrot. Violetta beugte sich über sie und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann begab auch sie sich zur Ruhe. Morgen lag ein anstrengender Tag vor ihr. Sie musste für Gideon ein Dutzend reparierte Streichinstrumente zu den Besitzern bringen und am Nachmittag auf der Straße singen.