Die Queen Victoria Hall bebte unter dem donnernden Applaus. Das Publikum erhob sich von seinen Plätzen und forderte eine Zugabe. Brian schaute zu Violetta, die sich mit hochroten Wangen verbeugte und den Zuschauern Kusshände zuwarf. Von Anfang an hatte er gewusst, dass sie mit der Arie der Carmen die Herzen der Londoner erobern würde. Bei den Proben war sie gut gewesen, aber heute hatte sie sich selbst übertroffen.
Sie trat rückwärts an seinen Flügel heran und drehte den Kopf zu ihm.
»Soll ich wirklich noch eine Zugabe singen?«, raunte sie ihm zu.
»Unbedingt. Sie werden dich sonst nicht gehen lassen.« Stolz blickte er sie an. Sie lächelte unsicher. Er mochte es, dass sie trotz ihres herausragenden Talents immer bescheiden blieb.
»Was soll ich denn singen?«
»Das Agnus Dei aus Frederiks Requiem?«
Brian liebte diese Arie, die ihm für Violettas Stimme wie geschaffen erschien.
»Wirklich? Niemand wird das Stück hier kennen.« Er las die Zweifel in ihrem Blick.
Dennoch nickte er.
Brian war klar, dass es ein Wagnis war, etwas aus dem Werk eines deutschen Komponisten vorzutragen. Andererseits wurde Frederik von Uhlenbergs Requiem noch immer gern bei Trauerfeiern von Mitgliedern des englischen Königshauses gespielt. Sie hatten die Arie einmal zusammen geprobt. Ihre eigenwillige Interpretation hatte das Gesangsstück zu etwas Besonderem werden lassen. Sie wäre das i-Tüpfelchen am heutigen Konzertabend.
Er nickte seinem Orchester zu und spielte den aufgelösten Anfangsakkord des Agnus Dei, damit die Musiker wussten, welches Stück die Zugabe sein sollte.
Auf sein Handzeichen setzten die Streicher ein, dann Brian am Flügel. Die melancholisch getragenen Töne erfüllten die Halle. Aus dem Augenwinkel sah Brian, wie Violetta auf der Bühne nach vorn ging und tief Luft holte. Das Publikum verstummte in Erwartung ihres Gesangs.
Es war die Schlichtheit, mit der sie die Arie vortrug, die ihn wieder aufs Neue verzauberte. Sie faltete die Hände und sang das Agnus Dei. Dabei blickte sie zur Decke hinauf, als würde sie in einer Kirche beten. Ihr ebenfalls einfach geschnittenes Kleid und das offene Haar unterstrichen das Bild. Noch nie hatte er die Arie so brillant gehört wie aus ihrem Mund. Sie sang die Worte aus tiefstem Herzen und voller Sehnsucht. Ihm entging nicht der feuchte Schimmer in ihren Augen. Sie denkt an Hans Brünn und ihre Familie! Brian wurde schwer ums Herz. Er wünschte, er könnte ihr helfen, damit endlich das Leuchten in ihre Augen zurückkehrte.
Zog sie sich deshalb manchmal zurück? Wenn das Orchester nach den Proben noch in eine der Künstlerkneipen ging, um den Abend ausklingen zu lassen, lehnte sie stets ab. Mal musste sie etwas erledigen, dann wieder auf Sallys Kinder aufpassen. Brian befürchtete, sie könnte sich von ihm bedrängt fühlen. Wie gern hätte er ihr seine Liebe gestanden. Doch das würde sicher ein unerfüllter Wunsch bleiben.
Auch heute nach dem Konzert würde das Orchester sich wieder auf ein Glas Wein treffen. Er würde Violetta bitten, ihn zu begleiten.
Violetta hielt den Ton am Ende der Arie länger, als es auf dem Notenblatt stand, sodass er in der Queen Victoria Hall nachhallte. Danach war es ganz still. Für einen flüchtigen Moment begann Brian an seiner Entscheidung der Zugabe zu zweifeln, bis der tosende Beifall und die Zuschauerrufe ihn aufatmen ließen. Violetta stand noch immer mit gefalteten Händen da.
Der Applaus hörte nicht auf.
»Bravo!«
Er sah zu Violetta, die blass und erschöpft aussah. Wie immer hatte sie alles gegeben. Eine weitere Zugabe wäre zu viel für sie. Entschlossen trat Brian nach vorn und hob die Hände, bis das Klatschen verebbte.
»Liebes Publikum, herzlichen Dank. Leider endet unser Konzert heute mit dieser einen Zugabe. Wir wünschen Ihnen einen guten Heimweg und eine gute Nacht.«
Ein enttäuschtes Raunen ging durch die Zuschauerreihen. Dann erhoben sich viele von den Plätzen.
Brian reichte Violetta die Hand.
Nachdem sie sich mehrmals vor den Zuschauern verbeugt hatten, führte er sie in die Garderobe. Ihre eiskalte Hand ruhte in seiner.
»Du warst fantastisch«, lobte er sie. »Die Zuschauer wollten gar nicht mehr mit dem Klatschen aufhören. Was für ein Erfolg. Besonders durch dich. Dafür möchte ich dir danken.« Das Publikum hatte an ihren Lippen gehangen. Sie hatte es wieder geschafft, die Menschen mit ihrer Stimme zu verzaubern. Er war sich sicher, dass sie weitere Angebote für Auftritte bekommen würde. Auch wenn er sich noch so sehr wünschte, dass sie alle weiteren Konzerte mit ihm und seinem Orchester bestritt, musste er sie ziehen lassen. Er durfte ihrer Karriere nicht im Weg stehen und sie an sich binden.
»Ich habe doch wohl eher dir zu danken, Brian, dass du mir diese Chance geboten hast.« Spontan umarmte sie ihn. Im Überschwang der Gefühle wie einen guten, alten Freund. Nicht mehr und nicht weniger. Doch genau das wollte er nicht für sie sein. Er räusperte sich verlegen, bevor er sie sanft zurückschob.
»Schon gut. Meine Musiker und ich wollen jetzt auf ein Glas Wein gegenüber in die Künstlerkneipe, unseren Erfolg feiern. Ganz London wird morgen über uns sprechen. Ich würde mich sehr freuen, wenn du mitkommst.«
Violetta schüttelte den Kopf.
»Bitte sei mir nicht böse, aber ich bin hundemüde und möchte lieber nach Hause.« Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe.
Immer wenn er das vorgeschlagen hatte, war sie auf Distanz gegangen. Vielleicht mochte sie keine Kneipen.
»Magst du vielleicht stattdessen mit mir einen Spaziergang an der Themse machen? Die Luft ist klar ...« Das wäre die Gelegenheit, sich ein Herz zu fassen und ihr endlich seine Gefühle zu gestehen.
Erneut schüttelte sie den Kopf. »Das klingt verlockend, aber ich brauche Ruhe. Und ich möchte noch einen Brief an meine Eltern schreiben.« Ihr Blick richtete sich in die Ferne.
Nichts schien sie umstimmen zu können. Brian spürte, wie sehr sie ihr altes Leben vermisste.
»Verstehe«, sagte er traurig. Brian wandte sich ab und wollte die Garderobe verlassen, als sie ihn am Arm zurückhielt.
»Brian, habe ich etwa Falsches gesagt?«
Ihre Augen versprühten ein Feuer wie Saphire, dass er nicht wegsehen konnte.
»Nein, nein, alles in Ordnung.« Nichts war in Ordnung. Er sehnte sich nach ihrer Gesellschaft.
Tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen«, sagte sie traurig und eilte aus der Garderobe. Brians Blick fiel auf ihre lederne Handtasche, die sie vergessen hatte. Die Notentasche hingegen hatte sie mitgenommen. Er nahm ihre Handtasche an sich und lief ihr nach.
»Violetta!«, rief er durch den Korridor auf dem Weg zum Ausgang. Doch sie hatte längst den Künstlertrakt verlassen.