8. September 1939

Die Schreckensnachrichten verbreiteten sich rasant im ganzen Land. Nach dem Überfall Polens durch die Wehrmacht hatten England und Frankreich Deutschland den Krieg erklärt. Seitdem herrschte überall gedrückte Stimmung. Mutig waren viele der Briten bereit, ihr Land mit allen Mitteln zu verteidigen.

»Sollen die doch kommen, wir werden sie zurückschlagen.« Sally hatte noch am Frühstückstisch kämpferisch die Hände zu Fäusten geballt.

Auf der ganzen Insel gab es in allen Orten eine Heimwehr für die Verteidigung.

Violetta kam vor Sorge um ihre Familie fast um. Wenn Mahler tatsächlich für das Scheitern von Hans' Flucht verantwortlich war, würde er vor nichts zurückschrecken. Ihre Eltern hielten sich nicht unbedingt an Gesetze und Regeln, ihr Vater nahm nie ein Blatt vor den Mund und brachte sich und ihre Mutter durch eine unbedachte Äußerung womöglich in Gefahr. Keiner ihrer Briefe schien angekommen zu sein. Die Ungewissheit darüber, wie es den Eltern und ihrer Schwester ging, belastete Violetta stark. Deshalb wollte sie an ihre Eltern telegrafieren, auch wenn die Gebühr dafür hoch war. Von Heather wusste sie, dass die meisten Seehäfen von den Deutschen vermint worden waren, um die britische Insel von der Versorgung abzuschneiden. Ein Überqueren des Ärmelkanals war für Reisende unmöglich geworden. Allein die Marine kreuzte vor der britischen Küste.

Es war für Violetta unerträglich, nicht in die Heimat zu können, um den Eltern in den schweren Stunden beizustehen. Stattdessen war sie dazu verdammt, in England zu bleiben.

Sie war froh, dass die Arbeit im Instrumentenlager und Constanze sie ablenkten. Jeden Abend vor dem Einschlafen schloss sie alle in ihre Gebete ein.

In ihrer Tasche lag ein Zettel mit wenigen Zeilen. Eine Nachricht an ihre Eltern, die sie später beim Telegrafenamt aufgeben wollte.

Kurz nach dem Mittag kam Gideon ins Lager und brachte eine neu gefertigte Violine, die Violetta säubern und verpacken sollte.

Sie wagte nicht, ihn nach Brian zu fragen.

»Die Geige ist für Wilhelm Steiner. Da musste ich mir besonders viel Mühe geben«, erklärte Gideon ihr augenzwinkernd.

Violetta nickte nur.

»Es ist wirklich schade, dass Brian die Konzerte absagen musste.« Gideon schüttelte bedauernd den Kopf.

»Ja, ist es.« Violetta warf ihm nur einen kurzen Seitenblick zu, um nicht doch noch in Versuchung zu geraten, nach Brian zu fragen.

»Brian wollte übrigens nach London kommen, um sich mit seinem Orchester zu treffen.«

Violettas Herz schlug schneller. Sie unterdrückte ein Lächeln und wagte nicht, den Instrumentenbauer anzusehen, der sie sicher schnell durchschaut hätte.

Tief in ihrem Herzen hoffte sie, Brian wiederzusehen. Sie vermisste das Gefühl von Geborgenheit, das sie stets in seiner Nähe empfunden hatte.

Ihr wurde bewusst, dass sie etwas für Brian empfand, das über freundschaftliche Gefühle hinausging.

»Ich wollte es Ihnen schon lange sagen, dass ich mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden bin. Sie arbeiten sehr eifrig und gewissenhaft, Fräulein Violetta«, unterbrach Gideon ihre Gedanken.

»Danke.« Sein Lob war Balsam. »Ich arbeite auch sehr gern für Sie, Mr Mandler.«

»Bitte nennen Sie mich Gideon.«

»Gern. Gideon.«

»Ich gebe Ihnen den Rest des Nachmittags frei.«

»Aber da sind doch noch zwei Cellos, die gesäubert werden müssen«, erwiderte sie und wollte ins Lager gehen, in dem die Instrumente verpackt waren. Gideon hielt sie zurück.

»Das hat bis morgen Zeit. Bestimmt haben Sie noch etwas zu erledigen.«

»Ja, woher wissen Sie das? Ich will noch schnell zum Telegrafenamt. Ich habe schon so lange nichts von meinen Eltern gehört. Wenn sie meine Briefe nicht erhalten haben, dann, dachte ich mir, klappt es vielleicht mit einem Telegramm.«

»Jetzt, da der Krieg begonnen hat, ist alles schwieriger geworden. Einen Kunden in Wien, der auf seine Geige wartet, habe ich auch auf ungewisse Zeit vertröstet. Hoffentlich hören Sie bald etwas von Ihren Eltern.«

Violetta verabschiedete sich von Gideon Mandler und eilte zur Tür.

Als sie das Lagerhaus verließ, dämmerte es bereits. Sie schenkte dem eleganten dunklen Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite nur wenig Beachtung. Ein etwas kleineres Automobil besaß auch ihr Vater. Er war so vernarrt in die Automobiltechnik! Ob ihre Eltern es inzwischen hatten verkaufen müssen?

Violetta fror und wollte ihre Handschuhe anziehen. Einer jedoch fiel auf den Boden. Sie bückte sich danach, und als sie sich wiederaufrichtete, erkannte sie, dass eine Fensterscheibe bei dem Wagen ein Stück weit heruntergekurbelt und ein Augenpaar sichtbar war. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie beobachtet wurde. Zu dumm, dass sie das Gesicht hinter dem Steuer nicht erkennen konnte. Einen flüchtigen Moment lang vermutete sie, es könnte Brian sein. Doch das widersprach seiner offenen Art. Außerdem trug der Beobachter einen Hut. Ein kalter Schauer lief ihren Rücken hinunter, als sie an die unheimlichen Begegnungen mit Mahler dachte. Aber der war gewiss nicht hier, sondern genoss die Gunst des Führers. Sie war hier eine Unbekannte, bei der es keinen Grund gab, sie zu beobachten. Bestimmt bildete sie es sich nur ein. Rasch wandte sie sich um und eilte die Straße entlang, an deren Ende sich das Londoner Telegrafenamt befand. Hinter sich hörte sie den Motor starten. Sicher nur Zufall, dass der Wagen in dieselbe Richtung fuhr.

Ihre Absätze klackerten auf dem Pflaster. Allmählich wurde es unheimlich, denn der Wagen folgte ihr im Schritttempo. Warum überholte er sie nicht? Violettas Schritte wurden schneller. Als sie einen Blick über die Schulter zurückwarf, um mehr zu erkennen, wurde sie vom Scheinwerferlicht geblendet.

Nach drei Viertel der Strecke hielt der Wagen am Straßenrand. Erleichtert atmete Violetta auf. Sicher war das nur purer Zufall gewesen, und ihre überspannten Nerven hatten ihr einen Streich gespielt.

Kurz vor dem Telegrafenamt blieb sie stehen und wandte sich um. Der Wagen parkte jetzt nur wenige Schritte entfernt. Auf keinen Fall durfte sie sich einschüchtern lassen. Allen Mut zusammennehmend, ging sie ein paar Schritte auf den Wagen zu.

»Was wollen Sie von mir?«, rief sie, erhielt jedoch keine Antwort. Die Scheiben blieben zu. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. War es möglich, dass die Gestapo sie sogar in London ausfindig gemacht hatte?

Angst schnürte ihr die Kehle zu. Violetta rannte zum Eingang des Telegrafenamtes. Sie war froh, durch die Schwingtür zu treten. Als sie sich nach dem Wagen umdrehte, war er verschwunden.

Im Telegrafenamt schlug ihr lautes Stimmengewirr entgegen.

Vor einem Dutzend Schalter herrschte Gedränge. Ihr Herz pochte noch immer vor Furcht. Wer verfolgte sie und weshalb?

Sie reihte sich in eine der Schlangen vor den Schaltern ein. Die Schlange war endlos. Voller Ungeduld wartete Violetta, bis sie an der Reihe war. Hinter den Schaltern befanden sich über ein Dutzend Plätze mit ratternden Telegrafen, die von Männern wie von Frauen bedient wurden. Die Telegrafen spuckten endlos lange Papierstreifen aus, die die Bediener der Maschinen abrissen. Allmählich beruhigten sich ihre Sinne durch das gleichmäßige Rattern der Maschinen.

»Ich möchte gern ein Telegramm nach Deutschland aufgeben«, sagte sie zu dem griesgrämigen Mann mit Stoppelbart hinter dem Schalter, als sie an die Reihe kam.

»Name«, forderte er unfreundlich und nahm sich ein vorgedrucktes Papier vom Stapel neben ihm.

Violetta, die alles vorbereitet hatte, schob ihm ihre Notiz mit dem Namen und den zu telegrafierenden Zeilen über den Tresen.

Seine Augenbrauen ruckten hoch, als er las.

»Schwarz? Sind Sie das?«, fragte er.

Violetta nickte. »Violetta Schwarz.«

»Moment bitte.« Vor ihm auf dem Tresen befand sich eine Reihe von Fächern. Er zog ein Papier heraus und las.

»Violetta Schwarz?«

»Ja, das bin ich.« Sie war ganz aufgeregt.

»Erspart uns einen Weg. Ist gerade eben angekommen. Aus Deutschland.«

Er reichte ihr ein Telegramm. Es war von ihrem Vater.

Mit zitternden Händen faltete Violetta das Papier auseinander.

+ Haben deine Briefe erhalten + Krieg hat begonnen + Der Gauleiter hat unser Theater besetzen lassen + Keine Aufführungen, deine Mutter verhaftet + Haben Nachricht von Hans' Tod bekommen, er ist in einem Lager gestorben + Florentina geht es gut + Dein dich liebender Vati +

Violetta las die Nachricht mehrmals und konnte es nicht fassen.

»Soll ich das Telegramm nun abschicken oder nicht?«, fragte der Mann hinter dem Schalter ungehalten.

Nur langsam sickerte die Frage in ihr Bewusstsein. Sie sah auf und blickte auf ihre Notiz, die sie ihm kurz zuvor gegeben hatte und die nun sinnlos war.

Violetta schüttelte den Kopf. »Nein, hat sich erledigt.« Sie streckte die Hand danach aus. Der Mann hinter dem Schalter gab ihr den Zettel wieder zurück.

»Treten Sie beiseite. Der Nächste bitte!«

Wie betäubt folgte Violetta der Aufforderung. Die Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Hier drinnen war es stickig, sie bekam keine Luft und stolperte zum Ausgang. Hans war tot, ihre Mutter verhaftet und das Theater in den Händen der Nazis? Und ihre Mutter musste das jetzt ganz allein durchstehen! Genau das hatte sie befürchtet.

Ihre Finger schlossen sich um das Telegramm. Tränenblind stürzte sie aus dem Gebäude. All ihre Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft hatten sich zerschlagen. Tausend Fragen stürzten auf sie ein. Würde sie Hans wirklich nie mehr wiedersehen und Constanze ihren Vater nie kennenlernen? Ihre eigene Mutter verhaftet. Sie konnte es noch immer nicht fassen. Was musste ihre Mutter nur erdulden? Als wäre das nicht genug, wurde das Theater von den Nazis geführt! Wie konnte Gott so etwas zulassen?

Schluchzend lief Violetta die Straße entlang, ohne darauf zu achten, welche Richtung sie einschlug. Als sie um eine Hausecke bog, prallte sie mit jemandem zusammen und schlug weinend die Hände vors Gesicht. Dann begann sich in ihrem Kopf alles zu drehen, und das Bild vor ihren Augen verschwamm. Ihre Knie knickten ein, bevor ihr Geist sich in die Dunkelheit verabschiedete.