Sie war vor wenigen Minuten gegangen. Brian erfuhr von Gideon, dass Violetta noch zum Telegrafenamt gehen wollte. Wenn er sich beeilte, könnte er sie vielleicht noch einholen. Seit ihrer letzten Begegnung war er zu seinem Bedauern nicht mehr in London gewesen. Die neue Aufgabenverteilung auf Wilcox Manor hatten ihn in Anspruch genommen. Essenzielle Entscheidungen waren zu treffen gewesen. In seiner Verantwortung als neuer Gutsherr lagen auch in Kriegszeiten vorbereitende Verteidigungsmaßnahmen. Premierminister Chamberlain hatte alle Großgrundbesitzer gebeten, Maßnahmen gegen eine mögliche deutsche Invasion zu treffen. Die Planungen waren strapaziös und zeitintensiv gewesen, sodass Brian keine Zeit geblieben war, sich um andere Dinge wie sein Orchester zu kümmern. Ganz zu schweigen von seinem Privatleben, das zurückstehen musste. Es verging kein Tag, an dem er nicht an Violetta gedacht hätte. Seine Sehnsucht nach ihr war so groß, dass er alles stehen und liegen gelassen hatte, um sie wiederzusehen. Die Vorfreude darauf beflügelte seine Schritte.
Bevor er hinter der nächsten Hausecke nach rechts in die Straße zum Telegrafenamt abbog, hörte er eilige Schritte, begleitet von ersticktem Schluchzen. Im Augenblick der Ablenkung prallte er unvermutet mit jemandem zusammen.
Brian fluchte, die Frau schrie kurz auf, bevor sie heulend gegen seine Brust sank. Violetta!
Sie klammerte sich weinend an ihn. Was mochte vorgefallen sein, dass sie so verstört war? Plötzlich knickten ihre Beine ein, und ihre Arme baumelten schlaff herab. Bevor sie zu Boden stürzte, hob er sie auf die Arme. Sie wog weniger als Rowenas halbwüchsiger Neffe Shane.
Ihr Kopf sank an seine Schulter. Sie öffnete die Augen und sah zu ihm auf.
»Brian«, flüsterte sie. Kaum dass sie seinen Namen ausgesprochen hatte, sanken ihre Lider wieder herab. Ihrem Gesicht war die Erschöpfung anzusehen.
»Alles wird gut, Violetta«, flüsterte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie regte sich.
»Sally ... Benson ... ich muss ... Hammersmith ...«, murmelte sie, bevor sie erneut ohnmächtig wurde.
Er sichtete ein Taxi, das die Straße heraufgefahren kam, und rief laut: »Taxi!« Brian befürchtete schon, nicht gehört worden zu sein. Doch das Taxi hielt tatsächlich neben ihm an.
»Wohin?«, fragte der Taxifahrer.
»Nach Hammersmith. Er nannte die Straße. Die Pension von Sally Benson.«
»Gut.«
Brian setzte Violetta vorsichtig auf den Rücksitz, bevor er das Taxi umrundete und neben ihr einstieg. Sie murmelte etwas, das er nicht verstand.
Dann sackte sie nach vorn. Liebevoll drückte er sie zurück und strich ihr offenes Haar nach hinten. Ihre Hände ruhten auf dem Schoß. Zwischen ihren geöffneten Fingern bemerkte er den zusammengeknüllten Zettel. Als er ihn nehmen wollte, schloss sie die Hand.
Das Taxi hielt vor einer langen Häuserzeile mit winzigen Vorgärten. Rasch bezahlte Brian den Taxifahrer und hob Violetta aus dem Wagen.
Das Laub von den beiden Linden im Vorgarten den Pension lag verstreut auf dem Gehweg. Es roch nach verwelkten Blumen und feuchter Erde, als er Violetta zur Haustür trug. Er setzte sie auf der schmalen Bank neben der Tür ab und klopfte. Der Zettel, den sie in der Hand gehalten hatte, lag zu ihren Füßen. Im Licht des Hauseingangs erkannte er, dass es sich dabei um ein zerknülltes Telegramm handelte. Als er es aufhob, las er den Namen Hans. Um nicht in Versuchung zu geraten, das Telegramm zu lesen, steckte er es schnell in ihre Manteltasche. Schritte erklangen hinter der Tür. Im selben Augenblick schlug Violetta die Augen auf.
Eine mollige Frau mit rundem Gesicht und angenehmen Zügen öffnete die Tür. Das musste die Pensionswirtin sein.
»Guten Abend. Alle Zimmer sind belegt, Sir«, sagte sie zu ihm und wollte die Tür wieder schließen.
»Deshalb bin ich nicht hier, sondern ihretwegen ...« Er deutete auf Violetta, die aus verquollenen Augen zu ihm aufsah.
»Oh mein Gott, Violetta! Was ist geschehen?«, rief sein Gegenüber erschrocken.
Violetta winkte schwach ab. »Später«, sagte sie leise.
»Und wer sind Sie?«
»Ich bin Brian Wilcox. Lord Wilcox«, verbesserte er sich. Es war noch immer ungewohnt, seinen Titel zu nennen.
»Sally Benson. Es ist recht kühl draußen. Kommen Sie herein.«
Ehe Violetta protestieren konnte, hob Brian sie auf und trug sie ins Haus. Sally führte sie in eine winzige, aber warme Küche, in der drei Jungen am Tisch saßen und Pancakes aßen.
»Lass mich bitte runter«, bat Violetta.
»Soll ich dich nicht besser in dein Zimmer bringen?«
Plötzlich versteifte sie sich auf seinen Armen.
»Nein, nein, hier in der Küche ist es in Ordnung. Und warm, nicht wahr, Sally?«
Er bemerkte den seltsamen Blickaustausch zwischen den beiden Frauen, der ihn misstrauisch stimmte. Vermutlich hatte die Pensionswirtin es nicht so gern, dass ein Mann Violetta aufs Zimmer brachte.
»Ja, klar«, antwortete Sally und half Violetta aus dem Mantel.
»Gut.« Brian stellte Violetta vorsichtig auf den Boden. Als sie schwankte, führte er sie zu einem der Stühle am Tisch.
Die Jungen waren mit dem Essen fertig und glotzten ihn neugierig an.
»Kommt, Jungs, wir gehen nach hinten. Wir müssen noch die Wolle für Grandma aufwickeln.« Die drei Jungen maulten, folgten aber ihrer Mutter aus der Küche.
Brian zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu Violetta. Beim Anblick ihres schmalen, blassen Gesichts war er sehr besorgt. Sanft strich er ihr über die kalte, feuchte Wange. Sie hielt seine Hand fest und schmiegte ihr Gesicht hinein. Brian bedrängte sie nicht mit Fragen, sondern wartete, bis sie sich ihm von allein öffnete.
»Dich hat der Himmel geschickt«, flüsterte sie.
»Eher der Wunsch, dich zu sehen.« Er lächelte sie an. Aber ihr Lächeln für ihn war verkrampft und erlosch gleich wieder. Und als sie von dem Telegramm ihrer Mutter berichtete, wusste er auch, warum. Erschüttert hörte er ihr zu. Immer wieder brach sie zwischendurch in Tränen aus. Leonora Schwarz verhaftet und Hans Brünn tot. Brian konnte es nicht fassen. Zwei hochbegabte Musiker, die das weiß Gott nicht verdient hatten. Diese verfluchten Nazis! Auch die Vorstellung, das ehrwürdige Theater könnte verloren sein und zu Propagandazwecken genutzt werden, ließ Wut in ihm aufsteigen. Warum musste Leonora Schwarz so etwas Schlimmes durchmachen?
»Ich kann nicht glauben, dass Hans tot ist!«, rief Violetta verzweifelt. »Wir hatten ... nie ... eine Zukunft ...« Sie schluchzte und schlug die Hände vors Gesicht. Brian spürte ihren Schmerz und dass er sie nicht mit Worten trösten konnte. Schweigend zog er sie an sich.
»Meine Mutter ... hat doch niemandem ...«, stammelte sie an seiner Brust und brach ab, als ihre Stimme versagte.
»Mein Vater braucht mich jetzt mehr denn je. Und ich kann nicht zu ihm.«
Brian konnte verstehen, wie hilflos sie sich in dieser Lage fühlte. Ihm erging es ähnlich. Liebend gern hätte er Violettas Eltern geholfen, nur wusste er nicht wie.
»Was soll ich nur tun?«, wiederholte sie immer wieder.
Er hielt sie in seinen Armen, während sie ihrem Kummer freien Lauf ließ. Sie weinte und schimpfte auf die Nazis, dann wieder schluchzte sie und schrie abwechselnd vor Verzweiflung.
Lange saß Brian an ihrer Seite, bis die Tränen versiegt und sie ruhiger geworden war. Er reichte ihr sein Taschentuch, in das sie hineinschnäuzte, bevor sie erschöpft wieder gegen ihn sank.
»Danke, dass du bei mir geblieben bist, Brian.«
»Das ist doch selbstverständlich.« Er würde alles für sie tun, um sie wieder glücklich zu sehen.
Er hatte Hans Brünn nie für den geeigneten Mann für Violetta gehalten. Doch so hätte es nicht mit ihm enden dürfen. Eng umschlungen saßen sie da.
»Kann ich etwas für dich tun?«
»Halt mich einfach. Ohne dich wäre das alles nicht zu ertragen.«
Er dankte dem Schicksal, sie gefunden zu haben.
»Und es scheint noch nicht vorbei zu sein«, sagte sie nach einer Weile. »Ich muss ... ich habe ...«
»Was meinst du?« Brian befürchtete, Violetta könnte versuchen, auf irgendeinem Weg nach Deutschland zu gelangen, um ihrer Mutter beizustehen.
»Jemand verfolgt mich«, sagte sie.
Brian sah sie erstaunt an.
»Wie kommst du darauf?«
Da erzählte sie ihm von dem Wagen, der ihr nachgefahren war. »Was ist, wenn Mahler dahintersteckt? Die Gestapo hat doch sicher auch Verbindungen ins Ausland. Er will unsere Familie vernichten. Oh Gott, Florentina! Dann schwebt auch sie in Gefahr.«
»Beruhige dich, Violetta. Das halte ich eher für unwahrscheinlich. Bestimmt war das mit dem Wagen nur Zufall«, versuchte er sie zu beruhigen. Es hatte keinen Sinn, ihre Angst noch zu schüren. Dennoch musste er zugeben, dass das Verhalten des Fahrers schon merkwürdig gewesen war.
»Du glaubst mir nicht«, sagte sie enttäuscht.
»Doch, ich glaube dir. Kannst du den Wagen beschreiben?«
»Dunkel, sehr gepflegt. Ich kenne mich nicht damit aus.«
»Hast du vielleicht das Emblem gesehen?«
»Ich weiß nicht genau ... aber ... es sah aus wie Flügel.«
Ein Bentley. Den fuhren viele begüterte Engländer. Selbst Onkel Edgar und sein Vater besaßen einen.
Violetta war bleich wie ein Gespenst und zitterte noch immer.
Er räusperte sich. »Violetta, ich will dir nicht zu nahe treten. Aber ich möchte, dass du mich nach Wilcox Manor begleitest. Wir wären zusammen, und ich könnte dich beschützen.« Sein Vorschlag schien bei ihr auf wenig Gegenliebe zu stoßen, denn ihr Blick erstarrte.
»Brian, ich schätze dein Angebot sehr, aber ...«
»Aber?«
»Wir kommen aus verschiedenen Welten.«
»Doch die Musik verbindet uns. Bitte, Violetta, auf Wilcox Manor kannst du üben, wie du willst. Ich kenne auch einen guten Korrepetitor.«
Sie legte ihre Hand auf seine. »Bitte versteh doch, es geht nicht.«
»Nenn mir einen wirklichen Grund, weshalb du nicht mitkommen kannst.«
»Den habe ich dir doch schon genannt. In einem Herrenhaus gibt es eine Etikette. Ich bin ein einfaches Künstlerleben gewöhnt. Das Theater, die Musik bestimmt den Tagesablauf. Da gibt es keine feste Dinnerzeit. Außerdem hast du selbst erzählt, dass deine Eltern Musik nicht schätzen. Ich gehöre nicht dorthin.«
Sie wich seinem Blick aus. Brian glaubte, dass sie ihm etwas verschwieg. Waren ihre Gefühle für ihn doch nicht so tief, wie er angenommen hatte?
»Jetzt bin ich der Herr von Wilcox Manor. Meine Eltern wollten, dass ich zurückkehre, sie kennen meine Bedingungen. Violetta, bitte. Dir würde es an nichts fehlen. Du könntest dir aussuchen, wo du singen willst.«
Sie schloss die Augen und seufzte. »Brian, bitte dränge mich nicht. Mein Entschluss steht fest. Ich bleibe hier in Sallys Pension.«
Wie gern hätte er sie in seiner Nähe gewusst und seinen Eltern die Frau vorgestellt, die er bitten würde, seine Frau zu werden.
»Verstehe. Ich will ehrlich sein. Ich hatte gedacht, dass du und ich, also dass wir vielleicht eine Zukunft hätten. Jetzt habe ich begriffen, dass dein Verlobter immer zwischen uns stehen wird.«
Er wollte aufstehen, aber sie hielt ihn zurück.
»Das stimmt nicht, Brian. Ja, ich habe Hans geliebt. Doch ich will auch ehrlich sein. Ich habe mich in dich verliebt.« Zärtlich streichelte sie sein Gesicht. »Aber wir würden nicht glücklich werden. Ich bin für das Landleben nicht geschaffen. Ich brauche die Bühne wie die Luft zum Atmen, den Trubel im Theater, das Lampenfieber und das Stadtleben. England ist nicht meine Heimat. Ich möchte irgendwann wieder nach Hause zurückkehren und die Familientradition weiterführen. So wie es deine Pflicht war, Wilcox Manor zu übernehmen.«
Er wollte nicht auf Violetta verzichten. Dennoch begriff er, dass er sie nicht umstimmen könnte.
»Wir werden uns eine längere Zeit nicht sehen«, sagte er mit belegter Stimme.
Eine Träne quoll aus ihrem Auge. »Ich weiß.«
»Verwehre mir nicht, mich weiter um dich zu kümmern. Du sollst wissen, dass ich immer für dich da sein werde.«
Da nahm sie sein Gesicht in die Hände und legte ihre Stirn kurz gegen seine. Er spürte, wie sie sich zurückhielt. »Danke. Ich bin erschöpft und muss mich ausruhen«, sagte sie.
»Natürlich. Lass mich wissen, wenn du etwas brauchst. Ich bin heute bei Gideon. Morgen komme ich wieder und sehe nach dir.« Er stand auf und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Violetta nickte schwach.
Im Flur traf Brian auf Sally, der er erklärte, dass Violetta sein Angebot abgelehnt hatte, ihn nach Wilcox Manor zu begleiten.
»Bitte lassen Sie mich wissen, wenn Violetta etwas braucht. Sie erreichen mich unter dieser Adresse.« Er nahm eine Karte seines Freundes aus der Jackentasche und reichte sie ihr.
»Das werde ich machen«, versprach sie. »Bitte lassen Sie ihr Zeit. Sie ist noch nicht so weit.«
Nachdenklich verließ Brian Sallys Pension. Sallys Worte gingen ihm durch den Kopf. Vielleicht würde Violetta sich doch noch anders entscheiden.