Es hatte den ganzen Tag geregnet, und noch immer trommelten die Tropfen unaufhörlich gegen die Fensterscheibe des Gemeindesaals. Das passte zu Violettas trüber Stimmung. Ihre Zukunft war genauso dunkel wie der Himmel. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Letzte Nacht hatte sie wie so oft davon geträumt, im Theater am Park auf der Bühne zu stehen. Es war ein berauschendes Gefühl gewesen, und sie hatte sich gewünscht, dass dieser Traum nie enden würde, bis ihre Tochter sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie vermisste das Theater.
Ihre Hoffnung auf ein Opernengagement oder an einem Konzert mitzuwirken, hatte sich zerschlagen. Die Opern- und Konzerthäuser Londons hatten mit Beginn des Krieges ihre Pforten geschlossen. Seit dem Vorfall auf dem Brunnenplatz hatte sie auch nicht mehr auf Londons Straßen gesungen.
Der Winter stand bevor. Noch lebte Violetta von ihrer Gage von Brians Konzert. Sally hatte ihr zwei Monatsmieten gestundet. Das half ihr zwar weiter, bald jedoch wäre das Geld aufgebraucht. Dann bliebe ihr nur noch der Lohn von Gideon Mandler. Aber auch dort waren die Aufträge für Instrumentenbau weniger geworden. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Gideon sie entlassen würde. Dann bliebe ihr nichts anderes, als zu betteln.
Violetta unterbrach ihre Übungen und sah zum Fenster des Gemeindesaals hinaus. Ob es in Deutschland auch regnete? Erneut stieg die Traurigkeit in ihr auf. Ihre Träume von einem glücklichen Leben hatte sie begraben. Auch mit Brian war ihr kein Glück vergönnt. Glück währte immer nur einen Moment lang, in einem Lächeln ihrer Tochter oder wenn Brian ihre Hand hielt. Brian schrieb liebevolle Briefe, schickte ihr Pakete mit Lebensmitteln vom Gut. Auch ihn vermisste sie sehr. Jetzt, da sie sich nur selten sahen, war ihr klar geworden, dass sie ihn liebte.
»Ich glaube, dieser Mann liebt dich wirklich. Ich versteh dich nicht, Violetta. Warum hast du seine Einladung ausgeschlagen?«, hatte Sally zu ihr gesagt und ein Paket von ihm überreicht.
»Das weißt du doch genau.«
»Du hättest ihm längst von Constanze erzählen sollen.«
»Ich konnte einfach nicht.« Immer hatte sie der Mut verlassen, weil sie befürchtete, er könnte sich von ihr abwenden.
Alles, was ihr blieb, war die Musik, in der sie Trost und Zuflucht fand. Wenn sie spielte und sang, sah sie sich auf der Bühne des elterlichen Theaters stehen. Die gefeierte Opernsängerin Violetta Schwarz. Sie hörte den brandenden Applaus, die Rufe der Zuschauer nach einer Zugabe und vergaß ihren Kummer eine Weile.
Violetta suchte so oft wie möglich den Gemeindesaal auf, um zu musizieren.
Seit Tagen übte sie die Tenorarien aus Lehárs Operette Land des Lächelns. Dann fühlte sie sich ihrem Vater nah. Er hatte die Arien mit so viel Gefühl wie kein anderer vorgetragen, und das Publikum hatte ihm zu Füßen gelegen.
Die beiden Stücke waren zwar nicht für ihre Stimmlage komponiert worden, aber sie sprachen ihr aus der Seele.
»Immer nur lächeln und immer vergnügt, immer zufrieden, wie's immer sich fügt. Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen. Doch wie's da drin aussieht, geht niemand etwas an.«
Violetta machte alles mit sich selbst aus. Sie war keine, die klagte. Manchmal hatte sie bereut, Brians Angebot nicht angenommen zu haben. Doch mit jedem Tag, der verstrich, wusste sie, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Eine Sängerin mit einem unehelichen Kind auf einem englischen Adelssitz würde womöglich einen Skandal heraufbeschwören.
»Violetta?«
Martin Piper stand atemlos in der Tür.
»Ja?«
»Wollen wir noch die Arien aus den Kantaten üben?«
»Klar, ich komme.« Froh über diese Abwechslung klappte sie den Klavierdeckel zu, griff nach ihrem Mantel und folgte ihm nach draußen. Der Frohsinn Martins hatte es immer geschafft, ihre trüben Gedanken zu vertreiben. Heute konnte sie das besonders gebrauchen.
Gerade als sie ihren Schirm aus dem Ständer nahm, bemerkte sie einen eleganten Wagen, der vor der Kirche parkte. Sofort dachte sie an den Wagen von neulich, der sie bis zum Telegrafenamt verfolgt hatte. Als sie aus dem Gemeindesaal trat und durch den leichten Regen zur Kirche rannte, fuhr der Wagen davon.
Es bereitete Violetta Freude, mit Martin zu musizieren.
»Ihre Stimme ist wunderbar. Sie könnten an allen großen Opernhäusern dieser Welt auftreten und eine gefeierte Operndiva werden.«
»Danke«, antwortete sie lächelnd. »Ich weiß nicht, ob ich das will. Ständig herumreisen und aus dem Koffer leben. Es würde mir reichen, wenn ich wieder auf der Bühne unseres Theaters stehen könnte.«
»Das können Sie bestimmt bald. Der Krieg wird nicht lange dauern. Schließlich kämpfen die Deutschen nicht nur gegen uns, sondern auch gegen Frankreich.«
Martins Zuversicht tröstete sie. Vielleicht wäre der Krieg wirklich schnell vorbei, dann könnte sie endlich nach Hause.
Kaum erklangen die ersten Orgeltöne aus der Bach-Kantate, hallten Schritte durch die Kirche. Martin hörte auf zu spielen und beugte sich über die Balustrade der Empore nach unten.
»Eine ältere Frau. Kenne ich nicht«, raunte er Violetta zu.
Violetta zuckte mit den Achseln. »Lass uns bitte weitermachen. Ich muss noch mit Constanze eine kleine Runde spazieren gehen. Dann schläft sie besser«, bat sie Martin. Der Organist wusste von Constanze. Auch ihm gegenüber hatte sie die fortgeschrittene Schwangerschaft nicht verheimlichen können. Aber er hatte sie im Hinblick darauf, dass sie verlobt gewesen war, nicht verurteilt. Die Kirche war an vielen Abenden geöffnet. Es kam nicht selten vor, dass sich jemand ins Gotteshaus begab, um zu beten oder einfach nur, um der Musik zuzuhören.
Nach der Arie verabschiedete sich Violetta von Martin und stieg von der Empore hinab.
Unten in einer der hinteren Reihen saß eine Frau in eleganter schwarzer Kleidung. Graue Locken lugten unter dem ihrem Hut hervor. Sie musterte Violetta. Im Vorbeigehen nickte Violetta ihr zu, bevor sie die Kirche verließ.
Es hatte zu regnen aufgehört, sodass Violetta den Schirm zusammenklappte.
Draußen vor dem Zaun parkte der dunkle Bentley. Sie hätte schwören können, dass es derselbe war, der sie neulich zum Telegrafenamt verfolgt hatte. Violetta fragte sich, ob die Frau vielleicht dazugehörte. Auf der anderen Straßenseite rauchte ein älterer Herr eine Zigarre und glotzte zu ihr herüber. Seine Statur, die der Mahlers ähnelte, ließ erneut die Erinnerungen aufsteigen. Bis zu Sallys Pension waren es nur wenige Schritte. Violetta rannte zum Eingang. Vor der Tür schaute sie noch einmal zurück. Der Wagen war nicht mehr zu sehen. Erleichtert betrat sie das Haus.
»Du willst doch nicht noch einmal mit der Kleinen hinaus?«, fragte Sally besorgt. Violetta hatte ihr von dem dunklen Wagen erzählt, der sie verfolgt hatte.
»Keine Sorge. Der Wagen ist nicht mehr zu sehen. Der Arzt hat mir geraten, jeden Tag mit Constanze an die frische Luft zu gehen.«
Violetta umarmte Sally, bevor sie ihre Tochter behutsam in den Kinderwagen bettete, den die Freundin ihr geborgt hatte. Violetta atmete auf, als kein Wagen auf der Straße zu sehen war. Das Licht in der Kirche war erloschen, und Martins Fahrrad lehnte nicht mehr an der Linde neben dem Pfarrhaus. Vor ihrem eigenen Haus stand der blonde Student Ian aus Oxfordshire am Zaun, der ebenfalls in Sallys Pension wohnte. Ein sympathischer junger Mann, der oft für Sally Besorgungen machte, wenn sie keine Zeit hatte. Sie mochte seine lässige Art. Sie grüßte und kam kurz mit ihm ins Plaudern.
Als Constanze im Wagen unruhig wurde, verabschiedete sie sich von ihm.
Die sonst belebte Straße lag still und einsam vor ihr. Das Lindenlaub zu ihren Füßen raschelte bei jedem Schritt. Sie begegnete einem Nachbarn, der noch einmal mit seinem Hund eine Runde drehte. Constanze lag friedlich im Wagen und schaute zum sternenklaren Himmel hinauf. Alles wirkte so friedlich, dass der Gedanke an einen Krieg unwirklich erschien. Während des Spaziergangs sang Violetta ihrer Tochter leise Kinderlieder vor. So hatte es auch immer ihre Mutter getan. Rasch verdrängte sie die aufsteigende Traurigkeit, die sie jedes Mal befiel, wenn sie an ihr Zuhause dachte.
Schon bald war Constanze eingeschlafen. Sie sah so süß und unschuldig aus, dass es Violetta ganz warm ums Herz wurde. Sie drehte mit dem Kinderwagen um und lief zur Pension zurück, als sie hinter sich plötzlich Motorengeräusch vernahm. Sie blickte sich um und sah zu ihrem Unmut wieder den dunklen Bentley. Instinktiv lief sie schneller. Doch der Wagen überholte sie und hielt vor der Eingangstür zur Pension an. Aus der hinteren Tür stieg die ältere Dame aus, die vorhin in der Kirche gesessen hatte. Erwartungsvoll trat Violetta ihr entgegen.
»Miss Schwarz?«, fragte die fremde Dame.
Woher kannte sie ihren Namen?
»Ja?«
»Ich muss mit Ihnen reden!«
»Woher wissen Sie meinen Namen? Sie haben mich die ganze Zeit verfolgt. Was wollen Sie von mir?«
»Ich bin Lady Margret Wilcox, Brians Mutter.«
Jetzt bemerkte Violetta die Ähnlichkeit zwischen beiden. Nur umgab Lady Wilcox eine Aura aristokratischer Arroganz, die Brian fehlte.
Violetta ahnte, dass das folgende Gespräch unangenehm werden würde.
»Wollen Sie vielleicht mit hineinkommen ...?«, fragte sie aus reiner Höflichkeit.
»Danke, nein. Das, was ich Ihnen zu sagen habe, wird nicht lange dauern.« Ihr kühler Tonfall verstärkte in Violetta das ungute Gefühl.
»Das ist Ihr Kind?« Lady Wilcox zeigte auf die schlummernde Constanze.
»Ja.«
Die dünngezupften Augenbrauen von Brians Mutter zogen sich nach oben.
»Sie haben wirklich eine sehr schöne Stimme.« Aus ihrem Mund klang das fast wie Kritik.
»Haben Sie mich deshalb verfolgt, um mir das zu sagen, Mylady?«
Sie spitzte mokant ihre Lippen.
»Nein. Sie sind davongelaufen.«
Violetta lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, die sie jedoch hinunterschluckte. Jetzt war sie sich sicher, was Wilcox Manor betraf, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Dort wäre sie nie glücklich geworden.
»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Sie werden sicher bemerkt haben, dass mein Sohn ein gewisses Interesse an Ihnen hat.«
So bezeichnet sie Liebe.
Violetta schluckte und erwiderte den frostigen Blick von Brians Mutter. Was hatte er seinen Eltern über sie erzählt?
»Mein Sohn hat zwar ebenso wie Sie musikalische Neigungen, aber ist der Herr von Wilcox Manor. Von ihm wird eine ... standesgemäße Heirat erwartet. Sie verstehen, was ich meine?«
Violettas Befürchtungen wurden zur Gewissheit. Dennoch trafen sie die Worte wie ein Schlag ins Gesicht. Weil sie Brian liebte. Du hast von Anfang an gewusst, dass ihr keine Zukunft habt.
Brian war kein Mann, der sich etwas vorschreiben ließ. Sicher würde er gegen den Willen der Mutter rebellieren.
Sicher? Die Stimme des Zweifels wurde lauter in ihr.
»Sieht Ihr Sohn das auch so, Mylady?«
»Er ist sich seiner Verantwortung für Wilcox Manor und seiner Familie gegenüber bewusst. Mein Mann und ich wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie meinen Sohn nicht mehr wiedersehen würden.«
»Wie stellen Sie sich das vor? Brian lässt sich nichts vorschreiben!«
»Ich zahle Ihnen einen Betrag von fünftausend Pfund. Genug für Sie und Ihr Kind, um sich anderswo ein neues Leben aufzubauen.«
Dass Brians Mutter ihr Geld bot, machte sie fassungslos. Fünftausend Pfund! Constanze und sie hätten keine finanziellen Probleme mehr. Dennoch hätte sie das Gefühl, ihre Gefühle zu verraten.
»Weiß Brian, dass Sie hier sind?«
Die Miene der Lady versteinerte.
»Nein. Und das wird auch so bleiben. Sie führen sicherlich ein lockeres Leben. Mit Ihrem Aussehen und Können finden Sie bestimmt einen Mann in Ihren Kreisen.«
Brians Mutter besaß nicht nur die Unverschämtheit, ihr Geld zu bieten, wenn sie ihren Sohn nicht mehr wiedersehen würde, sondern machte Andeutungen zu ihrem Lebenswandel. Wut wallte in Violetta auf.
»Ich will Ihr Geld nicht, Mylady. Mein Beruf ist genauso ehrenhaft wie jeder andere auch. Ich verbitte mir Ihre Unterstellungen, ich wäre leichtlebig. Meine Familie gehört einem jahrhundertealten Landadel an und zu den angesehensten Familien in ganz Hannover. Jetzt kann ich Brian verstehen. Ihnen geht es nur um die Reputation der Familie und nicht darum, ob Ihr Sohn glücklich wird. Und jetzt gehen Sie!«
Mit diesen Worten wandte Violetta sich um. Tränen brannten in ihren Augen. Die Enttäuschung fraß sich wie Säure durch ihre Adern. Noch nie war sie so gedemütigt worden wie eben. Hocherhobenen Hauptes schritt Violetta mit dem Kinderwagen zur Eingangstür. Erst im Haus ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Sally kam aus der Küche.
»Was ist denn geschehen?«
Weinend erzählte Violetta der Freundin von ihrer Begegnung mit Brians Mutter.
»Arrogant und dreist! Als wenn Künstlerinnen sich reihenweise den Männern hingeben!«, schimpfte Sally. »Du hast dich richtig entschieden. Auf Wilcox Manor hätten alle nur auf dich herabgesehen und dich spüren lassen, wie unerwünscht du bist.«
Violetta nickte. Ein Leben an der Seite von Brian war ihr vom Schicksal nicht vergönnt.