Während die englischen Kampfflieger über dem Ärmelkanal gegen die Deutschen in einer nicht enden wollenden Luftschlacht die Heimat verteidigten, wurde Brians Vater in aller Stille am Morgen im ländlichen Kent zu Grabe getragen.
Obwohl er es nie gewollt hatte, war Brian nun der Herr von Wilcox Manor. Tod und Gefahr waren allen zu treuen Begleitern geworden.
»Mein Beileid, Mylord.« Travers schüttelte ihm die Hand.
»Danke.«
Brian sah seine Mutter an, als der Verwalter ihr kondolierte. Der Tod seines Vaters hatte sie um Jahre altern lassen. Mit den eingefallenen Wangen und ihrem schlohweißen Haar war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Tagelang hatte sie sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen, in ihrem Schmerz vergraben und niemanden an sich herangelassen. Es war gut, dass sie entschieden hatte, nach der Beerdigung eine Weile zu ihrer Freundin Edith zu ziehen. Währenddessen würde Brian allein in dem Herrenhaus mit den zwanzig Zimmern wohnen, in dem er sich schon mit seinen Eltern verloren vorkam. Dabei hätte sein Leben anders verlaufen sollen. Brian musste jeden Tag an Violetta denken und träumte nachts von ihr. Nie hatte er eine Frau so geliebt wie sie. Er konnte sie einfach nicht vergessen. Manchmal bildete er sich sogar ein, ihre Stimme, ihr Lachen zu hören. Dann schüttelte er immer wieder über sich selbst den Kopf.
Die Reihe der Kondolierenden erschien Brian endlos. Er fühlte sich erschöpft und sehnte sich danach, sich zurückziehen zu können.
Auch Gideon hatte sich in die Schlange eingereiht.
»Gideon, danke, dass du gekommen bist und meinem Vater die letzte Ehre erweist.«
»Ist doch selbstverständlich. Du bist lange nicht in London gewesen. Wie geht es dir?«
Gideon war der Erste, der sich nach seinem Befinden erkundigte. Violettas wegen war Brian nicht mehr in die Hauptstadt gefahren. Und doch hatte es Tage gegeben, an denen er der Versuchung fast erlegen gewesen wäre. Wenn nur nicht diese verfluchte Sehnsucht nach ihr bestünde!
Brian zog seinen Freund ein Stück beiseite. »Verantwortung ist eine Bürde, vor allem in Kriegszeiten.«
Gideon nickte.
»Ich habe gehört, die Deutschen haben den Hafen bombardiert. Wie schlimm ist es?«
»Nicht nur der Hafen wurde stark getroffen, auch einige Wohnviertel. Sie bombardieren jede Nacht. Churchill nennt es den Blitz. Häuser wurden zerstört, und viele Menschen sind ums Leben gekommen. Es ist grauenvoll. Deshalb wollte ich dich fragen, ob du vielleicht meine Instrumente hier lagern könntest.«
»Ja, natürlich.«
»Danke, mein Freund. Letzte Nacht haben sie wieder ein Wohnviertel bombardiert.« Gideon senkte den Blick. Es war ihm anzumerken, wie betroffen er war. Sofort musste Brian an Violetta denken.
»Violetta?«, fragte er und spürte, wie sich sein Hals vor Sorge zuschnürte.
Der Freund seufzte. »Sallys Pension wurde völlig zerstört.«
Diese Nachricht traf Brian mit voller Wucht. Ihm war übel.
»Und?«, fragte er heiser.
»Es hat viele Tote gegeben. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen. Was nichts heißen muss, alle sind in London in Angst und Schrecken versetzt, viele haben die Stadt verlassen.«
Violetta hatte niemanden auf dem Land. Sie und ihr Kind waren den Blitzbombardements hilflos ausgeliefert.
Sein Herz schlug schwer in der Brust. Er mochte sich nicht vorstellen, dass Violettas Lippen für immer schweigen würden.
»Sie kann doch nicht einfach sterben.« Es fiel Brian schwer, darüber zu sprechen.
»Ich ... ich weiß es nicht. Einige haben es nicht mehr rechtzeitig geschafft, sich in Sicherheit zu bringen. Ich habe überall nach ihr gefragt, aber niemand wusste etwas. Es tut mir leid, Brian.«
Nach dem Streit war sein Leben freudlos geworden, mit Violettas Tod wäre es sinnlos.
»Großer Gott!«
»Du liebst sie noch immer, nicht wahr?«, fragte Gideon. Brian sah in die Ferne. Seine Gedanken weilten wieder bei Violetta, die er vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Der Gedanke daran war unerträglich.
»Am Anfang habe ich geglaubt, ich könnte sie vergessen. Aber ich liebe sie noch immer. Ich habe ständig ihre Arien auf dem Flügel gespielt, ihre Stimme gehört ... Verrückt, nicht wahr?«
»Nein, nicht wenn man so liebt wie du. Nicht nur du hast unter eurer Trennung gelitten.«
Zweifelnd sah Brian den Freund an.
»Nein, das glaube ich nicht. Sie hat Hans Brünn geliebt. Und ein Kind von ihm!«
»Brian, Hans Brünn ist tot!«
»Aber sein Kind wird sie stets an den Verlust ihrer Liebe erinnern! Und sie glaubt, dass ich sie wegen des Kindes verurteile. Sie wollte sich meine Erklärungen nicht anhören«, erwiderte er aufgebracht.
Die anderen Trauergäste sahen strafend zu ihnen herüber, dass Gideon und er ein Stück weitergingen.
»Mag sein. Wenn du ihr alles erklärst, wird sie es einsehen. Sie ist eine starke Frau und kann sich einer neuen Liebe öffnen. Liebe heißt, den anderen so anzunehmen, wie er ist, mit allen Stärken und auch mit seinen Schwächen. Kannst du ihr Kind akzeptieren? Oder ohne Violetta leben?«
»Ich kann nicht ohne sie leben. Das Kind ist ein Teil von ihr. Ich werde es genauso lieben.«
»Dann fahr in Gottes Namen nach London und finde heraus, was mit ihr geschehen ist und ob ihr eine Zukunft habt. Wenn du diese Chance nicht ergreifst, wirst du dir das nie verzeihen.«
Gideons Worte stimmten Brian nachdenklich. Sein Freund hatte recht, er musste wissen, ob sie noch lebte und ob sie seine Gefühle eines Tages würde erwidern können. Selbst eine Freundschaft würde er hinnehmen, wenn er nur in ihrer Nähe sein könnte.
Gegen Mittag nach der Trauerfeier fuhr er mit Howard Gideon nach London.
Viele Straßen in der Hauptstadt waren wegen Trümmern und Schutt nicht befahrbar. Brian befürchtete auch für diese Nacht einen weiteren Blitzangriff der Deutschen. Wenn Violetta und ihr Kind noch am Leben waren, schwebten sie weiter in Gefahr. Er musste sie finden.
Die Straße, in der Sallys Pension lag, war nicht befahrbar, sodass Gideon und er zu Fuß gehen mussten. Eine Herausforderung, zwischen all den zerstörten Häusern über die Berge aus Steinen und Staub zu steigen. Die innere Unruhe trieb Brian voran.
Fassungslos starrte er auf den riesigen Trümmerberg vor sich, der einst Sallys Pension gewesen war. Auch die beiden Nachbarhäuser rechts und links waren dem Erdboden gleich.
Wenn Violetta sich während des Bombardements im Haus aufgehalten hatte, war sie unter den Trümmern begraben worden. Seine Furcht um sie stieg mit jeder Minute.
Zahlreiche Männer und Frauen räumten die Trümmer fort. Brian trat auf einen von ihnen zu, einen stämmigen Kerl in staubiger Kleidung und Schiebermütze, der eine mit Schutt beladene Schubkarre zu einem Lastwagen fuhr.
»Entschuldigung, stammen Sie von hier?«
Der Mann blieb stehen, ohne die Schubkarre abzusetzen.
»Bin in dieser Straße geboren und aufgewachsen. Wieso?«
»Kannten Sie die Pension von Sally Benson?«
Der Stämmige nahm die Schiebermütze ab und kratzte sich an der Stirn. Er schien zu überlegen.
»Sally Benson ... Ist das die Witwe mit den drei Jungs?«
Brian wusste, dass Sally drei Söhne besaß, und dass sie Witwe war, hatte Violetta einmal während der Proben erwähnt.
»Ja. Ich muss wissen, ob sie das Bombardement überlebt haben.«
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Weiß ich nicht. Hab die kaum gesehen.«
»Und ihre Pensionsgäste? Vielleicht die Sängerin mit den schwarzen Haaren?«, hakte Brian nach.
»Kenn ich nicht. Die Gäste gehen mich erst recht nichts an. Ich weiß nur, dass nicht alle rechtzeitig aus den Häusern raus sind. Gestern haben wir wieder vier Leichen unter den Trümmern gefunden.« Er zeigte auf das Haus rechts von Sallys Pension.
»Eine Frau war auch dabei?«
»Weiß ich nicht mehr.« Der Stämmige wurde ungehalten. »Ich muss weitermachen, Sir.«
Brian war enttäuscht.
Gideon fasste ihn am Arm. »Ich glaube, so kommst du nicht weit. Lass uns woanders nachfragen. Polizei, Krankenhaus, Behörde oder beim Roten Kreuz.«
»Gute Idee«, stimmte er dem Freund zu.
Ihre Nachfragen bei der Polizei, bei der Stadt und auch beim British Red Cross blieben ergebnislos. Enttäuscht verließen sie ihr letztes Ziel, die Zentrale des Roten Kreuzes.
»Irgendjemand muss uns doch etwas sagen können!« Verzweifelt schlug Brian mit der Faust durch die Luft. Die Ungewissheit brachte ihn um. Auf der Vortreppe des Gebäudes begegneten sie einer Frau, die über ihrer Schwesterntracht einen Mantel trug und auf den ersten Blick nur an der Kopfhaube als solche zu erkennen war. Sie blieb am Fuße der Treppe stehen.
»Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«, fragte sie freundlich. Sie wirkte offen und sympathisch, ganz anders als die Frau im Innern des Gebäudes.
Brian war immer noch so enttäuscht, dass er ihr nicht antwortete.
»Wir suchen jemanden. Eine Frau und ihr Kind«, sagte Gideon an seiner Stelle.
»Wissen Sie, wie viele zurzeit vermisste Frauen und ihre Kinder suchen? Eine Menge. Haben Sie denn drinnen schon nachgefragt?«
Sie zeigte auf die Eingangstür.
»Dort konnte uns niemand helfen«, bekannte Brian.
Die Frau wirkte taff und hilfsbereit.
»Es sind noch nicht alle Namen der Geborgenen bekannt, und die Vermisstenliste wird täglich erneuert. Vielleicht morgen.«
»Morgen? So lange kann ich nicht warten!«, rief Brian verzweifelt. »Bitte, Schwester ...« Ihr Namensschild war unter dem Mantel verborgen.
»Schwester Miller«, stellte sie sich vor. »Wissen Sie, ich arbeite erst seit wenigen Tagen als Freiwillige für das Rote Kreuz. Daher weiß ich nicht, ob ich Ihnen in diesem Fall überhaupt helfen kann.«
»Trotzdem danke.« Gideon signalisierte ihm, dass es Zeit zu gehen war. Die Schwester stieg die Stufen hinauf. Brian wollte keine Möglichkeit ungenutzt lassen. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass die Schwester helfen konnte.
»Bitte warten Sie«, hielt er sie zurück. »Die Frau, die ich suche, heißt Violetta. Violetta Schwarz.«
Erstaunt blickte ihn die blonde Krankenschwester an.
»Sind Sie ein Verwandter, Sir?« Ihre Frage weckte in ihm Hoffnung, dass die Schwester mehr wissen könnte.
»Kennen Sie sie vielleicht? Ich muss wissen, ob sie das Bombardement überlebt hat. Bitte, wenn Sie etwas wissen, sagen Sie es mir. Mein Name ist Brian Wilcox.«
»Lord Wilcox?«
»Ja.« Brian wunderte sich, dass sie ihn scheinbar kannte. Er hingegen war sich sicher, dass sie sich noch nie begegnet waren.
»Ich muss wissen, ob es ihr gut geht. Und dem Kind.«
Sie zögerte mit der Antwort und schien zu grübeln.
»Bitte.« Flehend sah er die Schwester an.
»Kommen Sie in genau einer Stunde in die St. Peters Church. Dann kann ich Ihnen mehr sagen.«
Danach wandte sie sich um, eilte die restlichen Stufen zum Eingang hinauf und verschwand im Gebäude.
»Willst du hingehen?«, fragte Gideon.
Brian nickte.
Pünktlich mit dem fünften Schlag der Kirchturmuhr wartete Brian vor der erleuchteten Kirche, während sein Chauffeur Gideon zu dessen Werkstatt brachte. Die Minuten verstrichen, aber die Krankenschwester kam nicht. Enttäuscht wollte Brian wieder gehen, als er drinnen die Orgel spielen hörte. Da Howard erst in einer Stunde zurückkehren würde, beschloss er, im Gotteshaus auf die Schwester zu warten. Die Kirche war leer.
Kaum hatte er auf einer der Kirchenbänke Platz genommen und lauschte dem Orgelspiel, holten ihn die Erinnerungen an den Weihnachtsabend 1938 wieder ein. Wie froh er damals gewesen war, Violetta wiedergefunden zu haben. Es war einer der glücklichsten Abende seines Lebens gewesen. Später im Haus des Reverends war ihm klar geworden, dass er sie zur Frau begehrte.
Das Orgelspiel war verklungen, und die Krankenschwester immer noch nicht aufgetaucht. Er schaute nach draußen. Doch sie war nicht da. Wieder hatte sich seine Hoffnung zerschlagen. In dem Augenblick, als Brian das Kirchengelände verlassen wollte, erklangen die ersten Töne aus Frederik von Uhlenbergs Requiem. Das lockte ihn zurück ins Gotteshaus. Der Organist leitete mit einer kurzen Passage zur Sopranarie ein. Brian war gespannt auf die Sängerin. Niemand hatte diese Arie so berührend vorgetragen wie Violetta.
Der erste Ton war rein und warm, dass ihm ein Schauer den Rücken hinunterlief. Violetta! Sie lebte! Er konnte es kaum fassen und schickte im Geist ein Dankgebet an den Himmel. Vom ersten Augenblick an hatte er sich in ihre Stimme verliebt. Auch jetzt berührte sie ihn tief. Andächtig lauschte er ihrem Gesang. Ihre Stimme war über die Jahre reifer geworden und strahlte eine Kraft aus, die ihn aufs Neue fesselte. Als der letzte Ton verklungen war, sprang er auf und hastete die Treppe zur Empore hinauf.
Da stand sie neben der Orgel, noch schöner als er sie in Erinnerung hatte, und unterhielt sich mit dem Organisten. Das Haar reichte ihr jetzt bis zur Taille und schimmerte bläulich. Brians Herz klopfte zum Zerspringen. Jetzt, da sie vor ihm stand, wusste er, dass er ihr endlich seine Gefühle gestehen musste, auch wenn sie sie nicht erwiderte.
»Violetta!«
Er liebte sie mit jeder Faser seines Herzens.
Sie drehte sich um und starrte ihn mit großen Augen an, als wäre er eine Fata Morgana. »Brian?«
Der Organist schaute sie beide abwechselnd an, bevor er sich lächelnd von der Orgelbank erhob.
»Ich muss noch mal kurz zum Reverend.« Mit diesen Worten verließ er die Empore.
»Ich bin so froh, dass du lebst.«
»Was machst du hier?« Violettas Lippen zitterten.
»Ich musste mich vergewissern, dass dir nichts geschehen ist. Als ich von der Bombardierung gehört habe, bin ich fast wahnsinnig geworden vor Angst.«
»Wie du siehst, geht es mir gut.« Ihr kühler Tonfall raubte ihm fast den Mut weiterzusprechen.
»Dem Himmel sei Dank. Ich habe vor dem Trümmerhaufen gestanden, der einmal Sallys Pension gewesen ist. Ich hätte es nicht ertragen, wenn dir etwas geschehen wäre. Und deinem Kind.«
Sie schwieg. Ihre Haltung war abweisend.
Mit zwei Schritten war er bei ihr.
»Was interessiert dich mein Kind?«
»Es interessiert mich, weil es zu dir gehört.«
In ihren blauen Augen schimmerte es feucht.
»Aber ...«
»Es macht mir nichts aus, dass du ein Kind hast. Im Gegenteil bewundere ich deinen Mut, es allein großzuziehen.«
Ihre Lippen zitterten, während sie scheinbar nach Worten suchte.
»Bist du nur hergekommen, um mir das zu sagen?«
»Du hast mir damals keine Chance gegeben, dir das zu erklären.«
»Es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Du bist ein Lord und ich in den Augen aller eine leichtlebige Frau und Sängerin. Die Leute würden reden.«
»Es ist mir egal, was sie sagen.«
»Aber mir nicht! Ich möchte nicht, dass dein guter Ruf meinetwegen befleckt wird.« Eine Träne löste sich aus ihrem Auge.
Sagte sie das nur aus Freundschaft? Er wagte kaum zu hoffen, dass sie seine Gefühle erwiderte.
»Hast du deshalb zu mir gesagt, dass du mich nicht mehr wiedersehen willst?«
Sie nickte und senkte den Blick. Er legte ihr den Finger unters Kinn und hob ihren Kopf an, damit er ihr in die Augen sehen konnte. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, wie sehr er sie liebte und auch das Kind lieben würde, weil es ein Teil von ihr war. Der Blick aus ihren veilchenblauen Augen, offen und voller Wärme, sagte mehr als tausend Worte.
»Violetta, mein Ruf ist mir egal, dein Glück hingegen nicht. Hast du denn nicht gespürt, wie sehr ich dich liebe?«
»Schon. Irgendwie. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Und ich hatte Hans.«
»Ich weiß.«
Er erzählte ihr von dem Foto in Gideons Buch, auf dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. »Ich habe mich auf den ersten Blick in das Mädchen mit der ernsten Miene verliebt. Seit ich dir in Hannover begegnet bin, gehört mein Herz nur dir. Du hast meine Gefühle nicht erwidert, denn du warst mit Hans glücklich. Ich bin nach England zurückgekehrt im festen Glauben, dich vergessen zu können. Das ist mir nicht gelungen. Als sich die Diskriminierung gegen die Juden in deinem Heimatland zugespitzt und Mahler angedeutet hat, dass er Hans aus dem Weg haben wollte, war ich in Sorge um euch. Ich habe deinem Vater ein Telegramm geschickt und ihm meine Hilfe bei einer Flucht angeboten und versprochen, euch den Start in ein neues Leben zu erleichtern. Ich wollte euch empfangen. Aber ihr wart nicht da. Dann habe ich erfahren, dass du allein nach England gekommen bist. Ich habe dich überall vergeblich gesucht, bis ich dich in der Kirche wiedergetroffen habe.«
»Ich habe schon lange für Hans geschwärmt. Wie alle Studentinnen. Er war meine Jugendliebe und so sanft und begabt. Als wir uns hier begegnet sind, war ich froh, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Im Laufe der Zeit warst du mir ein guter Freund geworden. Ich habe mich gefürchtet, deine Freundschaft zu verlieren, wenn du von Constanze erfährst. Dich zu verlieren, denn ich habe plötzlich mehr für dich empfunden. Ich habe mich gegen meine wachsenden Gefühle für dich gewehrt. Jetzt weiß ich, dass es besser gewesen wäre, dir die Wahrheit zu gestehen. Es tut mir so leid. Dann hast du von meinem Kind erfahren, und ich habe mich geschämt, so feige gewesen zu sein. Erst nach unserem Streit habe ich begriffen, wie viel du mir bedeutest. Meine Oma hat immer gesagt, ein Herz kann viele lieben, aber es gibt nur die eine große Liebe, die bedingungslos ist und alle Sehnsüchte zu stillen vermag. Und das bist für mich du, Brian.«
Er umfasste ihr Gesicht, konnte nicht fassen, dass sie ihn ebenfalls liebte. Brian wollte sie küssen. Doch sie legte ihre Hand auf seinen Mund.
»Könntest du meine kleine Constanze auch lieben?«
»Wie könnte ich sie nicht lieben, da sie doch zu dir gehört?«
Tränen rannen ihr übers Gesicht.
»Ist das ein Versprechen?«
»Ja.«
Sie schlang die Arme um seinen Nacken.
»Auf diese Worte von dir habe ich gehofft. Ich liebe dich, Brian.«
Dann fanden sich ihre Lippen zu einem innigen Kuss. Er hätte in diesem Augenblick sein Glück hinausschreien können.
Etwas zupfte an seiner Hose.
Nur ungern löste er sich von Violetta. Er schaute nach unten. Ein kleines Mädchen hatte ihre Fingerchen in den Stoff seiner Hose gekrallt. Mit dem schwarzen Haar und den blauen Augen war sie eine Miniaturausgabe Violettas. Lächelnd blickte das Kind zu ihm auf und eroberte sein Herz im Sturm. Er bückte sich und hob es auf den Arm.
»Wer bist du denn?«
»Conny«, antwortete sie und kniff ihn ins Ohr.
»Wie schön du bist. So schön wie deine Mutter«, sagte er und küsste das Kind auf die Stirn. Violetta strahlte ihn an.
Constanze rieb sich die Augen und gähnte.
»Sie ist müde und muss ins Bett. Begleitest du uns zum Pfarrhaus?«
»Ihr könnt hier nicht bleiben. Ich kann nicht noch einmal diese Ängste um euch ausstehen. Ich möchte, dass ihr mich nach Wilcox Manor begleitet.«
»Aber ich kann hier nicht so einfach fort. Und deine Mutter ...«
»Die zieht erst einmal zu einer Freundin. Bitte, Violetta.«
»Brian, das kann ich nicht so einfach.« Dann berichtete sie ihm von Sally und den Kindern.
»Der Reverend hat meine Freundin und mich nach dem Bombardement übergangsweise bei sich aufgenommen. Ich kann sie nicht allein zurücklassen.«
Brian lächelte. »Wilcox Manor ist groß genug für alle. Lass uns zu ihr gehen.«
»Du hattest schon immer ein großes Herz, Brian. Dafür liebe ich dich.«