4. Mai 1941

Violetta wachte auf, als sie etwas an der Nase kitzelte. Sie öffnete die Augen. Der leichte Wind bauschte die seidigen Gardinen, die ihr Gesicht berührten. Der Himmel war strahlend blau. Blütenduft strömte ins Zimmer, begleitet vom morgendlichen Vogelkonzert. Wilcox Manor war ein idyllisches Anwesen, auf dem sie sich wohlfühlte. Ihr neues Zuhause. Sie konnte es kaum glauben. Brian schlief neben ihr und lächelte. Sie drehte sich auf den Rücken und betrachtete ihren mit Saphiren besetzten Ehering. Seit gestern war sie Brians Frau. Lady Violetta Wilcox. Das fühlte sich gut an, auch wenn sie sich erst an den Namen gewöhnen musste.

An Brians Seite war sie glücklich. Er war aufmerksam, liebevoll und gab sich alle Mühe, Constanze ein guter Vater zu sein. Doch die Kriegsgeschehnisse und die Sorge um ihre Familie trübten ihr Glück. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr schwand ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihnen. Immer wieder war Hannover Ziel der alliierten Bomber geworden. Sie wusste nicht, ob ihre Eltern und Schwester noch lebten.

Brian regte sich. Sie wickelte eine Haarsträhne von ihm um den Finger. In der vergangenen Nacht waren ihre Finger oft durch sein volles Haar geglitten. Diese Hochzeitsnacht würde für sie unvergesslich bleiben. Voller Leidenschaft hatten sie sich die ganze Nacht lang geliebt.

Ihre Liebe für Brian war so stark, dass sie nicht mehr ohne ihn sein konnte und wollte.

»Schon wach, Liebste?« Er küsste sie auf die Schulter. »Noch immer unersättlich?«, scherzte er und bedeckte ihr Dekolleté mit unzähligen Küssen. Dann sah er auf.

»Ich sehe da nach einer wunderbaren Hochzeitsnacht Schatten auf deinem Gesicht.« Er strich mit dem Zeigefinger sanft über ihre Stirn.

Sie zwang sich zu lächeln.

»Es ist nichts.«

»Glaub ich dir nicht. Ich spüre doch, dass dich irgendetwas bedrückt.«

Sie konnte ihm wirklich nichts vormachen.

»Ich muss oft an meine Familie denken.« Vor drei Jahren hatten sie sich zum letzten Mal gesehen. Anfänglich hatten sie sich regelmäßig geschrieben. Aber kurz nach Kriegsbeginn war der Austausch abgebrochen.

»Das verstehe ich. Auch ich habe deine Familie sehr gemocht. Ich habe Gideons Onkel gebeten, nach deinen Eltern zu suchen.«

Violetta setzte sich auf. Ihr Herz klopfte schneller. »Und? Hat er etwas herausgefunden?«

»Dass dein Vater noch immer im Pfarrhaus wohnt.«

»Und meine Mutter?« Nicht auszudenken, wenn ihr etwas zugestoßen war. Das würde ihr Vater nicht ertragen.

»Die war im Gefängnis. Mehr wusste er nicht. Deine Mutter ist eine starke Frau. Sie wird die Strapazen der Gefangenschaft sicher überstehen.«

Sie war Brian dankbar, dass er nachgeforscht hatte.

Violetta hatte oft mit dem Gedanken gespielt, Gideons Onkel zu schreiben und zu bitten, nach ihren Eltern zu forschen. Aber dann hätte sie ihn womöglich als Fluchthelfer enttarnt und in große Gefahr gebracht. Das würde sie nicht wollen.

»Sobald dieser unselige Krieg zu Ende ist, verspreche ich dir, reisen wir gemeinsam nach Deutschland.«

Dankbar umarmte und küsste sie Brian. Er spürte, was ihr wichtig war.

»Ich werde meinem Vater noch einen Brief schicken.«

»Eine gute Idee.«

Vielleicht konnte Heather ihr auch helfen. Die Freundin arbeitete fürs Red Cross.

Plötzlich sah ihre Zukunft nicht mehr so trüb aus.

»Ich möchte dir heute etwas zeigen«, sagte Brian nach einer Weile und lächelte geheimnisvoll.

Violetta stützte sich auf den Ellbogen und sah ihn erwartungsvoll an. »Jetzt bin ich aber neugierig. Was ist es denn? Hoffentlich nicht wieder ein neues Zuchttier, das Travers in deinem Namen ersteigert hat«, sagte sie lachend.

»Nein.«

»Was ist es dann?«

»Das erfährst du erst nach dem Frühstück.«

»Du willst mich so lange auf die Folter spannen?«

»Sonst ist es ja keine Überraschung mehr.«

»Oh, du Schuft!«, rief sie lachend, nahm ein Kissen und warf es nach ihm. Brian revanchierte sich, und sie balgten und kicherten im Bett wie Kinder.

Angespannt saß Violetta am Frühstückstisch und fütterte Constanze mit Porridge. Auch wenn sie eine Nanny besaßen, ließ sie es sich nicht nehmen, ihre Tochter selbst zu füttern. Gideons geschnitzte Flöte lag stets neben Constanzes Teller. Andere Mädchen ihres Alters nahmen ihre Puppen oder Teddybären überallhin mit. Bei ihr war es das winzige Instrument. Violetta schmunzelte, während ihre Finger auf der Tischplatte trommelten. Sie hasste es, wenn Brian sie hinhielt.

»Ich werde Will um den Schlüssel bitten«, sagte er und tupfte seinen Mund mit der Serviette ab. Brian hatte den ehemaligen Butler seines Vaters wieder eingestellt. Will war ernst und vor allem loyal.

»Ist es wegen der Überraschung?« Sie platzte vor Neugier.

»Ja.«

Na endlich!

»Bin gleich wieder zurück.« Brian verließ den Salon, um wenig später mit einem rostigen Schlüssel und Caitlin, Constanzes Nanny, zurückzukehren.

»Guten Morgen, Mylady.« Caitlin machte einen Knicks, bevor sie sich Constanze widmete. Die junge Frau war aus dem Ort und kümmerte sich auch um Sallys Söhne, wenn die Freundin auf dem Gut arbeitete.

»Komm.« Brian nahm sie bei der Hand.

Er führte sie in den verwaisten Westflügel des Herrenhauses. Hand in Hand stiegen sie die Treppe hinauf.

»Hier soll die Überraschung sein?« Violetta war enttäuscht.

»Wart's nur ab.«

Violetta stöhnte.

»Alan und ich haben hier gern Verstecken gespielt«, erzählte er, während sie einen dunklen Flur entlangliefen. Vor einer der Türen blieb Brian stehen und schloss sie auf. Violetta war so aufgeregt wie ein Kind vor der Bescherung.

Der Raum war leer und dunkel.

»Hier?« Brian erlaubte sich einen Scherz mit ihr.

Anstelle einer Antwort öffnete er die Fensterläden. Geblendet vom Sonnenlicht kniff Violetta die Augen zu. Als sie sie wieder öffnete, sah sie sich um. Das Zimmer wirkte trotz des Tageslichts düster durch die Vertäfelung aus Nussbaum.

»Das Zimmer hat meinem Urgroßvater gehört. Mein Vater hat den Flügel vor vielen Jahren renovieren lassen. Mittlerweile sind die Räume unmodern.«

Brian kniete sich vor die Vertäfelung und zog ein Taschenmesser aus der Hose, mit dessen Hilfe er eine Holzkassette herausnahm.

»Als Kind habe ich dieses Geheimfach entdeckt.« Er winkte Violetta zu sich. Sie kniete sich neben ihn und lugte in das Loch, das so tief wie ihr Unterarm war.

»Hast du darin deine Schätze versteckt?«, fragte sie augenzwinkernd. Sie hatte Geheimfächer schon immer spannend gefunden. Ihre Mutter hatte ihr von einem im Wintergarten der Familienvilla erzählt.

»Nein, aber ich habe hier drin die Noten der Ouvertüre von Frederik gefunden, die Onkel Edgar dann deiner Mutter überreicht hat. Ohne die hätten wir uns nie kennengelernt.«

Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit. Sie verstand diesen Liebesbeweis und bedankte sich mit einem langen Kuss.

»Das ist wirklich eine Überraschung«, sagte sie, nachdem sie sich voneinander lösten. »Wo ist der Rest der Noten geblieben?«

»Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen.«

»Vielleicht gibt es dahinter noch einen Hohlraum.« Violetta wollte sich nicht damit abfinden, dass die Ouvertüre das Einzige gewesen war, was Brian gefunden hatte. Sie beugte sich vor und klopfte und tastete die hölzernen Wände im Innern ab. Zu ihrer Enttäuschung klang es nirgendwo hohl. Plötzlich spürte sie etwas Klebriges und zog die Hand heraus. Es war ein Stück Papier mit einer Paste. Beim näheren Hinsehen erkannte sie eine Banderole.

»Schau mal, Brian.«

Vorsichtig zog er den vergilbten Streifen Papier von ihrem Finger und nahm ihn näher in Augenschein. »Komisch, das ist mir damals nicht aufgefallen.«

Er hielt das Papier gegen das Licht. Darauf waren blasse Konturen zu erkennen.

»Sieht aus wie ein Wappen«, sagte er. »Das müssen wir uns noch einmal mit der Lupe genauer ansehen.«

Nachdem sie das Geheimfach und das Zimmer wieder verschlossen hatten, gingen sie hinunter in Brians Büro.

Unter der Lupe bestätigte sich seine Vermutung. Auf der Banderole war ein Wappen zu sehen. Es bestand aus einem Schild mit diversen Abbildungen wie einer Harfe und dem Kopf eines Ziegenbocks. Es wurde von einem gekrönten Löwen und einem Einhorn gehalten. Darüber schwebte eine mit rotem Samt ausgeschlagene Krone. Violetta war sich sicher, es schon einmal gesehen zu haben. Fieberhaft versuchte sie sich zu erinnern.

»Das gleiche Wappen war auf die Original-Partitur von Frederiks Requiem gestempelt.«

Ihr Mann nickte, stand auf und zog aus dem Regal ein Buch über Heraldik heraus.

»Das ist das Wappen von Queen Charlotte.« Brian tippte auf die Abbildung im Buch.

»Das kann nur bedeuten, dass Frederiks Werke in der Sammlung der Königin gewesen sind.«

»Dann könnte sich der Rest des Werkes noch irgendwo in Hannover befinden.«

Violetta teilte seine Vermutung. Ihre Mutter hatte jahrelang vergeblich danach gesucht und war vielleicht dem Aufbewahrungsort sehr nah gewesen.

Doch dann dachte sie an die Bombardements in Hannover, die weite Teile ihrer Heimatstadt zerstört hatten.

»Wenn der Krieg es nicht vernichtet hat«, sagte sie traurig.

»Wir können nur hoffen«, tröstete Brian.