Gisela
Wochen waren nach dem Arzttermin vergangen, und die Schmerzen blieben. Dabei hatte sie ihre Medikamente pflichtbewusst und auf die Stunde genau eingenommen.
Sie hatte einen Fehler gemacht und im Gesundheitslexikon nachgeschlagen. Irgendjemand hatte es Dietmar vor einer Ewigkeit geschenkt, und sie hatte es ganz hinten ins Regal gestellt. »Ich werde den Teufel tun und mir ansehen, woran man erkranken oder sogar sterben kann«, hatte sie damals gesagt.
Als sie nun die grauenvollen Fotos von grauenerregenden Krankheiten sah und Worte wie »Geschwür« und »Karzinom« las, klappte sie das Buch rasch zu und schob es zurück ins Regal. Vorher war sie zufällig bei Buchstabe K gelandet und hatte etwas von Koliken gelesen. Waren ihre Schmerzen Koliken?
Ihr war schon wieder übel, im Grunde war ihr seit einiger Zeit ständig übel. Ihr Geist zählte ungefragt die Symptome auf, von denen sie eben gelesen hatte: Übelkeit, Appetitlosigkeit, Schmerzen im Oberbauch, Erbrechen.
In Gedanken ging sie den zurückliegenden Arztbesuch durch. Hatte sie ihre Beschwerden auch genauestens geschildert? Hatte der Arzt verstanden, was sie meinte? Und hatte sie auch ihn verstanden? Es wäre nicht das erste Mal, dass Arzt und Patient aneinander vorbeiredeten. Sie erinnerte sich noch gut – leider – an das Gespräch mit dem Arzt im Krankenhaus, als Dietmar eingeliefert worden war. Er hatte Wörter benutzt, die sie nie zuvor gehört hatte und sich auch nicht merken konnte, sodass sie sie später hätte nachschlagen können. Warum mussten Ärzte sich nur immer so ausdrücken, dass Menschen, die nicht Medizin studiert hatten, kein Wort verstanden?
Gisela ging ins Wohnzimmer und nahm eine Zigarette aus der Schachtel. Die wievielte heute? Wieso fragte sie sich das überhaupt? Und seit wann stellte sie sich diese Frage?
Sie zündete sie an und inhalierte. Die Zigarette schmeckte ihr ganz und gar nicht, und sie spürte, wie sich ihr Magen noch mehr zusammenzog.
Mit der Zigarette in der Hand ging sie ins Bad und nahm die Medikamente aus dem Schränkchen, die ihr verordnet worden waren. Sie setzte sich auf den Wannenrand und las erneut die Packungsbeilagen und überprüfte, ob sie auch wirklich alles richtig eingenommen hatte. Der Arzt hatte gemeint, dass es ihr in spätestens zwei Wochen deutlich besser gehen würde.
Sie hatte noch gescherzt, dass sie bis dahin einfach weiterhin den scheußlichen Kamillentee trinken würde.
Doch selbst der verursachte ihr mittlerweile Übelkeit.
Sie runzelte die Stirn und klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel. Hatte sie von den weißen Tabletten nicht drei statt vier genommen? Nein. Sie schüttelte den Kopf. Sie war sehr akribisch gewesen.
Zurück im Wohnzimmer, drückte sie die Zigarette aus und wollte sich ein Glas Wasser holen. Auf dem Weg in die Küche wurde ihr ganz eigenartig zumute, ein wenig schwindelig, als habe sie einen leichten Schwips. Dann brach ihr kalter Schweiß aus, und sie taumelte, stolperte über die Teppichkante und fiel der Länge nach auf den Läufer im Flur.
Einen Moment lag sie still da, verwirrt und erschrocken. Sie rappelte sich auf und überlegte, ob ihr etwas wehtat.
Wieder wurde ihr übel, diesmal so stark, dass sie es gerade noch rechtzeitig ins Bad schaffte.
Sie würgte, bis nur noch Gallenflüssigkeit kam, die unangenehm in der Speiseröhre brannte. Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie nicht aufstehen konnte, unmöglich.
Wie lange sie auf allen vieren vor der WC-Schüssel hockte, wusste sie nicht. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Irgendwann ließ sie sich auf die Fersen zurückfallen, den Rücken an die Badewanne gelehnt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Hatte der Arzt sich womöglich geirrt? Auch Ärzte irrten sich mitunter, auch wenn sie sich gern als Halbgötter in Weiß verstanden. Vielleicht hatte er ihr aber auch nur nicht die richtigen Medikamente verschrieben.
Ich werde einen neuen Termin machen.
Plötzlich beruhigt und deutlich sicherer auf den Beinen, stand sie auf und holte sich etwas zu trinken.