Die Suche
Die DMZ, Nordkorea 08. April 2025
Der Anruf kam etwas früher als erwartet. Um zehn Uhr morgens rief Generaloberst Go Kim Yo-jong über ihre Privatleitung an. »Madame, Sie werden nicht glauben, was mein Flugzeugteam im Wonsu-Reservat entdeckt hat. Die einzige Person dort war der Koch. Kims Hubschrauberbesatzung und die vier Wachen waren alle tot. Die Funkgeräte sowohl im Hubschrauber als auch in der Wachhütte wurden zerstört.«
»Was ist mit meinem Bruder, General?«
»Der Koch sagt, dass der ältere Hirte, der das Vieh verwaltete, den Wonsu zusammen mit einem Mädchen, das dort lebte, als Geisel nahm. Die drei brachen auf Pferden in Richtung Süden zur DMZ auf.«
»Ein Mädchen, das dort lebt? Überlassen Sie das meinem Bruder. Kein Wunder, dass er alle paar Wochen in diese bestimmte Hütte ging. Wann ist das alles passiert, General?«
»Gestern, gleich nachdem die Wonsu gegen Mittag auf dem Gelände ankamen.«
»Sie waren also fast einen ganzen Tag lang weg!«
»Ja, Madame. Ich habe den Hubschrauber wie besprochen losgeschickt. Als sie erfuhren, was passiert war, hoben sie fast sofort ab und flogen direkt nach Süden. Sie haben das Gebiet zwischen der Hütte und der Grenze zweimal überflogen, bevor sie zum Auftanken zur Basis in Wonsan zurückkehren mussten. Sie und zwei weitere Besatzungen bereiten sich darauf vor, in den nächsten Minuten wieder abzuheben. Ich bin hier auf dem Flugplatz, um sie zu beobachten.«
»Mit einem ganzen Tag Vorsprung könnten sie um diese Zeit schon an der Grenze sein, wenn sie dorthin wollten.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie versuchen werden, in Nordkorea zu bleiben, Madame, nachdem was sie getan haben. Ich schicke auch vier meiner Spezialeinheiten in jeden der drei Hubschrauber. Sie werden sich über ein ziemlich großes Gebiet verteilen und hoffen, ein Zeichen von drei berittenen Personen zu finden. In der Gegend gibt es nur wenige Kleinstädte. Etwa die Hälfte der Männer wird in der Nähe dieser Städte abgesetzt, für den Fall, dass sie sich einen Platz zum Übernachten suchen.«
»Wie wir gestern Abend besprochen haben, General, kontaktieren Sie mich direkt, wenn Sie etwas zu berichten haben. Stellen Sie sicher, dass der Kommandant der Basis versteht, dass er die ganze Sache geheim halten muss, bis das Bild klarer ist. Und selbst dann müssen alle Informationen über mich abgewickelt werden.«
* * * * *
Gegen Mittag hatten sie eine Stelle erreicht, an der sie die DMZ durch den Wald hindurch sehen konnten. Tatsächlich flachte das Land vor ihnen etwas ab und bildete ein ziemlich breites Tal. Erneut ließ Yoo sie anhalten, um zu rasten. Er und Hiroko aßen die letzten Reste ihres Essens und tranken die verbleibende Flasche Wasser. Als der Wonsu nach Wasser verlangte, schüttelte Yoo nur den Kopf. Wenn er den Knebel entfernte, was würde seinen Gefangenen daran hindern, sich den Kopf wegzuschreien? Er war sich ziemlich sicher, dass die Grenzsoldaten nicht allzu weit entfernt sein konnten.
Obwohl sein Geheimauftrag einfach und eindeutig war - den Vorsitzenden zu töten - zögerte Yoo , den Abzug zu betätigen, obwohl er in den letzten Tagen mehrfach die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Schlimmer noch, er verstand dieses Widerstreben nicht. Er vermutete allerdings, dass es etwas mit Hirokos Anwesenheit zu tun hatte.
Erst nach Einbruch der Dunkelheit brachte Yoo die beiden dazu, aufzustehen und weiterzugehen. Von diesem Punkt an würden sie in der Mitte des Zuflusses weitergehen. Nach den Erfahrungen, die er bei seiner Einreise nach Nordkorea gemacht hatte, waren das Bachbett und ein paar Meter auf beiden Seiten des Wassers ein sicherer Ort gewesen. Als sie jedoch die vier Kilometer breite DMZ betraten, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass Nordkorea auf seiner Seite der Demarkationslinie drei Millionen Landminen verlegt hatte. Darüber hinaus gab es viele große Panzersperren, die quer durch die Landschaft gegraben worden waren, offenbar um jeden Versuch einer Landinvasion durch Südkorea und seine Verbündeten zu vereiteln.
Sicherlich gab es eine geringere Konzentration von Minen so weit entfernt von Bevölkerungszentren, in solch feindlichem, gebirgigem Gelände, aber Yoo wusste, dass noch Hunderte von Minen zwischen ihnen und der Freiheit lagen. Schließlich brauchte es nur eine. Also blieben die drei in der Dunkelheit im Bachbett, rutschten auf den glitschigen Steinen aus und wateten an manchen Stellen fast bis zu den Knien, aber wenigstens blieben sie heil. Durch das Waten war ihnen allen dreien elendig kalt. Das Wasser im Bachbett begann zu versiegen, als sie in einem Gebiet ankamen, das extrem flach war.
Obwohl es noch dunkel war, hatte Hiroko den Eindruck, dass sich der flache Raum über eine gewisse Entfernung erstreckte. »Wie nah sind wir an der DMZ?«, flüsterte sie Yoo zu.
»Wir sind genau in der Mitte davon. Dieses Bachbett verläuft etwa dreiviertel des Weges. Bis zu diesem Punkt sollten wir sicher sein. Sobald wir den Bach verlassen, gehen wir sehr, sehr langsam.«
»Müssen wir nicht vor Tagesanbruch hinüber?«
»Ja, aber in einem Stück. Dieser flache Raum auf der nordkoreanischen Seite der Grenze ist voller Minen.«
Als die drei das sichere Ende des Bachbettes erreicht hatten, zog Yoo einen Kompass aus seinem Rucksack, hielt ihn waagerecht vor sich und las ihn ab. Dann deutete er in die Dunkelheit voraus. »Wir bleiben auf einer Peilung von zweihundert Grad.« Er zeigte ihr den Kompass. »Falls mir etwas zustößt, bleiben Sie auf diesem Kurs. Als dieses Gebiet vermint wurde, haben die Südkoreaner sehr genau beobachtet, und sie glauben, dass dies ein sicherer Weg zur Demarkationslinie ist. Ich habe ihn vor fünf Jahren selbst benutzt.«
Der dicke Mann stand am Ende des Bachbettes und gestikulierte. Als der Knebel teilweise entfernt wurde, würgte er hervor: »Du zuerst, Yoo. Wir werden sehen, ob du weißt, wovon du redest.«
Der Knebel wurde ihm wieder in den Mund gestopft. »Ich werde dir auf keinen Fall mit dem Mädchen den Rücken zuwenden. Du gehst zuerst, Kim.«
Die Antwort war nur ein Kopfschütteln, und dann setzte sich der dicke Mann ins hohe Gras. Yoos Antwort war schnell und direkt. Er schlug mit dem Handballen schnell nach unten auf das rechte Schlüsselbein des Wonsu, wo es noch zusammenwuchs.
Selbst mit dem Knebel im Mund schrie der dicke Mann wie ein frisch kastriertes Stierkalb. Schließlich, als Yoo seine Hand wieder über seine Schulter gelegt hatte, schleppte er sich auf die Beine, hielt sich vorsichtig den rechten Ellbogen an die Brust und begann, langsam und vorsichtig über das Minenfeld zu gehen. Yoo und Hiroko folgten ihm in respektvollem Abstand.
Sie überquerten die verbleibende Meile des nordkoreanischen Teils der DMZ, wobei der dicke Mann mit einem Fuß über den Boden glitt und nach dem verräterischen Pflock einer vergrabenen Mine tastete. Hinter ihm behielt Yoo ständig seinen Kompass im Auge und korrigierte regelmäßig die Richtung des Wonsu. »Einen Meter nach links» oder »Einen halben Meter nach rechts.«
Yoo begann auch, den östlichen Horizont auf Anzeichen einer nahenden Morgendämmerung zu beobachten. Er hatte keine Lust, in der offenen DMZ von den Grenzsoldaten der DVRK überrascht zu werden, die alle tausend Meter entlang der Grenze hinter ihnen in erhöhten Wachtürmen positioniert waren. Er sah eine Situation voraus, in der sie einfach mit Scharfschützen auf sie schießen würden, sobald sie entdeckt würden, ohne zu wissen, dass sie zusammen mit zwei Flüchtlingen auf ihren furchtlosen Führer schossen.
Knapp zweihundert Meter vor dem zehn Fuß hohen Stahlzaun, der von aufgerollten Stacheldrahtsträngen gekrönt war und die Demarkationslinie zwischen den beiden Koreas verlief, begann sich der Himmel zu ihrer Linken aufzuhellen. Er bemerkte Hirokos weiße Jacke und zog ihr seine eigene grüne Militärjacke aus, damit sie von den Grenzern nicht so leicht gesehen werden konnte. Leider bedeutete das, dass sein blasser, nackter Rücken ein anderes Ziel sein würde.
Als der dicke Mann merkte, dass die Dämmerung nahte, verlangsamte er sein Tempo noch mehr. Yoo rief: »Kim, du Narr, du hast uns aufgehalten, bis es fast hell ist! Glaubst du, deine Wachen werden wegen dir nicht schießen? Alles, was sie sehen werden, sind drei Leute, die versuchen zu fliehen. Wir drei sind lediglich drei Übungsziele für sie. Ist euch nicht klar, dass ihr hier draußen in der DMZ keine Chance habt? Eure Soldaten wurden gut darauf trainiert, erst zu schießen und dann Fragen zu stellen. Eure einzige Chance zu überleben ist, mit uns nach Südkorea zu kommen.«
Der Wonsu beschleunigte sein Tempo merklich. Sie waren jetzt nur noch fünfzig Meter vom Zaun entfernt. Ein Schuss ertönte. Die Wache war offensichtlich nicht auf ein weit über zweieinhalb Kilometer entferntes Ziel eingestellt gewesen. Soweit Yoo es beurteilen konnte, war die Kugel keinem von ihnen nahe gekommen. Aber Vorsicht ist besser als Nachsicht, und er befahl dem dicken Mann und Hiroko, den Rest des Weges auf dem Bauch zu kriechen.
Aufgrund seiner verletzten Schulter war Kim nicht in der Lage, in dieser Position nennenswerte Fortschritte zu machen. Yoo sagte ihm, er solle sich hinknien und so weitermachen. Als er das tat, ertönte um sie herum das Geräusch zweier Gewehre. Eine der Kugeln zischte so nah, dass sich alle drei unwillkürlich duckten. Kim ging auf den Bauch zurück.
* * * * *
»Ich entschuldige mich für diesen unhöflichen Anruf zu so früher Stunde, Madame, aber ich habe weitere Neuigkeiten.«
»Was gibt es, General?«
»Meine Männer entdeckten im Bezirk Kimhwa einen Bootsmann, der drei Araberpferde verkaufen wollte.
»Die meines Bruders?«
»Zweifelsohne. Sie trugen immer noch ihr silberfarbenes Takelwerk. Der Bootsmann brauchte nur wenig Aufmunterung. Er schwört, dass er keine Ahnung hatte, dass der Wonsu zu den drei Personen gehörte, die er zum südlichen Ende des Bukhan-Flusses in der Nähe des Imnam-Damms brachte. Er behauptet, es waren ein alter Mann, ein Mädchen und eine sehr dicke Person, die etwas über den Kopf gezogen hatte.«
»Was haben Sie mit ihm gemacht, General?«
»Sobald ihm die Informationen ausgingen, wurde er eliminiert, Madame.«
Sie sagte nichts dazu und lächelte nur vor sich hin. »Haben sie erwähnt, wohin sie gehen, General?«
»Dem Bootsmann zufolge nicht, Madame, aber die DMZ ist nur ein paar Stunden Fußmarsch vom Damm entfernt.«
»Was ist Ihr nächster Schritt?«
»Stellen Sie ein Kontingent meiner Blitzkommandos mit Suchhunden zusammen, um sie zu verfolgen. Wir müssen uns beeilen, denn die Hunde sind am effektivsten, wenn sie innerhalb von sechs Stunden eine Spur gelegt haben.«
»Und was ist, wenn dieser Hirte meinen Bruder sicher nach Südkorea bringen kann?«
Der General hielt inne. »Wenn Sie nichts anderes anordnen, werden meine Männer nur wissen, dass sie drei Ausbrecher verfolgen, Madame.«
»Ausgezeichnet. Ich bin dankbar, dass wir uns verstehen. Ich danke Ihnen für Ihren Bericht, General Go.«
* * * * *
Trotz Yoos Drohungen bewegte sich der dicke Mann nicht weiter. In seiner Verzweiflung überlegte Yoo, ihm ein Messer in den Rücken zu stechen, aber er hätte Zeit damit verschwenden müssen, sich zu winden, um sein Messer zu erreichen, das sich unter ihm im Minenfeld befand. Er blickte zur Seite und begegnete Hirokos vertrauensvollem Blick. Yoo traf seine Entscheidung. Er und das Mädchen krochen an der Wonsu vorbei und hielten sich dabei immer noch an dieselbe Himmelsrichtung. Die nordkoreanischen Wachen feuerten weiter, aber nur sporadisch und ohne sichtbares Ziel. Yoo vermutete, dass sie die drei einfach nur festhalten wollten, bis ein Hubschrauber von der Militärbasis in Wonsan, die nicht mehr als hundert Kilometer entfernt war, angefordert werden konnte. Er stellte sich vor, dass die Wachen über Funk um Unterstützung gebeten hatten, sobald sie sie in der DMZ entdeckt hatten. Yoo rechnete damit, dass ein Hubschrauber sie innerhalb der nächsten dreißig Minuten abschießen würde, wenn sie sich nicht in Sicherheit bringen konnten.
Zwischen der grünen Vegetation des Minenfelds und dem Grenzzaun lagen fünf Meter nackte Erde. Yoo hatte Bedenken, in diesen Bereich zu kriechen, aber sie hatten keine andere Wahl, wenn sie südkoreanischen Boden erreichen wollten. Als er die Erde erreichte, schöpfte er eine Handvoll davon und schmierte sie sich auf Oberkörper, Kopf und Hose. Obwohl die Tarnung zu wünschen übrig ließ, war es alles, was er hatte.
Bevor er in die Lücke kroch, schmierte er auch Hirokos grüne Militärjacke großzügig mit Dreck ein, so dass sich ihr Rücken nicht mehr so deutlich abzeichnete. »Sobald ich eine Öffnung in den Zaun geschnitten habe, kriechst du nach vorne und gehst hindurch. Wenn mir etwas zustößt, krabbelst du vom Zaun weg und bleibst dann absolut ruhig. Ich denke, ein nordkoreanischer Hubschrauber wird in wenigen Minuten hier sein, und er wird nicht zögern, jemanden auf der südkoreanischen Seite zu erschießen, wenn er dich sehen kann.«
Er zeigte nach Südwesten. »Wenn der Hubschrauber weg ist, gehst du geradeaus in Richtung des Mobilfunkmastes, den du in den Hügeln sehen. Gleich hinter dem Turm befindet sich eine Stadt - Imnam-myeon. Gehen Sie zur Polizeistation und erzählen Sie, was passiert ist. Sag ihnen, dass du mit einem südkoreanischen Geheimdienstagenten zusammengearbeitet hast.« Er bemerkte, dass ihre Augen bei diesem Geständnis groß wurden, aber er fuhr fort. »Sie werden wahrscheinlich wollen, dass du deine Geschichte jemandem in der Regierung erzählst. Aber innerhalb eines Tages oder so werden sie jemanden finden, der dich an die Küste bringt, damit du deinen Vater kontaktieren kannst.«
»Du meinst, es ist tatsächlich möglich, dass ich meine Familie wiedersehen kann?«
»Wenn du es schaffst, die DMZ zu überqueren, ohne gesehen zu werden, dann bist du in ein paar Tagen bei Ihrer Familie.«
»Danke, lieber Yoo. Nun lass dir auch nichts mehr zustoßen. Ich weiß, meine Familie wird sich bei Ihnen bedanken.« Sie wandte den Blick ab. »Das werde ich auch.«
Hiroko blieb im Unkraut liegen, während Yoo durch den Dreck nach vorne kroch. Er zog einen Bolzenschneider aus seinem Rucksack, legte sich auf den Rücken und begann mit dem mühsamen Prozess, mindestens ein Dutzend Schnitte durch die schweren Glieder zu machen.
Ein Schrei kam von dem dicken Mann, der immer noch im Minenfeld lag. »Was willst du mit mir machen, Yoo?«
Yoo fragte sich, wie er den Knebel entfernt hatte. »Ich könnte Sie erschießen, aber ich denke, ich würde Sie lieber vor die Wahl stellen, das Minenfeld ohne meinen Kompass erneut zu durchqueren oder das Risiko mit dem Hubschrauber, der in etwa zehn Minuten hier sein sollte, einzugehen.« Yoo fuhr mit dem Schneiden fort.
Er hatte neun Glieder durchgeschnitten, aber das reichte immer noch nicht aus, um sich darunter durchzuwinden. Er griff mit dem Bolzenschneider höher und schnitt weiter. Das nächste Geschoss war nicht gut gezielt, aber es traf leider ins Schwarze.
Der Bolzenschneider flog Yoo aus der Hand und er starrte auf den blutigen Stumpf, wo sein linker Daumen und Zeigefinger gelegen hatten. Er verdeckte seine Wunde und rief nach Hiroko. »Beeilt euch. Kriech hier rüber und klettere durch den Zaun, während ich ihn für dich halte.«
Sie tat, was er verlangte, während zwei weitere Scharfschützenkugeln über ihren Köpfen aufheulten. Erst als sie schließlich auf der südkoreanischen Seite des Zauns lag, bemerkte sie, dass Yoo verletzt war. Er konnte sich nicht mehr mit einer Hand festhalten, um sich durch das Loch zu ziehen, das er verursacht hatte.
Zwei weitere Kugeln verfehlten sie nur knapp. Sie griff durch den Zaun und zog, konnte Yoo aber nur etwa einen halben Meter bewegen. Dann hob sie sich auf die Knie, um ihre Hebelwirkung zu verbessern. Eine Kugel zerriss den Ärmel ihres Mantels und verfehlte wie durch ein Wunder ihren Arm.
»Ihr müsst flach werden«, schrie Yoo. »Sie haben jetzt die Reichweite auf uns!«
»Wir müssen dich durch den Zaun bringen, Yoo.«
»Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe jetzt Platz, um mich durchzuziehen. Verstecken Sie sich im hohen Gras, und übrigens, auf der südkoreanischen Seite des Zauns gibt es keine Minen. Nur der Norden tut so etwas seinen eigenen Leuten an.«
Hiroko beugte sich vor und küsste ihn auf die Stirn. »Bitte beeil dich, Yoo.« Dann zog sie sich auf den Bauch zurück und versteckte sich im Unkraut.
»Geh weiter vom Zaun weg«, rief er. »Bedecke dich mit Unkraut und bleiben Sie dann ruhig liegen. Jeden Moment kann ein Hubschrauber auftauchen.«
Yoo rollte sich auf den Rücken und begann, unter dem Zaun hindurchzukriechen. Der Draht schnitt ihm in die Brust. Er schwitzte heftig, obwohl er seine Jacke abgegeben hatte. Vielleicht lag es daran, dass er plötzlich nicht mehr sterben wollte. Er griff nach dem Bolzenschneider und dachte, wenn er nur noch ein Glied durchschneiden könnte, würde er es schaffen. Er stützte den einen Griff des Werkzeugs in seiner Achselhöhle ab und hielt den anderen mit seiner unversehrten rechten Hand fest. Schließlich machte er den zusätzlichen Schnitt, legte das Messer ab und schob es erneut vor. Endlich war genug Platz für ihn, und er manövrierte seine Schultern und seinen Oberkörper mühsam durch den Zaun.
Yoo hörte den nächsten Schuss nicht. Die Kugel des Scharfschützen traf Yoo unter dem Kinn, trat oben aus seinem Schädel aus und tötete ihn auf der Stelle.
Das » Whumpa-whumpa-whumpa « aus dem Osten nahm rasch an Lautstärke zu.
»Ich höre den Hubschrauber kommen, Yoo! Ist der Zaun offen?« Der dicke Mann hielt inne und wartete auf eine Antwort. »Yoo, komm zurück und hol mich. «
Der Kampfhubschrauber MD 500E raste die DMZ entlang. Ursprünglich ein ziviler Hubschrauber, waren er und 86 andere modifiziert worden, nachdem sie in den 1980er Jahren aus Westdeutschland ins Land geschmuggelt worden waren. Der kleine Kampfhubschrauber war mit seitlich montierten sowjetischen AT-3-Panzerabwehrraketen und zwei Mini-Maschinengewehren ausgerüstet worden. Beim ersten Überflug richtete es das Maschinengewehrfeuer auf eine Person, die versuchte, einen Zaun zu überqueren, da sich Kopf und Schultern der Person bereits auf der südkoreanischen Seite befanden. Dann drehte er eine Schleife und überflog die Stelle, an der sie eine schwarz gekleidete Person etwa dreißig Meter vom Zaun entfernt hatten liegen sehen. Bei diesem Überflug sahen sie niemanden, feuerten aber drei Raketen in diese allgemeine Richtung. Die Erschütterung einer der Raketen löste eine Landmine aus. Sie explodierte mit einem gewaltigen Knall und die Explosion ließ Schmutz und Unkraut auf sie regnen. Der Hubschrauber flog noch zwei Mal vorbei und feuerte beide dreißig-Kaliber-Maschinengewehre blindlings auf dasselbe Gebiet ab. Sie flogen noch einmal vorbei, sahen aber nichts und kehrten schließlich in Richtung des Militärflugplatzes in Wonsan zurück.
Als die Geräusche des Hubschraubers verklungen waren, spähte Hiroko durch das Gras. »Yoo, bitte sag mir, dass du in Sicherheit bist.« Sie kroch zurück zum Zaun, aber das Ausmaß seiner Verletzungen war schon aus zehn Metern Entfernung zu erkennen. »Yoo, lieber Yoo. Du hast mir das Leben gerettet und dein eigenes verloren.« Ihr blieb der Atem im Hals stecken, und sie fragte sich eine ganze Minute lang, ob sie wieder atmen würde.
Sie war gezwungen, aus der Ferne zu weinen, denn sie wusste, dass die Scharfschützen nichts lieber täten, als ihr Training an ihr zu beenden, wenn sie sich zu erkennen gäbe. Sie dachte an etwas, das Yoo gesagt hatte - die Ehre verpflichtet, das eigene Leben zu schützen, koste es, was es wolle . Wie wahr das gewesen war! Sie erkannte, dass Yoo jemand war, den sie nie vergessen würde. Es war so schmerzhaft, ihn dort liegen zu sehen. Sie würde ihm für den Rest ihres Lebens dankbar sein. Was den Status des Wonsu betraf, so dachte sie nicht einmal an ihn.
Schließlich kroch sie auf dem Bauch durch das meterhohe Gras und dann auf Händen und Knien zweihundert Meter in Richtung des entfernten Mobilfunkmastes, bevor sie aufstand und so schnell sie konnte rannte. Sie hörte Schüsse, rannte aber weiter. Sie versuchte, alle Gedanken an Yoo zu verdrängen, während sie den Mobilfunkmast im Visier behielt. Hiroko Arita würde endlich ihre Freiheit und ihre Familie wiedererlangen.
* * * * *