6. Juli 15 Uhr 45
Kirstine spitzte die Ohren. Nichts zu hören. Sie nahm einen tiefen Atemzug.
Entspann dich, es ist ja gar kein richtiges Stehlen.
Eigentlich war es ja ihr Brief. Der zufällig im großen, schweren Eichenschreibtisch ihres Vaters gelandet war. Dort lag er gut versteckt in der Dokumentenschublade. In der Schublade, die man abschließen konnte.
Ihre verschwitzten Finger hielten den kleinen, goldenen Schlüssel fest umklammert, den sie ganz hinten aus dem Vitrinenschrank genommen hatte, wo er immer lag.
»Kirstine, willst du Kaffee? Es ist auch noch Kuchen von gestern da.«
Als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, zuckte sie zusammen.
»Nein, danke!«, rief sie und schloss die Tür zum Wohnzimmer. Dort gab sie sich alle Mühe, das kleine Kreuz über dem Schreibtisch zu ignorieren. Jesus sah vorwurfsvoll auf sie herab. Der Schlüssel ließ sich ohne Probleme umdrehen, doch die Schublade klemmte, also musste sie kräftig daran ruckeln, um sie aufzubekommen. Der Brief lag direkt obenauf, sie erkannte ihn sofort. Den dicken, weißen Umschlag. Der Stempel auf der Briefmarke verriet, dass der Brief bereits vor einigen Wochen verschickt worden war. Mit ihrem Namen drauf. Kirstine Marie Jensen . Und dennoch lag er weggesperrt in einer Schreibtischschublade. Und dennoch hatte jemand anderes den Umschlag geöffnet und den Inhalt gelesen. Sie schnappte sich den Brief und steckte ihn in die Tasche.
Von der Küche her erklangen Schritte, und die Wohnzimmertür schwang auf. Blitzschnell schob sie die Schublade zu.
»Hier bist du! Komm doch raus zu uns in den Garten. Die Sonne scheint!« Ein flüchtiger Blick wanderte über Kirstines Gesicht und Oberkörper. Suchte ihre Mutter etwas? Ihr Herz klopfte wie wild.
»Nein, danke. Ich glaube, ich drehe lieber eine Runde mit dem Rad.«
»Na gut. Solange du zum Abendessen wieder hier bist …«
Kirstine nickte und zwängte sich an ihrer Mutter vorbei nach draußen. Den kleinen Schlüssel immer noch in der Hand, schloss sie das Fahrrad auf. Sie spürte den Brief deutlich in ihrer Hosentasche. Wenn ihre Eltern heute Abend im Bett waren, musste sie beides wieder zurücklegen.
Als sie das Rad durchs Gartentor schob, stand plötzlich ihre Mutter vorne an der Straße und wartete auf sie. Sie musste durch die Haustür gegangen sein.
»Kirstine, warst du etwa an Papas Schreibtisch?«