7. Juli 08 Uhr 41

Kirstine

Jakob atmete schwer, er schien fest zu schlafen. Kirstine spürte seinen Atem am Hals. Eine schwindelerregende Leichtigkeit erfüllte ihren Körper. Sie selbst konnte beim besten Willen nicht schlafen. Sie saß mit dem Gesicht zum Fenster und betrachtete die Landschaft. Die Sonne beschien wogende Felder, die vor lauter Grabhügeln ganz hubbelig wirkten. Es waren sicher mehr, als sie in ihrer gesamten Kindheit zusammengerechnet gesehen hatte. Das bedeutete, die Gegend hier war einst reich gewesen, nicht zuletzt an Gebeinen und Grabbeigaben.

Die Wartezeit hatten sie genutzt, um schlechten Kaffee zu trinken und zu reden. Jakob hatte ihr von dem Besuch bei seinen Eltern erzählt, und vieles von dem, was er berichtete, hatte Kirstine nicht verstanden, doch sie hatte einfach genickt und ihn erzählen lassen. Unter anderem, dass er die Erwartungen der Eltern nicht erfülle, dass sie seine Wahl nicht unterstützten – all das hatte irgendwie mit Rosenholm zu tun, aber sie hatte nicht genau verstanden, wie. Er hatte mit ihr gesprochen, als wäre sie ein normaler Mensch und kein Freak. Wie mit einer Erwachsenen und nicht wie mit der kleinen Kirstine, die nie was kapierte.

Diese Kirstine war nun Vergangenheit. Sie spürte es deutlich. Das hier war die neue Kirstine . Die laut lachte, ohne rot zu werden. Die interessiert zuhörte und mit kurzen, verständnisvollen Kommentaren bewirkte, dass man ihr all seine Sorgen anvertrauen wollte. Die im Bus saß, den Kopf eines hübschen, jungen Mannes an ihrer Schulter.

»Nächster Halt Rosenholm«, sagte der Fahrer durch, und Jakob setzte sich ruckartig auf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

Sie traten in den herrlichsten Sonnenschein hinaus. Es war noch früh, aber nicht mehr kalt, und Jakob zog seine Jacke aus, ehe sie weitergingen. Eine Lerche schwang sich hoch über ihnen in die Luft und gab ein aufgeregtes, endlos scheinendes Trillern von sich.

»Es ist nur ein kleines Stück zu Fuß. Gleich hinter der Kurve sieht man die Schule schon«, sagte Jakob und machte eine Bewegung mit der Hand.

Rosenholm, wie schön das klang. Trotzdem hatte sie nicht so richtig gewusst, was sie sich darunter vorstellen sollte. Das jedenfalls nicht. Rosenholm war beinahe ein Schloss. Ein kleines, weißes Schloss mit uralten, roten Ziegeln auf dem Dach, vier kleinen Türmen – einem an jeder Ecke – und einer winzigen Hängebrücke, die über einen Burggraben führte. Eine lange Allee aus alten, knorrigen Kastanienbäumen verlief hinauf zur Schule, zuerst aber musste man einen großen Park durchqueren, wo gewaltige Rhododendren, hohe Silberpappeln, eine uralte Magnolie sowie eine riesige Blutbuche wuchsen und einige andere Sträucher und Bäume, die sie nicht kannte.

»Unglaublich«, sagte sie nur.

»Ein schöner Ort, oder?«, erwiderte Jakob lächelnd, beinahe so stolz, als hätte er das alles selbst erbaut.

Sie schritten über die kleine, hölzerne Hängebrücke. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie sich schließlich dem Tor näherten, das in den Schlosshof führte. Vor ihnen an der Mauer wuchs eine Kletterrose von beachtlicher Größe, die ihre altrosafarbenen Blütenblätter auf das Kopfsteinpflaster im Schlosshof verteilte. Eine Uhr hoch oben am Schulgebäude zeigte, dass es kurz vor neun war.

»Ich sollte erst um zehn Uhr hier sein«, sagte Kirstine. »Vielleicht warte ich einfach hier.«

»Ach Quatsch, komm mit. Ich stell dir Birgit vor und führe dich ein wenig herum.« Jakob öffnete eine massive, alte Tür zu einer riesigen Halle, in der eine breite Treppe nach oben führte. Nach dem Spaziergang durch den sonnendurchfluteten Park wirkte es hier drinnen durch die holzvertäfelten Wände sehr dunkel. Unter der Decke stand in verschlungenen Buchstaben: Erde, Natur, Blut, Tod .

»Ich kann auch ein gutes Wort für dich einlegen«, sagte Jakob mit einem Lächeln und zwinkerte ihr übertrieben zu, so als hätten sie irgendeinen krummen Deal geschlossen.

»Jakob Engholm!«

Eine scharfe Stimme, die im ganzen Raum widerhallte, ließ Kirstine zusammenzucken. Am oberen Ende der Treppe stand eine große Frau mit kurzem, grauem Haar und einer markanten, schwarzen Brille.

»Guten Morgen, Birgit, hier ist jemand, den ich dir vorstellen will«, rief Jakob und nahm zwei Stufen auf einmal. »Das ist Kirstine«, fügte er hinzu und wies mit der Hand auf sie, die sich noch auf halber Strecke hinter ihm befand.

Die Schulleiterin reagierte gar nicht erst, sondern hielt den Blick fest auf Jakob gerichtet.

»Was wird das denn? Du weißt doch, dass Lehrern der Kontakt zu zukünftigen Schülerinnen und Schülern strengstens verboten ist – es sei denn, sie nehmen die Prüfungen ab.«

»Aber … bist du denn nicht zum Vorstellungsgespräch hier?« Jakob sah Kirstine verwirrt an.

Vorstellungsgespräch ? Nein, das nun wirklich nicht. Kirstine wollte etwas erwidern, doch beim Anblick der strengen Schulleiterin blieben ihr die Worte im Halse stecken. Sie brachte nur ein leichtes Kopfschütteln zustande.

»Heute finden keine Vorstellungsgespräche statt«, stellte die Schulleiterin klar. »Sondern die Informationsveranstaltung für zukünftige Schülerinnen. Wenn du zur Abwechslung mal deinen Taubenschlag leeren oder an den Besprechungen des Kollegiums teilnehmen würdest, wüsstest du das.« Dann wandte sie sich von Jakob ab und richtete den Blick auf Kirstine. »Stimmt doch, oder? Du hast einen Einladungsbrief zum Infotreffen erhalten?«

Kirstine nickte.

»Oh, verdammt … Wieso hast du das nicht gleich gesagt?«, sagte Jakob.

Kirstine schüttelte nur erneut mit dem Kopf. Hatte Jakob ernsthaft geglaubt, sie hätte hier an der Schule ein Vorstellungsgespräch? Unterrichtete er hier etwa?

»Ich muss das wohl falsch verstanden haben, sorry«, murmelte Jakob und vermied es, ihr in die Augen zu schauen. »Viel Glück heute«, fügte er hinzu und drehte sich ohne ein weiteres Wort um.

Die Schulleiterin seufzte missbilligend, ehe sie sich wieder Kirstine zuwandte. »Du kannst noch ein wenig vor die Tür gehen«, sagte sie. »Wenn die anderen da sind, werdet ihr abgeholt und in den Saal geführt, wo die Veranstaltung stattfindet.«

Kirstine nickte und stieg die Treppe hinab wie ein Gast, der an der Tür abgewiesen worden war. Erst draußen angekommen, fiel ihr im Sonnenschein auf, dass sie Jakobs Schal immer noch um den Hals gewickelt hatte. So viel also zur neuen Kirstine .