1. November 14 Uhr 30

Malou

Fuck, hatte sie Kopfschmerzen. Malou machte diese Rumsitzerei noch wahnsinnig. Mussten sie wirklich alle zusammen auf Victoria warten wie so ein verdammtes Begrüßungskomitee?

»Soll ich eine Kanne Tee machen?« Nervös trat Kamille neben dem Küchentisch von einem Fuß auf den anderen.

Malou hob gleichgültig die Schultern und pulte an dem Verband herum, den Ingrid ihr angelegt hatte. Die Schulheilerin hatte Victoria und sie, ohne mit der Wimper zu zucken, verarztet. Ihre vage Erklärung, Malou habe sich versehentlich mit einem Messer verletzt und Victoria könne kein Blut sehen und sei deshalb umgekippt, hatte sie nicht hinterfragt. Überzeugt hatte Ingrid dennoch nicht ausgesehen.

»Hallo? Tee oder nicht?«, fragte Kamille.

»Ja, aber bitte Earl Grey«, sagte Kirstine, die am Tisch saß, Kringel auf ein Blatt Papier malte und unruhig auf ihrem Stuhl hin- und herrutschte. »Den mag Victoria am liebsten.«

»Echt?«, fragte Kamille.

»Ernsthaft, dieses Kräutergebräu ist widerlich«, sagte Malou. Hinter ihren Schläfen pochte es, und sie war kurz davor, durchzudrehen. Ob das eine Nachwirkung des Blutzaubers war oder bloß der Kater?

»Bist du okay? Du siehst schrecklich aus«, bemerkte Kamille, die gerade den Wasserkocher füllte.

»Danke, mir geht’s gut«, sagte Malou. Jedenfalls, wenn ›gut‹ neuerdings ›scheiße‹ bedeutet.

»Müsste sie nicht mal langsam kommen?«, fragte Kirstine. »Was, wenn sie doch schwerer verletzt ist?«

»Ich habe wirklich gedacht, wir hätten sie verloren«, sagte Kamille und holte die Tassen aus dem Schrank, »sie war so völlig weggetreten …«

»Ähm, Kamille?« Malou warf ihr einen warnenden Blick zu.

Kamille drehte sich um. Victoria stand im Türrahmen. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst und sie hatte dunkle Augenringe, aber aus irgendeinem verdammt ungerechten Grund machte sie das nur noch hübscher. Malou ließ ihren Blick über Victorias Gesicht und bis zu ihrem Hals gleiten. Keine Spur mehr von den roten Würgemalen, die sich gestern dort abgezeichnet hatten. Stattdessen blieben ihre Augen an Victorias Kette hängen. Und an dem kleinen Totenschädel aus Silber.

»Komm, Victoria, setz dich zu uns.« Kamille stupste die Freundin an und wirkte dabei, wie Malou fand, als rattere ihr durch den Kopf, wie viel Victoria wohl von ihrem Gespräch mitbekommen hatte. »Wie geht es dir?«

»Mir geht’s ganz gut, jedenfalls besser als gestern«, sagte Victoria und lächelte.

»Was in aller Welt war das gestern?«, fragte Malou.

»Lass Victoria erst mal ihren Tee trinken, ja?«, schlug Kamille vor und goss Victoria ein. »Und vielleicht was essen. Soll ich dir ein Brot schmieren?«

»Ist schon okay.« Victoria machte eine abwehrende Handbewegung. Beinahe bekam Malou Mitleid mit ihr. Kamille musste echt mal chillen und aufhören, ständig so zu tun, als wäre sie ihre Mutter.

»Keine Ahnung, warum sich der Geist plötzlich an mich gewandt hat«, sagte Victoria.

»Du hast niemandem was davon erzählt, oder?« Malou versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen, schaffte das aber nicht so richtig. Wenn die Lehrer rauskriegten, was sie getan hatten, war das Risiko groß, dass sie nach Hause geschickt würden. Und sie wäre dann die erste, schließlich war das alles ihre Idee gewesen. Sie konnte nicht zurück nach Hause.

Victoria schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab nichts erzählt. Und jetzt lasst uns einfach vergessen, dass es überhaupt passiert ist. Ich will nie wieder etwas mit diesem Geist zu tun haben. Keine Geisterbeschwörungen mehr!«

Kamilles Blick flackerte kurz, Kirstine knetete ihre Hände. Mist, verdammter!

»Äh, du erinnerst dich nicht daran, was passiert ist?«, fragte Kamille.

»Was meinst du?«

»Ganz am Schluss, als wir … na ja …«

»Wir haben versprochen herauszufinden, wer diesen verfluchten Geist getötet hat, klar?«, unterbrach Malou sie. »Und dir bleibt nichts anders übrig, als uns zu helfen, denn du bist die Einzige, die mit ihm sprechen kann.«

»Was?!«

»Sonst lässt er dich nicht in Ruhe«, sagte Kamille. »Er hätte dich beinahe umgebracht, wir hatten keine andere Wahl!«

»Sagt, dass das nicht wahr ist.«

»Es tut mir leid …«, flüsterte Kirstine.

Victoria verbarg ihr Gesicht hinter den Händen. »Und was, wenn wir es nicht schaffen, das rauszufinden?«

»Hey, natürlich schaffen wir das, okay?« Kamille strich der Freundin über den Rücken und schaute dann auffordernd zu Malou. »Oder?«

»Klar«, sagte sie. »Natürlich finden wir raus, wer es war.«

»Wenn wir zusammenhalten, bekommen wir das schon hin«, sagte Kamille. »Eine für alle und alle für eine und so. Du brauchst keine Angst zu haben. Alles wird gut.«

 

Als die anderen an diesem Abend ins Bett gingen, blieb Malou noch in der Küche sitzen. Ihre Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe. Sie wünschte sich so sehr, dass Kamille recht hatte. Dass es nichts gab, vor dem sie sich fürchten mussten. Aber leider deutete alles darauf hin, dass sie einen guten Grund hatten, Angst zu haben.

Die Tage werden kürzer, der Moment rückt näher, aber noch ist Zeit. Zeit, um sie zu finden. Zeit, sie an mich zu binden. Für alle Ewigkeit.