24. Dezember 17 Uhr
Kirstine warf abermals einen Blick aufs Handy. Keine SMS . Nichts im Messenger. Keine Anrufe.
Weder von ihren Eltern noch von Jakob. Seit dem Julfest hatte sie nichts mehr von ihm gehört, und jetzt war er über die Feiertage nach Hause gefahren. Immerhin hatte sie ihm gesagt, er solle sie in Ruhe lassen. Es war wahrscheinlich am besten so. Bei dem Gedanken, was hätte passieren können, wurde ihr kalt, und sie schüttelte sich. Sie war nicht sie selbst, wenn sie so wütend wurde. Glücklicherweise war es dieses Mal nur der Schnee gewesen.
Kirstine steckte das Handy zurück in die Hosentasche. Eigentlich konnte sie froh sein, dass er nicht geschrieben hatte. Allerdings hatte sie versprochen, mit ihm über den Geist zu sprechen. Gedankenverloren spielte sie am Handy herum. Konnte sie es bringen, ihm eine Nachricht zu schicken und zu fragen, ob er von einem alten Mord, der an der Schule begangen worden war, wusste? Wäre es nach dem Vorfall zwischen ihnen nicht extrem seltsam?
Sie warf das Handy aufs Bett und entdeckte das blaue Kleid, das sie sich von Victoria für das Julfest ausgeliehen hatte. Dann versuchte sie sich sogar an einer Flechtfrisur, worin Kamille eine wahre Meisterin war, doch es klappte nicht, woraufhin sie ihre Haare durchkämmte und zu einem Dutt formte, der ihr in den Nacken fiel. Auf einmal hörte sie ein Geräusch – jemand war im Zimmer von Malou und Kamille. Nur wer konnte das sein? Sie war die Einzige aus der WG , die noch hier war. Kirstine spürte, wie das Herz in ihrer Brust wie wild pochte.
»Hallo?!« Sie klopfte an die Tür.
»Komm rein«, antwortete eine vertraute Stimme, und Kirstine atmete erleichtert auf. Malou stand über ihren alten Koffer gebeugt und tat so, als wäre sie beim Auspacken. Ihr Haar hatte sie zu einem unordentlichen Dutt zusammengerafft, aus dem sich kleine Strähnen gelöst hatten, die bei jeder Kopfbewegung umherwirbelten.
»Malou, warum bist du hier?«
Die hatte ihr den Rücken zugedreht und tat so, als wäre sie gerade damit beschäftigt, ein Kleid aufzuhängen, aber Kirstine konnte ihre rot geschwollenen Augen sehen.
»Ich hab’s mir halt anders überlegt, okay? Plötzlich waren zig Leute für Heiligabend eingeladen, da hatte ich einfach keinen Bock drauf.« Sie drehte sich zu Kirstine um und blickte diese trotzig an. Ein Mundwinkel zitterte.
»Okay«, sagte Kirstine. »Bist du beim Festessen dabei? Soll ich auf dich warten?«
»Ich muss mir eben was anderes anziehen. Geh ruhig schon mal vor, ich komme nach.«
Eine halbe Stunde später betrat eine etwas besser frisierte Malou die Bibliothek, wo die Feier stattfinden sollte. Sie trug ein rotes Wickelkleid, passenden Lippenstift und hatte die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Sie schenkte Kirstine ein breites Lächeln, schritt zielstrebig auf sie zu und drückte sie, was Kirstine derart überraschte, dass sie die Umarmung gar nicht richtig erwiderte.
»Ich hab dir noch überhaupt nicht Frohe Weihnachten gewünscht«, sagte Malou. »Also, wo wollen wir sitzen?«
Die runden Tische, die normalerweise die Bibliothek füllten, waren zur Seite geräumt worden, und stattdessen hatte man einen langen Tisch aufgestellt, der mit einem weißen Tischtuch, weißen Stoffservietten und Tellern aus feinstem Porzellan gedeckt war. Hohe, silberne Kandelaber waren reich mit Kerzen bestückt, und entlang der Mitte des Tischs lagen Fichtenzweige und kleine, rote Äpfel. Im Kamin loderte ein Feuer, und daneben stand ein herrlicher Weihnachtsbaum, der prachtvoll mit Kerzen, Sternen, selbst gebastelten, rot-weißen Herzen aus Papier und noch mehr roten Äpfeln geschmückt war.
»Schau mal, da vorne gibt’s Glögg, holen wir uns eine Tasse«, sagte Malou, nahm Kirstine ins Schlepptau und marschierte los.
Kirstine war unendlich dankbar. Bevor Malou aufgetaucht war, hatte sie nur hilflos in einer Ecke des Raums gestanden und nicht gewusst, was sie mit sich anfangen sollte. Es war niemand da, den sie kannte, außer ein paar Lehrern, und mit denen traute sie sich nicht zu sprechen. Anne war auch noch nicht gekommen. Drüben am Kamin, in einem der tiefen Sessel, saß Zlavko mit einem Schüler über ein Brettspiel gebeugt, und Birgit war in ein Gespräch mit Jens und Ingrid vertieft. Die übrigen Lehrer waren über Weihnachten sicherlich nach Hause zu ihren Familien gefahren.
»Hier!«, sagte Malou und drückte ihr eine Tasse Glögg in die Hand.
»Prost und frohe Weihnachten.«
»Hallo, ihr zwei!« Ein Paar Arme umfasste sie beide von hinten.
»Molly! Du bist hier?«, rief Malou überrascht.
»Tja, ich wollte Weihnachten eigentlich bei meiner Schwester verbringen, aber ich komme einfach überhaupt nicht mit ihrem Mann klar. So ein richtiger Anwaltstyp, also hab ich’s doch gecancelt. Holst du mir auch eine Tasse?« Molly machte eine Kopfbewegung in Richtung Glöggtopf, der auf einer Anrichte stand. Über den dunklen Dreadlocks trug sie einen schwarzen Hut, und auf ihrem T-Shirt war ein durchgestrichener Weihnachtswichtel zu sehen, mit der Unterzeile Christmas sucks .
»Und deine Eltern?«, fragte Malou, als sie Molly eine Tasse heißen Glögg reichte.
»Die sind Diplomaten. Ich glaube, jetzt gerade sind sie in Japan. Kann auch Hongkong gewesen sein, ich bring das ständig durcheinander.«
Sie suchten sich eine Ecke und warteten dort auf einem Sofa, bis das Essen serviert wurde.
»Okay Molly, erfahren wir jetzt endlich, mit wem du beim Julfest rumgemacht hast?«, fragte Malou mit gedämpfter Stimme, damit keiner der Lehrer mithören konnte.
»Er heißt Frédéric, seine Eltern leben in Paris.« Molly sprach den Namen mit starkem französischem Akzent aus.
»Was ist mit Vitus, warst du nicht total in ihn verschossen?«
»Nein, das ist schon lange her. Wir sind nur Freunde.«
»Bist du jetzt mit Frédéric zusammen?«, fragte Kirstine. Sie beneidete Molly um ihre unkomplizierte Art.
»Nein, aber das kann ja noch werden«, sagte Molly und lächelte. »Ich habe vor, ihn bis zum Frühlingsball davon zu überzeugen, dass wir das perfekte Paar wären. Ich will unbedingt mit ihm dorthin gehen.«
»Was, ein Ball? Wann?«, fragte Malou begeistert.
»Sorry, der ist nur fürs Abschlussjahr«, sagte Molly. »Im Prinzip können Schüler einladen, wen sie wollen, aber normalerweise gehen sie mit jemandem aus dem eigenen Jahrgang.«
»Wie unfair!«, rief Malou. »Warum ist er nicht für die ganze Schule?«
»So ist es nun einmal«, sagte Molly. »Aber ihr werdet auch was davon haben. Die Tänze für den Ball üben nämlich alle Jahrgänge ein. Und die neuen Mädchen üben mit den Jungs aus dem Abschlussjahrgang, weil sie älter und damit theoretisch auch vernünftiger sind. Was sagt ihr dazu?«
»Haben die Lehrer keine Angst, dass Jungen und Mädchen sich zu nahekommen?«, fragte Malou.
»Die meisten drücken auch mal gern ein Auge zu, vor allem wenn sie genug Wein intus haben. Wart’s nur ab«, sagte Molly. »Schließlich waren die auch mal jung. Selbst wenn das hundert Jahre her ist.«
»Da kommt Anne«, sagte Kirstine. Alle begrüßten das blonde Mädchen, die in ihrer frisch nachgeschnittenen Pagenfrisur eine schicke Haarspange mit Weihnachtsglöckchen trug. Bei jeder Kopfbewegung ertönte ein leises Klingeln.
»Ich hatte eine kleine modische Krise«, sagte sie und strich ihren bordeauxroten Rock glatt.
»Du siehst so hübsch aus«, sagte Molly. »Oh, wie schön, dass ihr alle hier seid. Jetzt bin ich erst recht froh, dass ich die Faschisten-Feier bei diesem Anwalt gecancelt hab.«
Plötzlich räusperte sich jemand.
»Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das Essen ist serviert, bitte begebt euch zu Tisch«, verkündete Birgit.
Das Menü bestand aus Gänsebraten, den Kirstine noch nie zuvor gegessen hatte, denn zu Hause gab es immer Schwein, aber mit Äpfeln, Pflaumen und brauner Soße schmeckte er richtig gut. Zum Essen wurde Wein serviert – Schüler und Schülerinnen erhielten je ein Glas – und Malou bekam ganz rote Wangen, und sah nicht mehr das kleinste bisschen traurig aus. Anschließend gab es Milchreis mit selbstgemachter Kirschsoße. Zlavko erwischte die Mandel, die traditionell im Milchreis versteckt war, und gewann ein riesiges Marzipanschwein, dem er sofort den Kopf abbiss.
Nach dem Essen wurden die Lichter am Weihnachtsbaum angezündet, und Birgit setzte sich ans Klavier, das eigens zu diesem Anlass in die Bibliothek geschoben worden war. Mit großem Enthusiasmus begann sie, Weihnachtslieder zu spielen, und während sie um den Baum herumgingen, sangen alle so gut mit, wie sie konnten, auch wenn es manchmal ein wenig schief klang. Als sie fertig waren, holte Birgit einen Sack hervor und verteilte an alle Geschenke. Sie hatte inzwischen rote Wangen und kicherte wie ein kleines Mädchen vor sich hin, während sie den Weihnachtsmann gab. Molly bekam ein Lederarmband mit einer kleinen Perle aus Bernstein, das sie sich sofort übers Handgelenk zog, Malou ein hübsches Notizbuch mit Goldprägung und eingestanzten Rosen auf dem Einband, Anne ein prächtiges Haarband und Kirstine ein paar warme Wollhandschuhe mit rot-weißem Muster. Im Anschluss ließen sich alle müde und satt auf die Sofas fallen. Wie Molly prophezeit hatte, wurde Portwein zum Kaffee gereicht, und niemand kümmerte sich mehr darum, wie viele Gläser Glögg die Schülerinnen und Schüler tranken. Kirstine beobachtete, wie Malou und Molly eine Flasche Portwein mit sich in eine Ecke schmuggelten und kichernd die Köpfe zusammensteckten.
»Wer macht mit beim Schrottwichteln?«, rief Birgit und machte sich umgehend daran, Platz auf dem Tisch zu schaffen und Würfel und Becher hervorzuholen. Anne sagte, sie sei müde und gehe ins Bett, und auch Kirstine wollte eigentlich passen, aber Malou kam auf sie zugestürmt, zog sie vom Sofa und hinüber zum Tisch. Schon bald waren alle begeistert damit beschäftigt, durch Würfeln möglichst viele von den Päckchen, die Birgit in der Mitte des Tischs platziert hatte, an sich zu raffen. Es war ein kniffliges Spiel, sogar bluffen war erlaubt oder Geschenke durch Mogeleien an sich zu bringen. Gerade hatte Birgit Zlavko das größte Paket abgejagt, und er fluchte in einer Sprache, die Kirstine nicht kannte, als Molly plötzlich ausrief: »Hey, da ist Jakob – ein bisschen spät, Kumpel. Die Gans haben wir aufgegessen.« Malou und Molly krümmten sich kichernd auf den Stühlen und versuchten, in der allgemeinen Verwirrung ein Päckchen von einem Schüler aus dem zweiten Jahr zu stibitzen.
Kirstine drehte sich um. Jakob stand in seiner dicken Winterjacke da wie jemand, der sich in der Adresse geirrt hatte. Plötzlich konnte sie ihren Puls in den Ohren dröhnen hören. Warum war er gekommen?
»Machst du mit?«, fragte Birgit. Ihre Haare standen seltsam zu einer Seite hin ab und die Wangen waren rötlich gefärbt. »Setz dich, du bist gerade noch rechtzeitig.«
»Was?!? Ach so, nein, ich wollte eigentlich nur … ja, frohe Weihnachten wünschen.«
»Dann bist du aber weit gereist, um uns deine Weihnachtswünsche zu überbringen«, stellte Zlavko fest und zog eine Augenbraue hoch.
»Klar machst du mit. Los, setz dich!« Birgit zog einen weiteren Stuhl an den Tisch heran und nötigte Jakob, die Jacke abzulegen.
»Trink ein Glas Portwein, dann wird dir wärmer!« Birgit goss das Getränk mit so viel Schwung in ein Glas, dass das Tischtuch einige Spritzer abbekam. Jakob hob das Glas und trank, und in diesem Moment wechselte er einen Blick mit Kirstine. Ihre Wangen brannten, und sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht richtig deuten. Vor allem sah er unendlich traurig aus.
Das Spiel ging noch einige Runden weiter, Malou und Molly kassierten einen Verweis, weil sie allzu ungeniert schummelten, und am Ende zog Zlavko mit dem großen Paket von dannen, das, wie sich herausstellte, ein Badmintonset enthielt. Kirstine wusste nicht, wie ihr geschah. Jedes Mal, wenn sich Jakobs und ihre Blicke trafen, war es, als spürte sie einen Stromschlag in ihrem Körper. Plötzlich kam es ihr albern vor, dass sie nichts mehr mit ihm hatte zu tun haben wollen. Zorn und Zweifel verschwanden, während Jakob so unglücklich dasaß. Dann war das Spiel zu Ende, und langsam zerstreute sich die Gesellschaft. Einige Schülerinnen und Schüler nahmen am Kamin vor dem heruntergebrannten Feuer Platz.
Wärme und Wein machten sich bei Kirstine abermals in Form eines Schwindelgefühls bemerkbar, ihr ganzer Körper fühlte sich schlapp und schwer an, sie brauchte frische Luft. Ohne ein Wort schlich sie aus der Bibliothek. Hätte sie wenigstens Jakob eine gute Nacht wünschen sollen? Noch konnte sie umdrehen, aber das würde sicher nur peinlich. Stattdessen steuerte sie durch die Galerie auf die Treppe zu. Der Mond tauchte den Schlosspark in blasses Licht, es war ein kontrastreiches Bild aus Schnee und kahlen, schwarzen Bäumen. Für einen Augenblick zeichnete sich der gewaltige Schatten eines Raubvogels vor dem weißen Schnee ab, ehe er wieder in der Dunkelheit verschwand. Sein greller Schrei durchbrach die Stille.
»Kirstine.« Wie zärtlich er ihren Namen aussprach. »Kirstine, warte.«
Sie drehte sich um. Das Mondlicht bahnte sich seinen Weg durchs Fenster und fiel auf sein Gesicht. Er sah müde aus. Und so gequält.
»Weshalb bist du zurückgekommen?« Das klang härter als es eigentlich sollte.
Er fuhr sich verlegen durchs Haar. »Ja, warum habe ich das getan«, murmelte er und wandte sich von ihr ab, so, als würde er mit sich selbst sprechen. »Vermutlich um ein für alle Mal zu beweisen, dass ich ein absoluter Idiot bin.« Er lachte einmal kurz nervös auf. »Es ist ziemlich offensichtlich, dass du mich für einen … perversen Sünder hältst, oder wie auch immer du es nennen willst. Und selbst wenn nicht – und du mich stattdessen auch mögen würdest – ist es von Anfang an zum Scheitern verurteilt, oder? Es wäre in so ziemlich jeder Hinsicht falsch. Du bist Schülerin im ersten Jahr – und ich Lehrer, verdammt noch mal. Es wäre falsch und verboten und bestimmt auch gefährlich. Aber hier steh ich nun. Das ist also der endgültige Beweis: Ich bin ein absoluter Vollidiot.«
Kirstine machte einen Schritt auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich finde nicht, dass du das bist, und auch kein perverser Sünder, oder wie du es eben genannt hast.«
»Doch, tust du«, widersprach er.
»Okay, ein kleiner Idiot. Vielleicht.«
Er lächelte zaghaft und wandte sich ihr wieder zu. Seine Kiefermuskeln waren angespannt.
»Aber kein … kein perverser Sünder«, sagte sie.
»Gut«, sagte er und nickte. »Das ist gut. Denn solltest du mich als solchen bezeichnen und auch alle anderen hier für merkwürdig und falsch halten, dann schließt das dich mit ein, Kirstine. Denn du bist eine von uns. Und du bist alles andere als falsch. Wirklich alles andere. Du bist hübsch und wundervoll und süß und witzig. Und ich bin echt, verdammt nochmal, verliebt in dich.«
Kirstine stand mit weit aufgerissenen Augen da, der mondbeschienene Flur schien sich um sie zu drehen, und sie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
»Und wenn du dich jetzt nicht bewegst«, flüsterte er, »dann küsse ich dich.«
Kirstine rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen schloss sie die Augen und ließ sich sachte gegen ihn fallen, sein Brustkorb fühlte sich ungewohnt fest an. Sanft presste er seine Lippen auf ihre. Ein leichtes Schaudern lief durch ihren Körper, als sie seine Zunge an ihrer spürte, doch seine Arme gaben ihr Sicherheit. Sie verlor jegliches Gefühl für Raum und Zeit, es gab nur noch sie beide und das silbrige Licht des Mondes und Jakobs glühende Lippen auf ihren.
Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille und den Moment zwischen ihnen. Kirstine hielt einen Augenblick lang inne und löste sich dann aus Jakobs Umarmung. Der stand mit ernster Miene regungslos da. Dann hörten sie einen verzweifelten Hilfeschrei.
»Los!« Jakob ergriff ihre Hand, und sie rannten los.
Der Schrei war von oben gekommen. Jakob nahm immer zwei Treppenstufen auf einmal und zog Kirstine hinter sich her. Sie eilten in den Mädchenkorridor hinauf.
»Es kommt von dort«, keuchte Kirstine atemlos. »Das ist unser Flur!«
»Bleib hinter mir!«, befahl Jakob. »Ist da wer?«
»Hier drin!«, hörten sie jemanden rufen. Die Stimme kam aus Annes und Sofies Zimmer.
Sie stürzten ins Zimmer. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, blieb Kirstine das Herz fast stehen. Zwischen den Betten hockte Molly, und neben ihr lag Anne mitten auf dem Fußboden. Ihre Arme und Beine waren nach allen Seiten ausgestreckt, und das Nachthemd war zerrissen, sodass ihre Brüste freilagen, und ihr Körper war mit blutigen Wunden und Kratzspuren übersät.
»Ich komm nicht zu ihr durch!«, sagte Molly panisch. Annes Kopf war nach hinten gestreckt, und in den Augen war das Weiße zu sehen.
»Weg von ihr!«, rief Jakob, und beim Klang seiner Stimme fuhr Molly erschrocken zusammen. »Sie könnte verhext worden sein.« Hastig murmelte Jakob einige aneinandergereihte Runen, während er neben Anne kniete, um ihren Puls zu fühlen.
»Sie atmet, wir müssen sie sofort runter zu Ingrid bringen.« Jakob hob Anne hoch, als wäre sie ein Kind. Ihre Arme und Beine hingen schlaff herunter. »Molly, lauf du voraus und such Ingrid. Sag den Lehrern, sie sollen mitkommen. Kirstine, du hältst mir alle anderen von Leib. Los, es muss schnell gehen!«