5. Januar 10 Uhr 17

Victoria

Ein eisiger Januarregen peitschte auf sie herab, als sie aus dem Bus stiegen. Victoria war bereits ordentlich durchgefroren. Sie zog ihre Kapuze weiter übers Gesicht, um sich vor dem Regen und den Blicken der Mädchen zu schützen. Sie war gestern Abend absichtlich erst spät in die Schule zurückgekehrt und direkt ins Bett gegangen, und bis jetzt war es ihr gelungen, den anderen und ihren Fragen auszuweichen.

»Zunächst gehen wir durch den Wald und runter zum See.« Thorbjørns tiefe Stimme hatte keine Mühe, zu ihnen allen durchzudringen. Alle Mädchen aus dem ersten Jahr machten mit ihm und Jakob einen Ausflug nach Tissø. In der Wikingerzeit hatte sich dort ein Gehöft befunden, das damals von enormer ritueller Bedeutung gewesen war, mit unzähligen Kultplätzen und Opferfunden.

»Fuck, es ist scheißkalt. Und der Matsch ruiniert meine Stiefel komplett.« Malou warf einen verstohlenen Blick zum regengrauen Himmel hinauf.

»Wer kommt bei so einem Wetter bitte auf die bescheuerte Idee, einen Ausflug zu machen?«

»Hast du denn keine Gummistiefel?«, fragte Kamille, die selbst Mütze, Fausthandschuhe und ein Paar mit Lammfell gefütterte Gummistiefel trug.

Victoria hielt den Blick auf den schmalen Pfad gerichtet, der von rutschigem Laub bedeckt war und im Matsch versank. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Mädchen ihrer WG hinter ihrem Rücken vielsagende Blicke austauschten. Ihre bange und rastlose Neugier fühlte sich wie ein lästiger Mückenschwarm an, der nicht von ihr ablassen wollte. Sie legte einen Schritt zu, ehe eine von ihnen Gelegenheit ergreifen und Victoria fragen würde, was sie so gerne wissen wollten: Hatte der Geist Anne angegriffen? Und wenn ja, waren sie schuld daran?

Die hohen Buchen des Waldes wurden nach und nach durch kleine, verkümmerte Bäume abgelöst, die ihre kahlen, schwarzen Äste dem grauen Himmel entgegenreckten. Der Pfad schlängelte sich zwischen den mickrigen Gewächsen hin und her, immer wieder waren große Schlammpfützen oder umgestürzte, glitschige Baumstämme im Weg, an denen sie sich vorbeimanövrieren mussten, ohne dabei allzu nasse Füße zu bekommen. Hinter einer Kurve endete der Weg abrupt, und sie standen direkt am Seeufer. Das Wasser war stahlgrau und beinahe eins mit dem Himmel. Ein paar Wasservögel ließen ihre schrillen Rufe erklingen, ansonsten war es wie ausgestorben.

»Bezauberndes Plätzchen«, murmelte Malou.

»Willkommen in Tissø«, sagte Thorbjørn, als alle versammelt waren, »oder auch in Tyrs See, wenn man nach der Bedeutung des Namens geht. Genau hier sind einst unzählige Waffen geopfert worden, denn Tyr war, wie ihr wisst, einer der wichtigsten Kriegsgötter der Wikingerzeit. Wir werden noch ein Stück weiter gehen, dorthin, wo das Gehöft gelegen hat. Zu dem Hof gehörte ein Gebäude, in dem kultische Handlungen ausgeführt und den Götterstatuen geopfert wurde. Die Geschichte ist hier richtig lebendig, wie vor allem die von euch, die zur Erde gehören, spüren werden, aber im Prinzip sollte jeder von euch auffallen, dass das hier ein ganz besonderer Ort ist.«

Sie liefen ein Stück weiter am Ufer entlang, bevor es einen Hang hinauf ging. Ein Schwarm Enten flog zunächst dicht über ihren Köpfen und anschließend über den See hinweg. Victoria versuchte, der Kraft des Ortes nachzuspüren, aber das Einzige, was sie merkte, war die Kälte.

»Kommt alle her. Stellt euch um mich rum«, forderte Thorbjørn sie mit einer entsprechenden Handbewegung auf. »Genau an dieser Stelle befand sich das Gebäude. Jetzt seht her.« Thorbjørn zog einen Gegenstand aus seinem Rucksack. »Kann mir jemand sagen, was das ist?« Er hielt eine Metallstange in die Höhe. An einem Ende wies sie eine Art Ornament auf.

»Ja, Kirstine?«

»Ist das vielleicht der Stab einer Völva ?« Ihre Stimme verflog fast in dem starken Wind.

»Ganz genau. Natürlich ist das hier eine Kopie. Und wofür hat man ihn verwendet?« Thorbjørn nickte Kirstine aufmunternd zu.

»Die Völva verwendete ihn, um Seiðr auszuführen.«

»Vollkommen richtig. Völva bedeutet eigentlich Stabträgerin, der Stab war beim Seiðr von großer Bedeutung. Die Völven waren in der Wikingerzeit Seherinnen, also hellsichtige Frauen. Wenn sie – unter anderem mithilfe des Stabes – Seiðr ausführten, dann konnten sie die Zukunft voraussagen, jemandes Schicksal vorhersehen oder einen Feind verfluchen. Die Göttin Freyja war eine besonders mächtige Völva und – wie Völven insgesamt – bekannt und berüchtigt für ihre großen Verführungskünste.«

Kamille stieß einen Pfiff aus und stupste Kirstine mit dem Ellbogen in die Seite, die daraufhin errötete.

»Jetzt, im zweiten Schulhalbjahr, sollt ihr langsam anfangen, eure praktischen Fertigkeiten zu trainieren. Bisher haben wir uns vor allem auf die Theorie konzentriert, doch nun ist es an der Zeit, dass ihr euch mit der Praxis vertraut macht. Natürlich passiert das nicht von heute auf morgen, daher ist es umso wichtiger, dass wir damit beginnen. Ihr sollt hier und jetzt versuchen, mit der Kraft der Erde in Verbindung zu treten. Dazu nehmt ihr den Völvenstab in die Hand und konzentriert euch. Wer fängt an … Kirstine?«

Kirstine trat zögernd in die Mitte und nahm den Stab, den Thorbjørn ihr hinhielt.

»Sammle dich, bleib ruhig, fokussiere dich auf den Stab und leite deine Kraft in ihn hinein«, wies er sie an.

Einen Augenblick lang stand Kirstine mit geschlossenen Augen da, dann öffnete sie sie wieder und befolgte Thorbjørns Anweisungen mit ernster Miene in höchster Konzentration. Der Wind ergriff ihr Haar, das sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, die Luft um sie herum war energiegeladen.

»Da, der Stab!« Kamille zeigte mit dem Finger darauf und jetzt konnte auch Victoria es sehen. Der Stab veränderte die Farbe, das schwarze Metall wurde orange. Langsam wurde ihr klar, dass er begonnen hatte zu glühen.

Plötzlich ließ Kirstine den Stab keuchend los, und er landete zischend im nassen Gras.

»Großartig, Kirstine! Du hast es wirklich geschafft, dich mit deiner Kraft zu verbinden. Ein ziemlicher Durchbruch, wenn du mich fragst. Wenn du erst einmal verinnerlicht hast, wie sich das anfühlt, dann wird es im Weiteren ein Leichtes für dich sein.« Thorbjørn klopfte Kirstine anerkennend auf die Schulter.

»Wer will als Nächstes?«

»Oje, hast du dir die Hand verbrannt?«, fragte Kamille, als Kirstine zu ihnen zurückkehrte.

»Nein, schau!« Sie hielt ihr die Handfläche entgegen, sodass die Freundinnen deutlich erkannten, dass sie unversehrt war.

»Du bist einfach der Hammer, Kirstine. Du bist echt richtig gut geworden. Man könnte meinen, du wärst verliebt oder so.«

»Wie meinst du das?«, flüsterte Kirstine.

»Aus dem Grund dürfen wir nichts mit den Jungs anfangen. Verliebt zu sein kann sich echt heftig auf die Kräfte auswirken!«

»Würdet ihr euch bitte konzentrieren!«, brummte Thorbjørn. »Wer ist die Nächste?«

Nach der beeindruckenden Leistung von Kirstine waren die Mädchen begierig darauf, es auch zu probieren, doch keine von ihnen hatte einen ähnlichen Erfolg. Victoria hätte am liebsten gepasst, aber Thorbjørn bestand darauf, und so musste sie sich fügen. Nichts passierte, und nach fünf quälenden Minuten entließ er sie mit der Bemerkung, sie solle weiter daran arbeiten, sich mit der Kraft zu verbinden, und die Kontrolle abzugeben. Anschließend sollten sie das Gebiet auf eigene Faust erkunden und sich Notizen für einen Aufsatz über Opferrituale in der Wikingerzeit und jüngeren Eisenzeit machen. Victoria wollte sich allein auf den Weg begeben, doch dieses Mal ließ Kamille sich nicht einfach abschütteln.

»Victoria, warte, lass uns zusammen gehen, ja? Dann können wir kurz reden.« Entschlossen hakte sie sich bei Victoria unter und zog sie mit zum Waldrand hinüber, wo sie allein waren. Malou und Kirstine schlossen sich ihnen an.

»Warum bist du nicht ans Telefon gegangen oder hast auf meine Nachrichten geantwortet?« Malou blickte sie finster an, und Victoria spürte ihre Abneigung zusammen mit dem strömenden Regen auf der Haut prickeln. Sie konnte sie alle spüren. Malous schwelende Wut, Kamilles erdrückende Fürsorge und Kirstines nervöse Angst. Und sie konnte ihnen nicht geben, was sie wollten. Vergebung .

»Was glaubst du, Victoria?«, fragte Kamille. »Hat sich Trine mit dem Angriff gerächt, weil wir den Mord nicht aufgeklärt haben?«

Victoria spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog. »Du darfst niemals den Namen eines Geistes erwähnen!«, zischte sie.

»Okay, okay, wusste ich nicht.« Kamille hielt beschwichtigend die Hände vor sich hin.

»Es erregt seine Aufmerksamkeit«, sagte Victoria, während sie versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich finde nicht, dass wir an diesem Ort darüber reden sollten.«

»Was stimmt denn nicht mit diesem Ort?«, fragte Malou. »Wir versuchen rauszufinden, was mit Anne passiert ist. Aber dir ist sie ja vielleicht egal?« Sie trat einen Schritt näher, ihre Pupillen sahen aus wie schwarze, kleine Steine.

»Es tut mir leid, aber ich kann euch nicht helfen.«

»Was soll das heißen?«, fragte Malou. »Du bist die Einzige, die mit diesem verdammten Geist in Kontakt steht, und wir haben nichts anderes. Die Lehrer können wir nicht mehr fragen, nachdem das mit Anne passiert ist. Du bist unsere einzige Chance, du musst den Geist nach weiteren Hinweisen bitten, wir brauchen eine Spur, irgendwas.«

»Ich kann nicht …«, flüsterte sie. Ich kann nicht, ich will nicht, ich wage es nicht. »Was Anne passiert ist, tut mir leid, es war nicht Trines Schuld.«

»Und wessen Schuld war es?«, Malou blickte ihr trotzig direkt in die Augen. »Was willst du damit sagen?«

Victoria machte einen Schritt zurück und noch einen. Dann drehte sie sich um und ging davon.

Es ist meine Schuld. Ich habe den Geist angezogen. Ich bin es, den er haben wollte.

 

Hey, was geht?

 

Viel los …?

 

Hey, warum antwortest du mir nie? Eigentlich ziemlich unhöflich …

Zu viele Hausaufgaben.

Schülerregel Nummer 2 : Pass auf, dass du nicht zu viele Hausaufgaben machst.

Meinst du, die Lehrer sehen das auch so?

Nee – ist ja auch ne SCHÜLER regel. Eine wichtige. Du darfst das alles nicht so ernst nehmen …

 

Süße …

Hör auf.

… sicher?

 

…?

 

Okay, kapiert. Ich hör auf. Schlechten Tag gehabt?

Neuer Rekord.

Hast du Lust, ne Runde spazieren zu gehen? Frische Luft ist gut fürs Gehirn :-)

Weiß nicht …

Komm schon – in einer halben Stunde – am üblichen Ort?

Ich bin heute keine gute Gesellschaft. Halt besser Abstand.

Ich bin ein großer Junge. Kann schon selbst bestimmen, wer gute Gesellschaft ist ;)

 

Komm schon!

 

Biiiiiiitte …

 

Ich mach so lang weiter, bis du ja sagst.

Seufz … na gut

:-)