20. Januar 11 Uhr 20

Malou

Das winzige Skalpell lag kalt in ihrer Hand. Malou drehte es langsam, sodass das Licht darauf reflektierte. Der Schmerz machte ihr keine Angst, auch nicht der Anblick von Blut. Nein, es war vielmehr so, dass ihr das Gefühl, ein scharfes Messer in der Hand zu halten, Sicherheit gab. War das normal? Also für eine Magierin? Oder war sie ein Freak, so wie ihr Lehrer für Blutmagie, der gerade mal wieder einen seiner Wutanfälle hatte?

»Wir sprechen über den kleinsten Schnitt in einen Finger, den ihr euch überhaupt vorstellen könnt«, grollte Zlavko. »Ein paar Tropfen Blut – wir veranstalten doch hier kein Kettensägen-Massaker! Also seid so gut und behaltet euer lächerliches Geheule für euch. Ihr seid die nächste, vielversprechende Generation von Magiern – keine Versammlung wehleidiger Helikopterkids.«

Malou ließ den Blick durch die Klasse wandern. An den Tischen saßen jeweils zwei Mädchen. Jede von ihnen hatte ein Skalpell und ein Glas mit Wasser bekommen. Jetzt sollten sie sich in einen Finger schneiden und ein paar Blutstropfen in das Wasser fallen lassen. Vor Weihnachten hatten sie damit experimentiert, sich mit einer Nadel in den Finger zu stechen, und selbst das war einigen schwergefallen. Heute sollten sie es das erste Mal mit dem Skalpell versuchen.

Sie beobachtete, wie Kirstine, kreidebleich im Gesicht, das Skalpell auf die Zeigefingerkuppe zuführte, aber offensichtlich konnte sie sich nicht überwinden, sich selbst zu schneiden. Blutmagie war das Fach, das alle am meisten hassten. Auch Malou. Bei ihr lag es allerdings nicht daran, dass es ihr schwerfiel.

»Malou?« Zlavko beugte sich auffordernd über sie. Warum fiel es diesem Typen bloß so wahnsinnig schwer, die Privatsphäre anderer Leute zu respektieren? Sie seufzte tief und führte das Skalpell mit einer schnellen Bewegung über ihren Zeigefinger. Es war so scharf, dass sie den Schnitt kaum spürte. Blut stieg in der kleinen Schnittwunde auf, und sie beeilte sich, es ins Wasser fallen zu lassen. Die Blutstropfen schwebten kurz als kleine, rötliche Wolken im Wasser, bevor sie sich mit ihm verbanden und verschwanden. Enttäuscht betrachtete Malou das Wasser, das genauso aussah wie vorher. Was hatte sie denn bitte erwartet? Irgendetwas auf jeden Fall.

»Umfass das Glas mit beiden Händen.« Zlavko stand so nah hinter ihr, dass sie sein Flüstern an ihrer Wange spürte. Gehorsam schloss sie die Hände um das Glas. Der Finger mit der Schnittwunde hinterließ einen blutigen Abdruck auf der Außenseite.

»Dein Blut ist ein Teil von dir«, wisperte Zlavko. »Du bist ein Teil des Wassers. Es wird dir jetzt folgen. Es wird dich spiegeln. Wie fühlst du dich, Malou?«

Malou schloss die Augen und versuchte, alles zu ignorieren – den Lehrer, der immer noch viel zu dicht bei ihr stand, und die anderen Mädchen, die sich beschwerten, jammerten oder nervös kicherten. Wie fühlte sie sich? Sie fühlte … Wärme? Ja, Zlavkos starrer Blick trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Aber es war nicht nur das. Sie spürte die Hitze, als würde sie von innen her brennen. Warum musste dieser Idiot Zlavko sie auch so quälen? Ohne jeden Zweifel wusste er, dass sie es hasste. Warum hatte ausgerechnet sie eine Begabung für Blutmagie? Warum konnte sie es nicht ein einziges Mal leicht haben? Hatte sie nicht schon genügend Nieten in dieser Scheißlotterie namens Leben gezogen?

Sie spürte, wie das Glas in ihren Händen vibrierte. Als sie die Augen öffnete, konnte sie sehen, wie sich winzige Blasen auf dem Glasboden bildeten, von wo aus sie langsam zur leicht dampfenden Oberfläche aufstiegen. Das Wasser war warm geworden. Erschrocken ließ sie das Glas los.

»Verdammt, Malou!«, polterte Zlavko. Der laute, scharfe Klang seiner Stimme ließ sie zusammenfahren. »Warum hast du aufgehört? Wovor hast du Angst?«

Im selben Moment wurde seine Aufmerksamkeit auf Sofie gelenkt, sie hielt ihre blutige Hand so weit wie möglich von sich weg und sah aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

»Ein kleiner Schnitt, hab ich gesagt!«, schrie er. »Halt die Hand hoch, über Herzhöhe.« Bevor er zu Sofie ging, um die Blutung zu stillen, beugte er sich noch einmal über Malou. »Du verrätst dein Potenzial, Malou. Wir beide müssen uns dringend mal unterhalten. Nach der Stunde bleibst du bitte hier.«

 

»Ich bin von deinen Leistungen sehr enttäuscht.«

Malou antwortete nicht. Aber sie schaute ihm direkt in die Augen. Er sollte bloß nicht glauben, dass sie sich einschüchtern ließe.

»Ich hatte ziemlich hohe Erwartungen an dich.« Ausnahmsweise zeigte sich keine Spur des herablassenden Grinsens auf Zlavkos Gesicht.

Das war doch mega unfair! Hatte es irgendeins der anderen Mädchen geschafft, dass das Wasser reagierte? Nein. Und trotzdem saß ausgerechnet sie hier. Er hatte es immer nur auf sie abgesehen. Der nächste Gedanke schmerzte mehr als der Schnitt mit dem Skalpell: Sie war allerdings auch die Einzige, die zum Blutzweig gehörte.

»Willst du das hier eigentlich? Und falls ja, wovor hast du solche Angst?«

Jetzt senkte sie den Blick doch. Wovor sie Angst hatte? Der Anblick von Blut hatte ihr immer ein flirrendes Gefühl von Kontrolle gegeben, von Macht. Es fühlte sich gut an, und trotzdem hatte sie das Gefühl unterbrochen. Warum? Sie hatte ja bereits Blutmagie angewandt, die weit über ihrem eigentlichen Niveau lag, sie hatte ein verdammtes Leben gerettet. Als vor wenigen Monaten das mit Victoria passiert war, hatte sie nicht gezögert. Sie hatte gewusst, dass ihr Blut die Freundin retten konnte. Es hatte sich völlig natürlich angefühlt. Doch jedes Mal, wenn sich Zlavko über sie beugte, löste sich ihr Selbstvertrauen in Luft auf. Auch jetzt, dabei war es so wichtig, gerade jetzt stark zu sein. Zu ihrem Schrecken bemerkte Malou, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. So eine Scheiße! Reiß dich zusammen!

»Ich weiß genau, warum du nicht so gut bist, wie du sein könntest«, flüsterte Zlavko. »Wie du sein müsstest . Du hast noch immer nicht erkannt, was du bist. Wie alle anderen albernen Mädchen fürchtest du dich vor der dunklen Seite der Magie. Geben zu können. Nehmen zu wagen. Zu opfern. Der Magie des Blutes. Aber du enttäuschst mich, Malou. Ich habe gedacht, du wärst anders. Ich dachte, dir seien die dunklen Seiten des Lebens nicht fremd.«

»Und ich dachte, schwarze Magie sei in Rosenholm verboten.« Malou schaute ihm trotzig ins Gesicht und hoffte, dass ihm nicht auffiel, wie feucht ihre Augen waren.

»Schwarze Magie, weiße Magie.« Zlavko grinste hämisch. »Das sind Begriffe für Leute, die keine Ahnung haben. Die Wirklichkeit ist nicht schwarz oder weiß. Es wird immer eine Mischung sein. Es gibt keine Magier, die nur weiße Magie ausüben. Wer etwas anderes behauptet, ist entweder dumm oder lügt.«

»Und Birgit sieht das auch so?«

Zlavko schnaubte, antwortete aber nicht. Offenbar hatte sie einen Volltreffer gelandet.

»Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, Malou, dann den, dass du dich auf dich und deine Ausbildung konzentrieren solltest, statt dir deinen kleinen Kopf darüber zu zerbrechen, in welchen Dingen ich die Meinung der restlichen Lehrerschaft teile.« Sichtlich verärgert stand Zlavko auf und wies mit dem Kopf Richtung Tür, um ihr zu bedeuten, dass sie entlassen war. »Und außerdem erwarte ich, dass du bis Freitag doppelt so viele Seiten schreibst wie die anderen. Vielleicht macht das manche Dinge für dich klarer.«

Malou marschierte aus dem Raum und warf die Tür hinter sich so heftig ins Schloss, dass es im Flur widerhallte.

So ein fucking Idiot!

Sie lief und nahm nicht richtig wahr, wohin sie unterwegs war. Hauptsache, so weit wie möglich weg von Zlavkos Klassenzimmer. Plötzlich stand sie an einem Ort, den die Schülerinnen und Schüler sonst nie betraten. Aber sie war schon einmal hier gewesen. Am Prüfungstag. Es war der Flur hinter der Bibliothek, in dem die vielen alten Klassenfotos hingen. Malous Augen waren voller Tränen, während ihr Blick über die Schwarz-Weiß-Fotos glitt. Das Schlimmste war, dass er recht hatte. Sie war lange nicht so gut, wie sie es hätte sein sollen. Früher war sie immer Klassenbeste gewesen. Aber nicht in Rosenholm. Und ihr blieb gar nichts anderes übrig, als in kurzer Zeit richtig gut zu werden. Victoria weigerte sich, mit ihnen über Trine zu sprechen, also musste sich Malou um alles allein kümmern. Es war ja schließlich auch ihre Schuld gewesen. Sie hatte die anderen dazu überredet, die Séance abzuhalten.

»Äh, alles in Ordnung bei dir?«

Sie hatte ihn nicht gehört. Wie hatte er es geschafft, sich so lautlos an sie heranzuschleichen? Sie wandte sich ab und wischte sich schnell über die Augen. Warum musste sie ihn ausgerechnet jetzt treffen? Was für ein beschissener Scheißtag! Das Universum war eindeutig nicht auf ihrer Seite.

»Mir geht’s gut.« Malou wischte sich unter den Augen entlang und hoffte, dass ihre Wimperntusche nicht verlaufen war.

Benjamin richtete seinen Blick auf die Bilder an der Wand und tat, als würden die seine Aufmerksamkeit voll und ganz beanspruchen. »Sag mal, bist du öfter hier?«

»Was meinst du damit?«

»Na ja, das ist das zweite Mal, dass wir uns hier begegnen. Okay, genau genommen haben wir uns beim letzten Mal in der Bibliothek getroffen, aber du kamst aus dieser Richtung.«

Malou schüttelte den Kopf. »Nein, ich war seit damals nicht mehr hier.«

»Es ist schon komisch mit all den Schülerinnen und Schülern, die vor uns hier waren. In hundert Jahren stehen womöglich zwei andere Schüler hier im Flur und schauen sich Bilder an, auf denen wir zu sehen sind.«

»Werden nicht immer nur die Abschlussklassen hier aufgehängt? Dann bin ich mir nämlich nicht sicher, ob ich die Ehre haben werde, hier irgendwann mal in einem Rahmen hinter Glas zu hängen.« Eigentlich hatte sie einen Witz machen wollen, aber ihre Stimme klang verbitterter, als sie beabsichtigt hatte.

»Warum sollte es nicht klappen? Wenn man die Dinge hier in Rosenholm zu ernst nimmt, wird man bloß wahnsinnig. Ein bisschen Spaß zu haben, ist auch wichtig.«

Er trat einen Schritt auf sie zu, ließ den Blick aber weiterhin auf die alten Fotografien gerichtet. Er machte sie nervös. Die anderen Mädchen glaubten, dass sie eine Menge Erfahrung mit Jungs hatte, und sie ließ sie in dem Glauben. Aber in Wahrheit war ihr bisher kaum ein Junge nah genug gekommen. Vielleicht hatten sie Angst vor ihr? Benjamin hatte jedenfalls keine.

Er wandte ihr das Gesicht zu. Sie begegnete seinem Blick. Wenn das hier ein Film wäre, hätte er sie jetzt geküsst. Der Gedanke durchfuhr sie, als sich plötzlich eine Tür am Ende des Flurs öffnete.

»Hast du nicht eigentlich etwas anderes zu tun?«

Birgit. Hatte sie sie beobachtet?

Benjamin drehte sich von Malou weg, zum Fenster. Seine Augen zuckten unruhig, als würde er nach etwas suchen.

»Birgit hat recht, ich bin spät dran. Ich muss los.« Ein kleines Lächeln zuckte kurz in seinem Mundwinkel. Ein bitteres Lächeln. War er es leid, dass sie ständig unterbrochen wurden?

»Aber denk an das, was ich gesagt habe«, murmelte er so leise, dass Birgit es nicht hören konnte, »sorg dafür, dass du ab und zu auch ein bisschen Spaß hast.« Er zwinkerte ihr zu, während er sich schon rückwärts durch den Flur entfernte. Erst als Birgit die Tür hinter ihm zumachte, fiel Malou auf, dass Benjamins Schritte auf den alten Holzdielen des Schlosses auch diesmal kein einziges Geräusch gemacht hatten.