29. April 19 Uhr 55
»Ist das nicht zu krass? Ist der Ausschnitt nicht zu tief? Vielleicht hättest du nicht so viel Eyeliner nehmen sollen.«
»Du siehst super aus, jetzt hör schon auf. Und halt still.«
Kamille schloss die Augen und versuchte, geduldig zu warten, während Malou ihre Haare fertig stylte. Sie war schon über eine Stunde zugange, hatte sie geschminkt und ihr Gesicht gepudert, ihre Haare geglättet und geföhnt wie noch nie jemand zuvor.
»Jetzt musst du mir versprechen, Spaß zu haben. Und passt aufeinander auf, klar? Auch wenn Zlavko weg ist, müsst ihr trotzdem vorsichtig sein, man kann nie wissen.«
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass du ihn mitten in der Nacht aufgesucht hast, Malou. Du bist doch völlig verrückt. Überleg mal, was da alles hätte passieren können.«
»Zum Glück ist aber nichts passiert. Und dank Birgit hätte ich mir diesen Ausflug sparen können. Die Hauptsache ist, dass er nicht mehr hier ist. So, jetzt darfst du gucken.«
Malou hatte darauf bestanden, dass sie erst in den Spiegel schauen durfte, wenn sie fertig war, und Kamille fürchtete, dass sie nach allem, was Malou ihr ins Gesicht geschmiert hatte, wie eine Barbie aussehen würde. Langsam öffnete sie die Augen und betrachtete sich in dem Spiegel, den Malou vor ihr in die Höhe hielt.
»Wow«, flüsterte sie. Es war überhaupt nicht zu viel. Die warmen, bräunlichen Nuancen des Lidschattens ließen ihre blauen Augen größer und die Farbe intensiver wirken. Ihre Haut war gleichmäßig und glatt, und ihre Haare schimmerten glänzend. Malou hatte einen Großteil hochgesteckt, während die übrigen Strähnen locker gewellt auf Kamilles Schultern fielen.
»Du kennst dich wirklich mit Magie aus, Malou«.
»Das auch. Aber dies hier verdankst du meinem guten, alten Make-up-Täschchen. Du wirst heute Abend alle anderen in den Schatten stellen!«
Kamille dachte insgeheim, dass sie mit »alle anderen« vor allem Victoria meinte.
»Danke. Was würde ich nur ohne dich machen?«
»Ohne mich wärst du verloren. Und du würdest Gummistiefel tragen. Zieh jetzt deine Schuhe an, du solltest deinen Prinzen nicht zu lange warten lassen. Und jetzt muss ich echt mal aufs Klo!«
Kamille schlüpfte in die Schuhe, die Absätze waren etwas ungewohnt, aber es würde schon gehen. Dann beugte sie sich über ihr Bett und zog das kleine Kästchen unter ihrem Kopfkissen hervor. Kamille umklammerte es mit der Hand und las die Karte zum mindestens fünfundzwanzigsten Mal. Sie hatte auf ihrem Bett gelegen, als sie gestern angekommen war. Bestimmt hatte Molly die Botin gespielt, denn die Jungs durften die Zimmer der Mädchen unter keinen Umständen betreten. Die Handschrift wirkte nicht wie die eines Jungen, sie war so erwachsen, mit schön geschwungenen Buchstaben.
Den Himmel kann ich dir nicht geben, also musst du dich mit diesem kleinen Geschenk begnügen.
(Corny – I know!)
In der Schachtel lag eine Kette. Kamille betrachtete sie genau, während sie nach dem kleinen silbernen Blatt tastete, das schon um ihren Hals hing. Das Zeichen für Natur. Vitus trug genau das gleiche Blatt an einer Lederschnur um seinen Hals. Er hatte ihr tatsächlich Schmuck geschenkt. Es war das erste Mal, dass Kamille so etwas von einem Jungen bekommen hatte, und sie hatte niemandem davon erzählt. Malou und Victoria waren wahrscheinlich daran gewöhnt, Geschenke von Jungs zu erhalten, die völlig verrückt nach ihnen waren, und Kirstine hatte ja einen Freund oder wie immer man das nennen wollte. Aber für Kamille war das hier etwas Besonderes.
Sie hörte Malous energische Schritte aus der Küche und nahm die neue Kette schnell aus dem Kästchen, legte sie sich um und schloss die kleine Öse im Nacken.
»Fertig? Du darfst doch nicht gehen, bevor ich Fotos gemacht hab«, sagte Malou, als sie zurück ins Zimmer kam.
»Malou? Ich wünschte, du könntest auch mit …«
»Ach, Quatsch. Denk bloß dran, mich ein bisschen zu vermissen. Und jetzt lächle für die Kamera! Kirstine und ich haben außerdem viel zu viel zu tun, um uns zu ärgern«, sagte Malou, während sie Kamille ihr Handy beinah ins Gesicht rammte, um eine Nahaufnahme zu schießen.
»Was habt ihr denn vor?«
»Ich hab sie überredet, die Jahrbücher noch einmal durchzugehen. Hört sich das nicht nach einem spannenden Samstagsplan für zwei junge, hübsche Damen an?«
»Mann, Malou, kannst du dir nicht mal einen einzigen Abend freinehmen?«
»Doch, aber nicht den heutigen. Wir haben Trine versprochen, ihr zu helfen, oder etwa nicht? Komm schon!«, sagte sie und zog Kamille mit sich in die Küche.
»Fertig?«
Kamille drehte sich um und entdeckte Victoria, die mitten in der kleinen Küche stand.
»Wahnsinn!«, flüsterte Kamille. Malous Bemühungen, sie so aufzubrezeln, dass sie Victoria überstrahlte, waren vergebens gewesen. Victoria sah wie eine echte Disneyprinzessin aus. Sie trug ein dunkelrotes Ballkleid mit einem ärmellosen, engen Mieder, das ihre schlanke Figur und schmale Taille hervorhob. Der Rock breitete sich in perfekter A-Form bis zum Boden aus. Victorias Haut war schneeweiß und makellos, ihre beinahe schwarzen Haare fielen weich nach hinten. Nur eine Silberspange in Blattform und mit glitzernden Steinen besetzt, blitzte in den dunklen Locken auf, ansonsten trug sie keinen Schmuck. Auch ihr Make-up war einfach, ihre großen, dunkelbraunen Augen hatte sie nur minimal hervorgehoben, und ihre Lippen schimmerten pfirsichfarben.
»Du siehst unglaublich aus«, sagte Kamille, und Victoria zeigte ein Lächeln, das jedoch nicht ihre hübschen Augen erreichte.
»Danke«, sagte sie und umarmte Kamille vorsichtig, um ihr Make-up nicht zu verwischen. »Das Kleid steht dir richtig gut.«
»Hey, wartet mal, ihr könnt noch nicht gehen«, sagte Kirstine aus ihrem Zimmer. »Nicht, bevor ich euch nicht gesehen habe. – Seid ihr hübsch! Habt ihr eure Handys?«
»Yes!«
»Akkus geladen?«
»Aber so was von«, versicherte Kamille.
»Verliert euch gegenseitig nicht aus den Augen«, ergänzte Malou. »Ruft an, wenn was sein sollte. Wir bleiben in der Nähe.«
»Und Jakob ist ja auch da«, sagte Kirstine.
»Ja, wenn ihr meint, dass wir auf einen Lehrer setzen sollten, der Schülerinnen verführt«, kommentierte Malou.
»Er hatte keine Wahl«, sagte Kirstine. »Ich hab nämlich ihn verführt.«
»Ey, Kirstine!«, gluckste Kamille überrascht. »Malou hatte recht, du bist wirklich schamlos!«
Kirstine zuckte nur mit den Schultern.
»Also, wollen wir?«, wandte sich Kamille an Victoria.
»Ja, ich will nur noch eben … Malou? Es tut mir leid, dass ich dir das mit Benjamin nicht erzählt hab. Das war ziemlich dumm von mir.«
Malou stand mit überkreuzten Armen im Türrahmen zu ihrem Zimmer. Kamille hielt den Atem an. Komm schon, Malou!
»Okay, passt schon«, sagte sie kurz angebunden.
»Wow, ich bin stolz auf dich!«, flüsterte Kamille und umarmte sie heftig.
»Pass auf deine Haare auf«, schimpfte Malou, während sie den Kopf über die Freundin schüttelte. »Und jetzt ab mit euch.«
Heute Abend blühen die Violen. Nach dieser Nacht werden wir uns nie wieder trennen.