29. April 21 Uhr 45

Kirstine

Kirstine lief die menschenleeren Gänge entlang, das Handy fest umklammert. Weder Victoria noch Kamille gingen ran. Das musste nicht heißen, dass ihnen etwas zugestoßen war, wahrscheinlich hörten sie durch die laute Musik einfach nur den Klingelton nicht.

Bitte, lass mich Jakob direkt finden, flehte sie im Stillen, während sie die Treppe zum Festsaal hinunterrannte. Sie war so außer Puste, dass sie befürchtete, ohnmächtig zu werden, ehe sie den Saal erreichte. Am Fuß der Treppe angelangt, sah sie die großen Flügeltüren in den Festsaal hinein. Dort stand er, Jakob, aber er war nicht allein. Jens leistete ihm Gesellschaft. Das letzte Stück lief Kirstine unter heftigem Seitenstechen.

»Kirstine, was ist los?«, fragte Jakob.

»Ihr müsst … Sie müssen den Ball abbrechen«, keuchte sie. »Victoria ist in Gefahr. Er wird sie womöglich umbringen!«

»Was redest du da?«, fragte Jens.

»Sie müssen den Ball abbrechen. Er wird heute Abend zuschlagen. Seht doch!« Kirstine hielt ihnen das Handy unter die Nase und stellte den Bildschirm auf maximale Helligkeit ein, damit sie die Katze, das Blut und die Nachricht erkennen konnten.

Jens zog eine Lesebrille aus der Hosentasche und sah sich den Bildschirm sorgfältig an.

»Sieht aus wie ein nicht genehmigtes Opferritual«, sagte er zu Jakob und reichte ihm das Telefon. »Hör mal, was meinst du damit, jemand will Victoria umbringen?«

»1989 «, sagte Kirstine, »1989 wurde ein Mädchen an der Schule ermordet. Und jetzt gibt es jemanden, der es wieder tun will. Und dieser Jemand ist vielleicht Benjamin.«

»Benjamin?!? Kirstine …« Jakob betrachtete sie voller Unglauben.

In dem Augenblick ging die Tür auf und Birgit kam ihnen entgegen.

»Ich brauche nur eben eine kurze Pause, Jens, übernimmst du so lange für mich … Huch, was ist denn hier los?«

Jens und Jakob sahen sich schweigend an.

»Sie müssen den Ball abbrechen!«, wiederholte Kirstine verzweifelt.

»Ja, anscheinend hat jemand oben auf einem der Flure ein unerlaubtes Opferritual durchgeführt«, sagte Jens und zeigte ihr das Handy.

»Das ist ja abscheulich«, sagte Birgit. »Und vollkommen inakzeptabel.«

»Ja, und das macht einigen Schülern Angst. Aber alles andere verstehe ich auch nicht.«

»Sie sind alle in Gefahr«, versuchte es Kirstine erneut. »Irgendwer will versuchen, eine Schülerin zu töten. Vielleicht ist es Benjamin. Wir müssen Victoria warnen, sie ist mit ihm hier!«

»Victoria? Nein, jetzt redest du wirklich Unsinn, Kirstine.«

»Jemand hat Anne angegriffen, und jetzt sucht er nach einem neuen Opfer. Wir denken, dass es Benjamin sein könnte, weil … weil er ein Gestaltwandler ist.« Der letzte Teil drohte in einer Mischung aus einem Wimmern und einem Schluchzen unterzugehen. Konnten sie ihr nicht einfach glauben?

Birgit riss die Augen auf und sah zu Jens, der ihren Blick vielsagend erwiderte.

»Hör mal, du bist ja vollkommen außer dir«, sagte Birgit und legte einen Arm um Kirstine. »Aber die Fantasie geht mit dir durch. Vor weniger als einer Minute habe ich Victoria mit eigenen Augen gesehen. Sie hat gemeinsam mit den anderen Schülerinnen und Schülern Walzer getanzt, und das – wie ich sagen muss – ziemlich beeindruckend und in bester Feierlaune. Sie war ganz sicher nicht in Gefahr und amüsierte sich offensichtlich prächtig. Deiner Freundin geht es gut, und ich kann dir garantieren, dass Benjamin – was auch immer er sein mag oder nicht – vollkommen harmlos ist.« Birgit tätschelte ein wenig geistesabwesend Kirstines Arm. »Ab und zu kommen hier solche Dinge leider vor. Es erinnert mich an einen plumpen Versuch, einen Liebeszauber durchzuführen. Und jetzt ab ins Bett. Morgen werden wir das Ganze noch einmal besprechen, aber in der Zwischenzeit kannst du ganz beruhigt sein. Das gesamte Kollegium trägt dafür Sorge, dass weder dir noch Victoria etwas zustößt.« Birgit verpasste Kirstine einen leichten Schubs in den Rücken, wie um sie wegzuschicken.

Kirstine machte ein paar Schritte auf die Treppe zu. All das, was Birgit sagte, ergab Sinn. Alles außer …

»Genauso, wie Sie auf Anne aufgepasst haben?«, fragte sie und drehte sich wieder zu ihnen um.

»Was meinst du damit?«, fragte Birgit, aus deren Stimme jegliche Fürsorge gewichen war.

»Anne wurde angegriffen. Während die Lehrer in der Schule waren. Vor Ihren Augen wurde sie für irgendein krankes Ritual missbraucht. Sie können es sich nicht leisten, die Sache nicht ernst zu nehmen.«

»Wie kommst du darauf?«, keifte Birgit. »Anne war von einem Geist besessen. Das ist äußerst tragisch, aber es war ihre eigene Schuld. Wir können beim besten Willen nicht verhindern, dass sich Schülerinnen und Schüler idiotisch verhalten.«

Kirstine konnte Jakobs Blick spüren.

Als sie diesen erwiderte, sah er sie durchdringend an und schüttelte langsam den Kopf, als wolle er sie daran hindern, noch ein einziges Wort zu sagen. Doch Kirstine riss sich los und richtete ihren Blick stattdessen auf Birgit.

»Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Und Lisa tut das auch nicht. Sie sagt, Annes Wunden sahen aus, als seien sie von einem Tier verursacht worden. Durch Krallen. Wie die einer Katze. Ein Gestaltwandler hat Krallen, oder etwa nicht?«

»Und woher hast du das?« Birgits Stimme klang kontrolliert, doch große, rote Flecken an ihrem Hals verrieten, wie wütend sie war.

Kirstines Augen huschten zwischen Birgits bohrendem Blick und Jakob hin und her, der sein Gesicht von ihr abwandte.

Birgit starrte sie an, dann richtete auch sie den Blick auf Jakob.

»Du?!? Hast du ihr das erzählt? Einer Schülerin? Aber …«

Birgit blinzelte ein paar Mal und sah aus, als wolle sie noch etwas sagen, schluckte die restlichen Worte jedoch hinunter. Auch Jakob sagte keinen Ton. Birgit nahm einen tiefen Atemzug. »Jetzt gehst du auf dein Zimmer. Ich will heute Abend keinen Unsinn mehr von dir hören. Jakob, wir unterhalten uns später, jetzt gehst du erst einmal mit mir nach oben und suchst diese Katze, damit wir herausfinden, wer das getan hat. Jens, du bleibst hier an der Tür. Lass niemanden rein, bis ich zurück bin, okay?«

Birgit wartete nicht auf eine Antwort, sondern hastete davon, dicht gefolgt von Jakob. Der Blick, den er Kirstine im Vorbeigehen zuwarf, schmerzte mehr als ein Schlag ins Gesicht.

 

Wo bist du?

Da, wo die Klassenbilder hängen.

Bleib da, ich komm runter!