Kapitel 1
Alice zog die Nikolausmütze zurück, die ihr immer wieder über die Augenbrauen rutschte. Sie hasste und liebte dieses Teil, es kratzte und war zu groß, aber es brachte sie auch in Weihnachtsstimmung. Die Frau vor ihr nahm das Päckchen, in dem zwei rosafarbene Busen-Pantoffeln steckten.
»Vielen Dank für die nette Beratung.«
Nachdem sie sich jeweils gegenseitig ein frohes Fest gewünscht hatten, verließ die Kundin mit flotten Schritten die Toy Box
. Zufrieden und etwas erschöpft atmete Alice durch. Das Geschäft boomte kurz vor Heiligabend, das ließ die Umsätze steigen, war aber auch anstrengend … Gegen ein paar kundenfreie Minuten hätte sie nun nichts einzuwenden. Sie setzte sich hinter den Verkaufstresen und nahm spielerisch eine der neuen Bauchtänzer-Puppen zur Hand, die eine rote Zipfelmütze, ein rotes Oberteil und einen roten Glitzerrock trugen. Albern waren die, aber sie liefen derzeit recht gut. Wenn man auf ihren Stoffbauch drückte, begann sie mit den Hüften zu kreisen und Jingle Bells
zu singen.
Alice drückte, stellte die Puppe auf den Tresen und die legte gleich los. Ihre Stimme quietschte grell: »Jingle bells, jingle bells, jingle all the way …« Dazu schwang sie ruckartig ihren Po hin und her. Erotisch war das nicht, aber doch ein wenig drollig. Wenn nur der Gesang nicht so schrecklich klingen würde …
In dem Moment ertönte die Türklingel und Alice blickte von der quäkenden und zuckenden Puppe auf den Eingang des Erotik-Ladens. Eine schlanke, elegant gekleidete Frau mit langem
schwarzem Haar kam auf sie zu. Doch halt … Moment mal … diese strahlenden blauen Augen, dieser fein geschwungene Mund, dieses ebenmäßige, klassisch schöne Gesicht, das kleine Muttermal auf der rechten Wange … Sie kannte diese Frau. Das war … das war …
»Alice!«, rief die Frau. »Du bist es doch, oder? Natürlich bist du es! Wie schön, dich zu sehen!«
Alice blinzelte ungläubig und war einen Moment wie in Trance. Mit tauben Beinen stand sie auf.
Im nächsten Moment spürte sie, wie sich zwei Arme um sie schlangen. Ihr Gesicht versank in schwarzem, leicht nach Kokos duftendem Haar und ein weicher, fester Busen drückte sich gegen den ihren.
»Joanna«, flüsterte sie.
Dann war die kurze, herzliche Umarmung schon wieder vorbei. Joanna stand in ihrer fast unwirklichen Pracht vor ihr und erfüllte den ganzen Erotik-Shop mit ihrer magischen Aura. Sie sah fast genauso aus wie damals, wenn nicht gar noch attraktiver. Die Haare trug sie jetzt etwas länger und leicht gewellt, während ihre blauen Augen eine Spur heller zu funkeln schienen als früher. Dieses lebhafte Strahlen, dieser funkelnde, freche Blick hatten Alice schon immer in ihren Bann gezogen. Joannas Augen ähnelten denen einer Katze, verliefen leicht schräg nach oben und wirkten stets aufmerksam und wach, konnten zugleich aber auch ungemein sanft und schmeichelnd dreinblicken. Ihr dezentes Make-up und die hohen Wangenknochen verstärkten diesen Katzenaugen-Effekt zusätzlich.
»Mensch, Alice! Dass ich dich mal wiedersehe!«
Ihre samtig-warme Stimme. Wie sie die geliebt hatte.
»So ein schöner Zufall. Sag, was machst du hier?«, fragte Joanna.
Alice schluckte. Noch immer fühlte sie ihre Beine kaum. Zudem hämmerte ihr Herz so schnell, dass ihr davon schwindlig wurde. Sie blickte von der singenden Bauchtänzerpuppe auf Joanna und hoffte, dass das affige Spielzeug endlich Ruhe geben würde. »Nun, ja … also, ich arbeite hier.«
»So? Gehört dir der Laden?«
»Nein, nein, der gehört mir nicht. Bin nur hier angestellt.«
»Ach, wirklich?«, bemerkte Joanna erstaunt. »Du arbeitest als Verkäuferin in einem Erotik-Laden? Ich dachte, du wolltest Journalistin werden oder Redakteurin bei einer Zeitung?«
Alice’ Kopf war leer, ihr Mund bewegte sich wie von allein. »Will ich auch. Aber bis es soweit ist, arbeite ich eben hier.«
Im nächsten Moment erwachte ihr Verstand wieder. So ein Quatsch! Was fasele ich da? Als würde mir jeden Moment die große Karrierechance in den Schoß fallen!
Immerhin war die Bauchtänzerin vor ihr jetzt still, dafür rutschte ihre eigene Nikolausmütze schon wieder nach vorne …
»Ah so«, erwiderte Joanna und lächelte. »Dann ist das hier also nur vorübergehend. Verstehe.«
»Na ja.« Hektisch zupfte Alice die Mütze zurecht. »Hm, kann sein. Und was machst du im Moment?«
»Ich bin Cheflektorin beim Gallus-Verlag.«
Alice’ Augen wurden groß. »Wow! Das ist super. Ist inzwischen der größte Verlag der Stadt.«
»Stimmt, besser hätte es fast nicht laufen können.«
Alice atmete tief durch. »Ja, das ist wirklich fabelhaft. Da hast du echt einen Volltreffer gelandet. Hast du nach der Uni dort angefangen?«
»Ja, das ging ratzfatz mit der Stelle. Da hatte ich Glück. Na ja, und es war vielleicht hilfreich, dass ein Bekannter von mir im Gallus-Verlag arbeitet und da ein bisschen mitgeholfen hat.
Vitamin B, du weißt schon. Und bei dir? Was hast du die letzten acht Jahre so getrieben?«
Verlegen blickte Alice zur Seite. Was sollte sie antworten? Die Wahrheit war: Nachdem sie nach dem Germanistikstudium keine Stelle gefunden hatte, war sie einfach in der Toy Box
hängengeblieben, dem Laden, in dem sie schon während des Studiums gejobbt hatte. In ihrer Freizeit versuchte sie sich immer wieder als Schriftstellerin, bisher aber ohne jeden Erfolg. Das zu sagen, würde doch ziemlich armselig klingen …
»Nun, dies und das. Ich schreibe auch hin und wieder. Hier zu arbeiten kann sehr inspirierend sein. Man kommt mit unterschiedlichen Menschen in Kontakt und kann einiges über deren Sehnsüchte und Wünsche erfahren.« Das war gut,
lobte sie sich gedanklich selbst und damit Joanna keine Chance hatte nachzubohren, legte sie gleich nach. »Was kann ich denn für dich tun? Willst du ein Weihnachtsgeschenk kaufen?«
»Oh ja.« Joanna schmunzelte. »Eigentlich brauche ich ein Geschenk für Manni, meinen Verlobten. Aber ich glaube, er freut sich am meisten, wenn ich was Hübsches für mich kaufe, das ich ihm dann vorführen kann. Hast du vielleicht einen schönen Body, transparent mit etwas Spitze?«
Alice spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie nickte steif.
»Na klar, ich zeige dir unsere Auswahl. Komm mit!«
Sie führte Joanna zum Kleiderständer auf der linken Seite des Geschäftes. Dort hingen Bodys, BHs und Slips, oft in schwarz und rot, zum Teil auch in zarteren Farben, mal mit Spitze, mal ohne, meist in leichtem, fast durchsichtigem Stoff, nach dem Prinzip »Ein edler Hauch von Nichts«. Dahinter befanden sich die Lack Dessous für den deftigeren Geschmack. Interessiert betrachtete Joanna die vordere Auswahl, nahm einen BH heraus, strich sanft über den schwarzen Stoff.
»Schau dich gern in Ruhe um. Vorne rechts ist eine
Umkleidekabine, wenn du etwas anprobieren möchtest.«
Joanna schnappte sich einen Body und einen BH mit passendem String-Tanga und rief: »Die Teile sehen ja reizend aus! Ich schlüpfe gleich mal hinein.«
»Ja klar«, hörte Alice sich sagen, während ihre Füße fest am Boden klebten. Sie sah Joanna regungslos nach, als diese in der Umkleidekabine verschwand. Hoffentlich will sie keine weitere Beratung,
dachte sie.
In diesem Moment erklang die Türklingel und eine kleine, füllige Frau betrat das Geschäft. Alice stürzte sofort auf sie zu.
»Guten Abend. Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Oh nein«, meinte die Kundin. »Ich will mich nur umsehen. Danke.«
Mist!
Da hörte sie schon Joannas Stimme:
»Alice? Kommst du bitte mal?«
Mechanisch bewegte sie sich auf die Umkleidekabine zu. Ihr Herz pochte bis hoch zu ihren Ohren. Sie sah auf den schwarzen Vorhang der Kabine, der nun ruckartig zur Seite gezogen wurde. Dahinter erstrahlte Joannas Gestalt in dem hauchdünnen Body. Alice’ Herz, das zuvor noch aufgeregt getrommelt hatte, schien nun komplett auszusetzen. Alles in ihr schien stillzustehen, jede Körperfunktion streikte, außer den Augen. Die sahen alles ganz genau. Und das war unbeschreiblich heiß und erregend. Joannas Körper war wie ein umwerfendes Kunstwerk, ein formvollendetes Gedicht. Ihre Haut straff und leicht gebräunt, ihre Brüste herrlich rund und prall, ihr Bauch sinnlich flach, ihre Hüften schmal und sanft gerundet, ihre Beine lang und schlank.
Da der Stoff größtenteils transparent und nur an den Brüsten und unten teilweise mit einem blickdichten Muster durchsetzt war, sah sie Joannas kleine feine Brustwarzen durchschimmern.
Ebenso offenbarte sich ihr, dass Joanna noch ihr silbernes Bauchnabelpiercing von damals trug. Zudem entdeckte sie ein kleines, feines Tattoo in ihrer Leistengegend – das war neu. Es war ein Schriftzug, aber was dort stand, konnte Alice von ihrer Position aus nicht erkennen. Sie verharrte stumm starrend, bis sie den Schluckreflex verspürte. Anscheinend hatte sich Speichel in ihrem Mund angesammelt.
»Und, was sagst du?«, erklang nun Joannas samtige Stimme. »Passt die Größe? Ist er obenrum nicht etwas zu eng?«
»Hübsch. Sehr hübsch. Nein, er ist nicht zu eng. Wenn er bequem ist?«
»Ja, ist er. Also gut – dann nehme ich ihn. Aber ich probiere auch noch den BH und den Tanga an.«
»Okay.«
Der Vorhang wurde wieder zugezogen und Alice spürte endlich ihren Herzschlag wieder, allerdings so wild und ungestüm, dass ihr fast schwindlig wurde. Warum macht Joanna das?,
schoss es ihr durch den Kopf. Warum rekelt sie sich in knappen Dessous vor mir?
Will sie mich in Verlegenheit bringen?
In dem Moment steckte Joanna den Kopf durch den Vorhang.
»Alice? Ich werde auch den BH und den String nehmen. Es ist aber so wenig Stoff, dass ich mich darin fast nackt fühle. Ich zieh mich wieder an und komme raus.« Sie lächelte und zwinkerte ihr zu.
»Kein Problem.«
Mit weichen Knien entfernte sich Alice von der Umkleide, lehnte sich gegen den Verkaufstresen und sah sich um. Die mollige Kundin war verschwunden. Anscheinend hatte sie nichts Passendes gefunden oder tatsächlich nur ein wenig stöbern wollen. Alice schob nervös ihre alberne Mütze nach oben und wartete auf Joanna. Joanna, die nun doch ein wenig
Schamgefühl gezeigt hatte. Oder war ihr aufgefallen, wie unwohl sie sich beim Betrachten ihrer nur spärlich verhüllten Schönheit gefühlt hatte?
Vollständig bekleidet trat sie nun aus der Kabine, sah sich kurz um, entdeckte Alice, kam auf sie zu und sie legte die Dessous auf den Tresen.
»Sag mal, hast du vielleicht noch ein duftendes Massageöl? Oder noch besser, Body-Painting-Farbe? Vielleicht sogar mit Geschmack? Manni ist so herrlich verspielt und nascht so gerne.«
»Mhm. Ich habe Body-Painting-Farbe mit Erdbeer- und Pfirsichgeschmack.«
»Oh, Erdbeergeschmack wäre toll! Ich bin mir sicher, das wird ihm gefallen. Body Painting beim Liebesakt.«
Zu viel Information,
dachte Alice und versuchte, ihr souveränes Lächeln beizubehalten. Doch ihr Herz hämmerte und ihre Gedanken machten Überstunden. Was sie mit ihrem verspielten, Erdbeerfarbe naschenden Manni im Schlafzimmer oder sonst wo machte, wollte sie nicht wissen – nicht von Joanna – am allerwenigsten von ihr! Jeder andere Kunde und jede andere Kundin hätte ihr noch weitaus mehr erzählen können, denn prüde und genierlich war sie keinesfalls. Schon grundsätzlich nicht und erst recht nicht nach zehn Jahren Verkaufserfahrung in der Toy-Box
. Aber Joannas Sexleben – daran wollte sie nicht denken. Das wollte sie sich nicht vorstellen. Nicht nach dieser einen Sache, damals … nach dieser einen Nacht. Die für Alice so unglaublich viel und für Joanna so bedauerlich wenig bedeutet hatte …
Schluss damit! Sie sollte lieber zusehen, dass sie ihre alte Flamme loswurde. Grübeln konnte sie später noch genug.
Alice ging zielsicher zu dem Regal mit den Ölen, Badezusätzen und Körperfarben und brachte eine hellrote Tube mit, die sie neben die Dessous auf den Tresen legte.
»Ist das alles?«, fragte sie gezwungen freundlich. »Oder hast du noch einen Wunsch?«
»Oh nein – danke. Das ist genug.«
»Soll ich dir das als Geschenk einpacken?«
»Ach, das ist nicht nötig. Das Body Painting will ich am liebsten noch heute ausprobieren. Und die Dessous, die verpack ich dann selbst. Du weißt schon.« Sie grinste keck.
Alice holte tief Luft. Was sollte das? Wollte Joanna sie immerzu reizen? Falls ja, so gelang es ihr ausgezeichnet. Ihre Wangen und ihre Ohren glühten wie heiße Kohlen. Eilig scannte sie die Ware. Sie räusperte sich und hoffte, dass ihr Lächeln jetzt nicht völlig aus der Form gerutscht war.
»Alles klar. Dann bekomme ich bitte neunundsechzig Euro neunzig.«
Joanna zahlte und Alice gab ihr das Wechselgeld zurück, steckte die Dessous und die Tube in eine Tüte und überreichte sie Joanna.
»Danke.« Joanna holte eine kleine Karte aus ihrem Geldbeutel hervor. »Hier«, sagte sie mit einem bezaubernden Strahlen, während ihre Katzenaugen hell funkelten. »Meine Visitenkarte. Nimm die bitte, Alice. Und melde dich mal bei mir, ja? Wir müssen uns unbedingt wiedersehen. Es gibt sicher viel zu erzählen.«
Alice nahm die Karte entgegen, dabei berührte sie für einen kurzen Moment Joannas Fingerspitzen. Ein kleiner Funke schoss von ihren Fingern den gesamten Arm hinauf. »Ähm, ja«, murmelte sie heiser. »Okay.« Sie legte die Karte auf den Kassentisch, ihre Hand zitterte leicht.
»Sicher?«, fragte Joanna und zwinkerte ihr vertraulich zu. »Versprochen? Du rufst mich bald an oder schreibst mir?«
Alice verschränkte Mittel- und Zeigefinger ihrer linken Hand,
die momentan unter dem Kassentisch versteckt war und versuchte weiterhin, unbefangen zu lächeln.
»Ja klar, versprochen.«
»Na dann, bis bald, Süße«, sagte Joanna leichthin. »Frohe Weihnachten. Wir sehen uns. Ach, übrigens, die Mütze steht dir gut.« Sie lächelte spitzbübisch, drehte sich um und verließ schwungvoll den Laden.
Alice atmete tief durch und ließ sich auf den kleinen Hocker hinter der Kasse plumpsen. Langsam normalisierte sich ihr Herzschlag, doch ihr Kopf war ganz taub und erschöpft. Bis bald Süße – von wegen!
Ganz sicher nicht, ich werde bestimmt nie …
Doch länger konnte sie diesen Gedanken nicht weiterspinnen, denn schon betrat eine weitere Kundin, eine rothaarige Frau mittleren Alters, den Shop und steuerte direkt auf sie zu.
»Hallo«, grüßte Alice freundlich und erhob sich. »Kann ich Ihnen helfen?«
Bis zwanzig Uhr abends war in dem kleinen Laden fast nonstop Betrieb, bis Alice ihn pünktlich schloss. Nach der täglichen Kassenabrechnung und einigen Aufräumarbeiten verließ sie die Toy Box
eine halbe Stunde später. Als sie bei eisigen Temperaturen im leichten Schneegestöber zur U-Bahn ging, kamen die Gedanken an Joanna in vollem Umfang zurück. Ihr Herz schlug gleich etwas schneller, ihr Magen verkrampfte sich leicht und hie und da fühlte sie den schmerzhaften Stich einer nicht verheilten Wunde.
Alice’ Weg von der Arbeit nach Hause dauerte gut eine viertel Stunde. Sie ging von der Toy Box
zu Fuß zum Ostbahnhof, stieg dort in die Bahn und fuhr etwa zehn Minuten bis zur Station
Neuperlach Zentrum. Während der Fahrt hörte sie fast immer Musik. Zurzeit hatte sie ihre Chopin-Phase. Sie liebte Klassik, insbesondere ruhige und verträumte Klavierstücke. Chopins Frühlingswalzer zum Beispiel, davon konnte sie nie genug bekommen. Gerade jetzt in dieser kalten, dunklen Winterzeit taten ihr die zarten und weichen Klänge gut, ließen sie an Sonnenschein, blauen Himmel und duftende Gräser denken… Meist schloss Alice beim Tagträumen die Augen, blendete dabei ihre Umgebung völlig aus und ersann schöne Orte, schöne Begegnungen und oft auch schöne Frauen.
An diesem Abend dachte sie ebenfalls an eine wunderschöne Frau, aber ihre Stimmung war dabei alles andere als sommerleicht und beschwingt. Szenen von früher tauchten vor ihrem inneren Auge auf, fröhliche Begrüßungen vor der Uni, kurze, herzliche Umarmungen, Joannas Lachen, entspanntes Herumliegen im Park – Seite an Seite mit Joanna, Joanna ihr gegenüber in der Mensa … Schöne Momente waren das gewesen, wundervolle Szenen und bezaubernde Bilder in ihrem Kopf, doch jetzt waren all diese Erinnerungen mit kleinen schmerzenden Pfeilen gespickt, die sich unter ihrer Haut bis in ihr Innerstes bohrten.
Zugleich macht sich eine Schwere in Alice breit, die sie förmlich in den Sitz drückte. Sie wollte nicht über Joanna nachdenken, doch ihre Fantasie ließ sich nicht zügeln. Ihr gelang es nicht, die Szene dieser einen Nacht in ihrem Kopf zu unterdrücken, beginnend mit diesem Moment, in dem Joanna Alice’ Gesicht in beide Hände genommen und sie sanft auf den Mund geküsst hatte …
Sie öffnete die Augen und atmete tief durch. Nein, stopp! Sofort aufhören! Zurück in die Realität. Wo war sie? Sie blickte auf die Anzeigetafel. Michaelibad, es lagen noch zwei Stationen vor ihr. Wenig später hatte sie ihr Ziel erreicht und stieg aus der U-Bahn.
Von hier aus waren es noch einige Minuten zu Fuß bis zum Karl-Marx-Ring 120. Dort wohnte Alice in einer WG mit Franzi und Olga. Sie hatten zusammen eine Fünfzimmerwohnung in einem hautfarbenen Hochhausbunker im neunten Stock gemietet, umgeben von weiteren hautfarbenen Hochhausbunkern. Typisch Neuperlach eben. Viel Beton, wenig Grün – billig wohnen in einer Trabantenstadt. Schön war in den Augen der meisten Menschen etwas anderes. Aber Alice war mittlerweile daran gewöhnt und hatte sich fast schon mit dem Anblick versöhnt. Nachdem sie alle drei keine Großverdiener waren und so schnell wohl auch nicht werden würden, war die gemeinsame Bleibe eine passable Lösung. Immerhin hatten sie alles in unmittelbarer Nähe, was man so brauchte: Supermarkt, Bäcker, Apotheke … und sogar ein chinesisches Restaurant, eine Filiale einer amerikanischen Fastfood – Kette- und einen Dönerladen gleich in der Nähe der U-Bahnstation. Dort konnte man sich auch am späten Abend schnell etwas zum Essen holen, wenn man zu faul zum Kochen war oder schlichtweg vergessen hatte, einzukaufen, was ihr relativ häufig passierte. Alice beschloss, einen Abstecher in das Fastfood-Lokal zu machen, holte sich zwei Burger und machte sich zügig auf den Heimweg.
Wenig später stand sie mit ihrer braunen Papiertüte vor der Wohnungstür und fahndete nach dem Schlüssel in ihrer Handtasche. Sie fand ihn ganz unten, etwas unterhalb von Tempotaschentüchern und Notizblock, irgendwo zwischen Lippenstift, zwei Kastanien, die sie im Herbst bei einem Spaziergang im Ostpark eingesteckt hatte, diversen Kugelschreibern, einem Lolly und einem Päckchen Kaugummi. Typisch Frauenhandtasche
, dachte Alice.
Sie sperrte auf, betrat den kleinen Flur und schlüpfte aus ihren braunen Stiefeln hinein in ihre gelben Plüschpantoffeln. Dann hängte sie hastig Mantel und Schal an die Garderobe. Beides
rutschte wieder herunter und Alice benötigte einen zweiten Anlauf, bis die beiden Stücke an einem der überfüllten Haken hängen blieben. Auf dem Weg in die Küche stolperte sie über ihre Stiefel, konnte einen Sturz gerade noch vermeiden.
Was für ein Tag! Hoffentlich passierte jetzt nichts Blödes mehr, hoffentlich war jetzt endlich Ruhe. Schön wäre, wenn sie die Küche für sich allein hätte, nach einem Geplauder mit Franzi und Olga stand ihr nicht der Sinn. Meistens freute sie sich am Feierabend auf ein Gespräch mit ihnen, aber heute, nach diesem anstrengenden Arbeitstag und vor allem nach dieser aufwühlenden Begegnung mit Joanna, wollte sie lieber ihre Ruhe haben. Notfalls konnte sie ihr Essen auch zu sich ins Zimmer mitnehmen. Nur etwas zu trinken bräuchte sie schon noch …
Sie öffnete die Küchentür. Keiner hier. Gut. Sie stellte die Tüte auf dem kleinen Esstisch ab, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Ganz automatisch schickte sie einen liebevollen Blick zu der weißen Box im untersten Fach. Xaver, ihre kleine Moschusschildkröte, hielt dort seinen Winterschlaf. Alice freute sich schon darauf, ihn in zwei Monaten wieder in sein Aquarium setzen und ihm bei seinen niedlichen Paddelbewegungen beobachten zu können. Aber im Moment brauchte der Kleine Kälte und Schlaf. Ihr Blick schweifte von Xavers Winterrefugium zu der halb vollen Flasche Apfelschorle, die im Getränkefach stand. Sie setzte sich damit an den Esstisch, öffnete sie die Tüte und griff nach dem ersten Burger. Lecker! Zwar ungesund und fettig, aber manchmal brauchte sie genau das. Alice kaute genüsslich und entspannte sich ein wenig, als das warme Essen in ihrem leeren Magen ankam.
Doch kaum hatte sie den zweiten Burger ausgepackt, wurde die Tür geöffnet.
Ein ungleicheres Paar als Franzi und Olga gab es wohl selten. Während Franzi fast eins achtzig, sportlich und resolut war, war
Olga winzig, unglaublich zart und feminin. Franzi hatte kurzes dunkelbraunes Haar, Olga hingegen lange blonde Locken. Franzi trug gerne karierte Hemden, dunkle Pullover und im Sommer auch Muscle-Shirts und dazu Jeans, während Olga immer sehr fein in pastellfarbenen Blusen, Stoffhosen oder Röcken gekleidet war. Franzi verzichtete auf jederlei Schmuck, Olga hingegen trug gerne glitzernde Haarspangen und auffallende Broschen. Olga war überhaupt der einzige Mensch, den Alice kannte, der noch Broschen trug. Heute zierte ein glitzernder grüner Frosch ihre roséfarbene Bluse. Franzi hingegen steckte in einem schlichten schwarzen Pullover und in einer blauen Jeans.
»Hi, Alice!«, rief Franzi und setzte sich zu ihr an den Tisch.
Olga ging zum Wasserkocher, der neben der Spüle stand. »Ich mache Tee für uns. Willst du auch einen, Alice?«
»Nein, danke.«
Olga schaltete den Kocher ein und stellte eine Kanne mit Teebeuteln bereit. Dann nahm sie neben ihrer Partnerin Platz.
Franzi musterte Alice eingehend. »Na, wie war dein Tag? Du siehst fertig aus? Alles okay?«
»Ja, ja, mhm«, murmelte sie kauend. »Geht schon.«
»Das klingt ja nicht so begeistert«, stellte Franzi fest. »Nervige Kunden gehabt?«
Alice seufzte. »Nein, ach, irgendwie schon. Wobei es nervig
nicht ganz trifft.«
»Irgendwas beschäftigt dich doch, das sehe ich dir an«, hakte Franzi nach.
»Ja … na gut … Ich hatte eine Begegnung, die hat mich ziemlich aufgewühlt.«
Franzis Augen blitzten neugierig auf. »Warum? War die Kundin unverschämt? Unzufrieden?«
Alice schüttelte den Kopf.
»Dann vielleicht das Gegenteil? Sehr nett und angenehm? Und dazu noch gutaussehend?«
»Ach, Franzi! Du willst immer gleich alles ganz genau wissen? Na gut. Also, sie war sehr hübsch. Und ich kenne sie von früher, vom Studium. Joanna heißt sie.«
Olga machte einen pikierten Spitzmund. »Joanna?«, fragte sie mit ihrer piepsigen Stimme. »Ich glaube, du hast schon mal von ihr erzählt. War das die Eine, in die du so wahnsinnig verliebt warst während deines Studiums? Die dich dann sitzen ließ?«
Alice nickte und kaute langsam. Irgendwie schmeckte der Burger plötzlich ziemlich fade.
»Ah! Ich erinnere mich«, rief jetzt Franzi. »Joanna – dieses Miststück, der immer alle Männer nachgelaufen sind?«
»Ja, ja«, machte Alice und schluckte. »Ist ja gut. Ihr habt es erfasst. Die war das. Sie hat Dessous gekauft, um ihrem Verlobten Manni eine Freude zu bereiten. Die musste sie mir natürlich gleich vorführen. Damit es auch schön peinlich für mich wird.«
»Manni?« Franzi wieherte vor Lachen. »Was für ein beknackter Name ist das denn?«
»Habt ihr euch unterhalten?«, fragte Olga.
»Ja, schon. Sie hat mir außerdem ihre Visitenkarte gegeben. Bestand darauf, mich zu treffen. Aber das lasse ich lieber. Wozu denn auch? Damit sie mir wieder wehtut? Außerdem ist sie nach wie vor hetero und jetzt auch noch verlobt. Eine Freundschaft macht auch keinen Sinn. Weil ich bestimmt wieder so dämlich wäre, mich in sie zu verlieben … Ach, wahrscheinlich wär es besser gewesen, ich hätt sie einfach aus dem Laden geworfen. Aber ich war einfach so überrumpelt und wollte keine Szene machen.«
»Ach, Alice.« Olga seufzte mitfühlend. »Du hast schon recht. Lass lieber die Finger davon.« Sie stand auf, um das heiß
gewordene Wasser in die Teekanne zu gießen. Dann setzte sie sich wieder zu ihnen.
»Stimmt«, sagte Franzi nun und nickte eifrig.
Frauen waren ihr Lieblingsthema, vor allem, wenn es darum ging, endlich die richtige für Alice zu finden. Seit Alice’ letzter Beziehungskatastrophe, die etwa zwei Monate zurücklag, war Franzi besonders motiviert und hartnäckig. »Du gerätst immer an die Falschen. Vor zwei Jahren war da diese komische Psychologin …«, Franzi hob zum Zählen ihren Daumen, »die selbst einen Knall hatte. Die dich schreiend aus ihrer Wohnung geworfen hat, nur weil du sie gefragt hast, warum sie immer diese merkwürdigen Schmatzgeräusche macht, wenn sie über etwas nachdenkt. Und danach …«, sie hob zusätzlich den Zeigefinger, »… hattest du dieses Flittchen, das dich von hinten bis vorne nur angelogen und dir Haufenweise das Geld aus der Tasche gezogen hat. Und als Krönung«, Mittelfinger, »… dann die Eislesbe, die Polizistin, die nach außen hin immer auf cool machte, dann aber wollte, dass du sie ständig bemutterst, ihr Semmeln zum Frühstück schmierst und ihr Pausenbrote für die Arbeit machst … lauter Irre!« Franzis Zählhand sauste auf die Tischplatte zurück. »Du hättest wirklich mal was Besseres verdient. Und diese alte Geschichte mit Joanna bestätigt das doch nur: Du hast ständig Frauen, die dich ausnutzen und dir was vormachen. Vielleicht solltest du dich mal bei einer Partnerbörse anmelden. Bei einer seriösen …«
»Ach nein, lass mal.« Alice stöhnte. »Ich mag nicht. Jedenfalls heute nicht und morgen und nächste Woche wahrscheinlich auch nicht. Außerdem will ich nicht schon wieder über dieses Thema reden.«
»Ts, ts, du bist schon manchmal ziemlich stur«, tadelte Franzi. »Warum denn nicht? Ich würde dir auch dabei helfen, dich gut zu verkaufen. Das ist gar nicht so schwierig und du kannst unter
vielen Frauen auswählen. Probiere doch mal was Neues aus! Bei Olga und mir hats ja auch geklappt. Ich finde …«
»Jetzt lass sie doch!«, piepste Olga dazwischen. »Lass Alice in Ruhe, wenn sie nicht mag.«
»Ich mein’s ja nur gut. Alice ist jetzt schon dreiunddreißig und hatte noch nie eine längere und schon gar nie eine gute Beziehung. Sie stolpert von einer Katastrophe in die nächste. Dabei sieht sie doch ganz hübsch aus und hat auch was im Kopf. Ich versteh das nicht. Na ja, wahrscheinlich ist sie zu gutmütig und naiv. Und jetzt taucht auch noch eine alte Flamme wieder auf – ach, ich seh’ den nächsten Tiefschlag schon kommen …«
»Alice wird schon wissen, was sie tut«, sagte Olga. »Und Partnerbörsen sind auch nicht immer die Lösung. Die können genauso zu Verirrungen und Ärger führen.«
»Aber bei uns …«
»Komm, auch wir haben unseren Stress. Streiten uns oft. Die perfekte Beziehung gibt es vielleicht gar nicht.«
»Also, ich bin sehr glücklich, so wie es ist«, sagte Franzi mit Hundeblick. »Und sehr froh, dich kennengelernt zu haben.«
»Na ja«, erwiderte Olga skeptisch, doch dann entspannte sich ihre Miene ein wenig. »Trotzdem brauchst du Alice nicht zu bemuttern. Die macht das schon. Manches dauert eben seine Zeit.«
»Ja, stimmt«, gestand Franzi ein. »Tut mir leid, wenn ich zu sehr gebohrt habe, Alice.«
»Schon gut.« Alice stand auf und warf die Verpackung ihres Menüs in den Müll.
»Ach, übrigens«, begann Franzi, »was ganz Anderes. Es hat sich jemand auf unser Zimmerangebot gemeldet. Ich würde sie gern einladen, damit wir sie kennenlernen. Wird geldmäßig allerhöchste Zeit, das Zimmer der Eislesbe neu zu belegen. Seit
zwei Monaten teilen wir nun schon die Miete zu dritt.«
»Hm«, machte Alice nur. Die Erinnerung an Lara, von Franzi seit ihrem Auszug aus der WG immer nur die Eislesbe
genannt, steigerte ihre Laune nicht gerade. Sie waren nur einige Wochen zusammen gewesen. Bald nach ihrem Kennenlernen war Lara in die WG gezogen, weil sie dringend aus dem Polizeiwohnheim raus wollte, und zweieinhalb Monate später wieder verschwunden, nachdem sie beide einvernehmlich einen Schlussstrich unter die Beziehung gezogen hatten. Weder das Zusammensein, noch die nachfolgende Trennung war eine große oder emotional bewegende Sache gewesen, rückblickend eher ärgerlich. Warum sie sich damals überhaupt auf Lara eingelassen hatte, war ihr heute ein Rätsel. Anfangs, ja gut, da hatte deren kühle Art sie angezogen und sie hatte sich eingebildet, hinter dieser Eisschicht würde sich etwas Geheimnisvolles und Faszinierendes verbergen. Dem war aber nicht so gewesen und das war ihr sehr bald klargeworden.
»Also, wie wär’s am Samstag?«, fragte Franzi. »Hast du Samstagnachmittag Zeit? Soll ich sie zu uns einladen?«
»Was? Wen einladen?« Alice schreckte aus ihren Gedanken.
»Na, die Bewerberin fürs freie Zimmer. Hörst du mir eigentlich zu?«
»Ach so. Ja, meinetwegen«, murmelte Alice ohne Begeisterung.
Sie glaubte nicht daran, bald eine geeignete neue Mitbewohnerin zu finden. Allein schon deshalb, weil Franzi und Olga extrem wählerisch waren. Es musste eine Frau sein, am besten natürlich eine Lesbe, etwa in ihrem Alter, also Anfang dreißig, ruhig und ordentlich, aber gleichzeitig nicht zu pingelig. Optimal in Franzis Augen wäre natürlich eine hübsche, brave und intelligente Lesbe, die sie mit Alice verkuppeln konnte … das war klar, auch wenn es bisher nie offen ausgesprochen worden war.
»Ich geh mal auf mein Zimmer«, sagte sie. »Bin fix und fertig. Gute Nacht euch beiden.«
Eine halbe Stunde später lag Alice in ihrem Bett, Nani, ihren alten grauen Stoffhasen fest an sich gepresst. Sie schickte einen traurigen Blick auf Xavers leeres Aquarium und fühlte sich plötzlich sehr allein. Dann sah sie auf das Buch, das neben ihr auf dem Nachtkästchen lag. Carol
, von Patricia Highsmith. Ein toller Roman. Sie las ihn nun schon zum zweiten Mal.
Sollte sie sich jetzt noch ein wenig Carol und Therese zuwenden? Das könnte sie vielleicht auch ablenken von … Ach, nein, irgendwie war sie heute zu zerstreut und erschöpft zum Lesen und viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um sich wirklich auf andere Gedanken bringen zu lassen. Natürlich wurde sie auch das Bild von Joanna nicht los – Joanna direkt vor ihr, im fast transparenten Body, mit diesem perfekten, sinnlichen Körper … Sie knipste ihre Nachttischlampe aus und ließ ihren Blick durch das dunkle Zimmer wandern. Man sollte nie vor den eigenen Gefühlen davonlaufen, das wusste sie mittlerweile aus eigener Erfahrung. Man sollte Dinge nicht verdrängen und von sich herschieben, denn sonst kamen sie nur umso stärker zurück. Warum also nicht jetzt an Joanna denken? Wozu sich das verbieten? Alice schloss die Augen, ließ die Gefühle und Bilder ohne Widerstand zu, hätte sie ohnehin nicht länger unterdrücken können …
Die Erinnerungen an jenen Abend und jene Nacht liefen bald wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab.
Joanna hatte sie am Nachmittag angerufen und zu sich zum Abendessen eingeladen. Das hatte Alice ziemlich überrascht, denn
außerhalb der Uni hatten die beiden bisher nie etwas unternommen. In einigen Freistunden waren sie in den Englischen Garten gegangen oder zum Kaffeetrinken, aber es waren immer Andere dabei gewesen. Meist trafen sie sich nur bei gemeinsamen Vorlesungen, in der Mensa und einmal wöchentlich im Workshop »Kreatives Schreiben«, der ein freiwilliges Zusatzangebot der Uni darstellte. In der letzten Zeit allerdings bemerkte Alice, dass Joanna ihr immer wieder zulächelte und ihr kleine, verhaltene Blicke zuwarf … oder bildete sie sich das nur ein? Joanna war doch hetero, oder nicht? Ob sie wusste, dass Alice lesbisch war?
Zu der Zeit war Joanna mit Peter zusammen, einem großen, schlaksigen Kerl, der eine recht unangenehme und selbstverliebte Art hatte, wie Alice fand. Er studierte ebenfalls Germanistik, war allerdings erst im dritten Semester, während sie und Joanna schon kurz vor ihrem Magister standen. Hin und wieder saßen sie in der Mensa an einem Tisch und Peter flirtete dabei sehr anzüglich mit seiner Freundin, während er sich nicht uninteressiert an Alice zeigte, was ihr doppelt zuwider war. Erstens, weil sie schon seit Beginn des Studiums heimlich für Joanna schwärmte und deshalb eifersüchtig auf Peter war, zweitens, weil sie ihn und seine schleimige, anbiedernde Art ohnehin nicht ausstehen konnte.
Als Joanna sie an diesem Nachmittag anrief und zu sich nach Hause einlud, war Alice nicht nur sehr überrascht, sondern auch extrem aufgeregt. Joanna begründete ihre Einladung nicht weiter, fragte nur, ob sie heute Abend spontan Lust und Zeit hätte, sie zu besuchen, sie würde etwas kochen. Alice zögerte keine Sekunde, sagte sofort zu. Etwa drei Stunden später saß sie an Joannas Küchentisch mit einem Glas Wein vor sich und beobachtete ihren Schwarm, der irgendein Gemüse schnippelte und in einem Topf rührte.
»Erzähl mir doch etwas«, bat Joanna die nervöse Alice, deren Kopf ganz leer war und deren Herz wild trommelte.
Sie hätte Joanna viel lieber beim Kochen geholfen oder mit ihr einfach den Wein getrunken und geredet, und zwar so, dass sie ihr ins Gesicht sehen konnte. Außerdem fühlte sich die ganze Situation absurd und unwirklich an. Was machte sie hier? Warum hatte Joanna sie eingeladen? Wohin würde dieser Abend führen … Aber diese in ihrem Kopf herumwirbelnden Fragen traute sie sich nicht zu stellen. Hauptsächlich, weil sie befürchtete, damit die Stimmung – und das Schöne und Aufregende, das vielleicht passieren würde – schon im Vorfeld platt zu machen.
»Was soll ich dir denn erzählen?«, fragte sie also und Joanna erwiderte leichthin: »Egal, irgendetwas. Was du heute so gemacht hast, zum Beispiel.«
»Bevor du mich angerufen hast, habe ich Musik gehört und geschrieben.«
»Ach? Und was hast du geschrieben?«
»Na ja … ich versuche mich gerade an einer Geschichte …«
»Was für eine Geschichte?«
»Nun, eigentlich soll es ein richtiger Roman werden …«
»Was? Ein Roman! Das ist ja toll! Erzähl mir davon! Worum geht es darin?«
Es war eine Coming-of-Age-Geschichte, in der sich die junge Jana von ihrem Freund trennt und mit ihrer besten Freundin Carmen nach Spanien trampt. Die beiden Frauen machen dabei einige Abenteuer durch und trotz vieler Konflikte und ihrer Unterschiede intensiviert sich ihre Freundschaft immer mehr.
Alice freute sich über das Interesse an ihrem Romanprojekt und dem Schreiben an sich – und kam dabei immer mehr in Fahrt. Joanna hörte interessiert zu und stellte Fragen. Schade nur, dass sie immer noch kochte und sich nur manchmal kurz zu ihr
umdrehte.
Nachdem sie von einigen Erlebnissen ihrer beiden Protagonistinnen in der ersten Hälfte des Romans erzählt hatte, wandte sich Joanna vom Herd ab, sah ihr in die Augen und fragte: »Die Freundschaft von Jana und Carmen wird durch ihre Erlebnisse intensiver. Wie intensiv wird sie denn?«
Alice spürte, wie ihre Wangen warm wurden. »Nun, sie wird schon sehr intensiv …«
»Verlieben sie sich ineinander?«
»Ähm, ja. Da entstehen Gefühle, die sehr stark sind und über eine reine Freundschaft hinausgehen …«
»Aha«, sagte Joanna und lächelte. »Kommen sie sich denn auch körperlich näher?«
Ihre Wangen waren mittlerweile ganz heiß und ihre Kehle fühlte sich – trotz des Weins – nun staubtrocken an. Sie krächzte: »Ja, das soll passieren. Soweit bin ich aber noch nicht. Aber das ist der Plan. So kurz vor dem Ende des Buches dann …«
»Oh, das klingt ja großartig! Darf ich den Roman lesen, wenn du fertig bist? Bitte! Ich bin mir sicher, dass es ein tolles Buch wird. Das klingt ja schon beim Zuhören aufregend.«
Alice trank einen großen Schluck und nickte. Ihr Herz raste und sie glühte jetzt überall in ihrem Gesicht, vor allem an Nase und Ohren – nicht nur, wegen der bezaubernden Joanna, sondern auch aus künstlerischem Stolz.
»Komm, ich schenk dir noch mal nach.« Joanna war sofort aufgefallen, dass Alice’ Glas fast leer war. »Ich bin gleich fertig mit Kochen. Muss nur noch den Reisbeutel aus dem heißen Wasser nehmen, wenn der Küchenwecker klingelt. Dürfte in wenigen Minuten soweit sein.«
Sie holte ein zweites Glas aus dem Schrank, das sie nun befüllte. Damit setzte sie sich zu ihr an den kleinen Küchentisch.
Ihre schönen, hellen Katzenaugen musterten Alice aufmerksam und freundlich. »Nun lass uns anstoßen«, sagte sie. »Es freut mich, dass du so spontan Zeit hattest. Ich bin mir sicher, dass es ein sehr schöner Abend werden wird.«
»Danke noch mal für die Einladung. Ich bin gerne gekommen.«
Kaum hatten sich ihre Gläser mit einem leichten Klirren berührt, klingelte es laut und durchdringend. Nein, das war nicht der Küchenwecker – das war die Wohnungstür.
»Wer ist das denn jetzt?«, rätselte Joanna. »Warte mal, Süße, ich schau schnell nach.«
Alice nickte verdattert, während das Wort »Süße« in ihrem Kopf wonnig und weich nachklang und sich wie eine zarte Schicht Karamell über ihr Herz legte. Noch nie zuvor hatte eine Frau »Süße« zu ihr gesagt. Diese Premiere – und zwar aus Joannas Mund – war schlichtweg überwältigend. Sie erwachte aus ihrer verträumten Verzückung jedoch wenige Sekunden später, als sie Joannas verärgerte Stimme aus dem Flur hörte.
»Peter! Was machst du denn hier? Ich habe gerade Besuch!«
»So? Wer ist es denn?«, schnurrte der.
»Das geht dich nichts an!«
»Hmmm … Vielleicht Alice?«
»Ich sagte schon – das geht dich nichts an!«
»Jetzt lass mich halt reinkommen.«
»Nein. Es passt gerade nicht. Du kannst hier nicht einfach so reinplatzen. Geh jetzt. Ich ruf dich morgen an, ja?«
»Warum bist du denn so abweisend? Oh … Bei dir riecht es ja lecker. Hast du gekocht? Was gibt es denn Gutes?«
»Ich sagte doch …«
Dann hörte Alice Joanna laut stöhnen und im nächsten Moment erschien Peters lange schlaksige Gestalt in der
Küchentür, dahinter Joanna, die ihn nun fest an seinem dünnen Bizeps packte.
»Alice!«, rief Peter triumphierend und grinste breit. »Wusste ich doch, dass du es bist.«
Alice sah den Eindringling nur stumm und perplex an.
»Jetzt verschwinde endlich!«, rief Joanna wütend und zog an Peters Arm. »Hau ab! Du bist hier nicht willkommen, klar?«
»Aber warum denn nicht? Wir könnten uns doch auch zu dritt einen schönen Abend machen, oder? Kein Problem, das Essen langt auch sicher für drei. Ich gebe mich auch mit einer kleinen Portion zufrieden. Ganz allgemein, meine ich.« Dabei zwinkerte er Alice anzüglich zu.
»Du bist so ein Idiot!«, sagte Joanna. »Okay, du hast deinen Spaß gehabt, hast uns ein wenig geärgert und nun geh! Mehr ist für dich nicht zu holen.«
»Nun lass mich doch noch ein wenig bei euch bleiben. Oder hast du was dagegen, Alice?«
Sie räusperte sich und suchte in ihrem Kopf nach einer Antwort. Diese war schnell gefunden und bestand aus nur einem Wort: »Doch.«
»So, du hast es gehört«, sagte Joanna und nickte ihr zu. »Wir beide wollen unsere Ruhe, klar?«
»Oooch, das ist ja schade.« Peter grinste erneut breit und selbstgefällig. »Es hätte so nett werden können.«
In dem Moment klingelte der Küchenwecker. Joanna stellte ihn ungeduldig ab, ebenso den Herd, auf dem der Reistopf stand. Dann wandte sie sich wieder ihrem lästigen Freund zu.
»Peter, es reicht jetzt!«
Sie schlüpfte an ihm vorbei durch den Türrahmen, stellte sich vor ihn und schob ihn rückwärts zur Küchentür hinaus. Er leistete keinen Widerstand, lachte nur, laut und dämlich. Alice fand, er
wieherte wie ein durchgeknalltes Pferd. Im nächsten Moment verschwanden die beiden im Flur. Joanna zischte Peter leise etwas zu, das Alice nicht verstand, dann hörte sie, wie die Wohnungstür geöffnet und mit einem lauten Knall wieder geschlossen wurde. Ein Türriegel wurde vorgeschoben und im nächsten Moment betrat Joanna die Küche. Sie seufzte und ließ sich neben Alice auf den Stuhl sinken.
»Er ist jetzt weg. Tut mir leid, dass du das miterleben musstest. Peter kann manchmal ein echter Trottel sein.«
Alice nahm einen großen Schluck Wein. »Schon okay«, sagte sie, und durch den Alkohol schon leicht enthemmt, fügte sie hinzu: »Aber ganz ehrlich, ich versteh zwei Sachen nicht. Woher wusste Peter, dass ich heute Abend bei dir bin? Und warum bist du mit ihm zusammen, wenn er sich immer wieder so blöd benimmt?«
»Ach, Peter hat auch gute Seiten. Er ist ja nicht immer so. Man muss ihn nur manchmal in seine Schranken weisen.«
»Aber woher wusste er von meinem Besuch bei dir? Hast du ihm davon erzählt?«
»Ja, na ja …« Joanna atmete tief durch und sah mit unsicherem Blick an Alice vorbei an die Wand. Dann richtete sie ihre Augen wieder auf ihre Freundin, was ihr anscheinend einige Beherrschung abverlangte. »Von heute Abend habe ich ihm nichts erzählt. Es ist nur so … und das ist mir jetzt ein bisschen peinlich, aber ich möchte ja ehrlich zu dir sein: Peter weiß, dass ich dich gerne mag und mich … na ja … mich auch mal zu zweit mit dir treffen wollte. Um dich noch besser kennenzulernen. Das macht ihn wohl eifersüchtig, deshalb der idiotische Auftritt vorhin. Er weiß, dass du mir gefällst. Ja, du gefällst mir, Alice. Ich hoffe, das ist dir jetzt nicht unangenehm, wenn ich das so offen sage.«
Alice versuchte den Blickkontakt aufrecht zu erhalten, sah
dann aber doch nach unten. Sie leerte ihr Glas und schüttelte langsam den Kopf, während sie das Blut im Inneren ihrer Ohren rauschen hörte.
»Nein, nein, ich bin nur etwas überrascht … ich … ich meine, du bist doch hetero und mit Peter zusammen nicht?«
Sie zwang sich, Joanna erneut ins Gesicht zu sehen. Joanna lächelte.
»Ja, ich bin mit Peter zusammen. Und ich stehe auf Männer. Aber trotzdem – es gibt noch so viel mehr zu entdecken, meinst du nicht auch? Was ist mit dir? Stehst du auf Männer? Auf Frauen? Auf beides?«
»Ich? Also, ich hatte schon Beziehungen mit Männern, aber immer nur kurz, und irgendwie war das nie so das Wahre.«
»Ach, das kann ich gut verstehen. Männer führen sich manchmal schon ziemlich dumm auf, nicht?«
»Na ja, es gibt auch sehr liebe und anständige Männer«, räumte Alice ein. »Bei mir liegt es einfach daran, dass ich kein tieferes Gefühl für sie entwickeln kann.«
»Und bei Frauen hast du manchmal tiefere Gefühle?«
Alice nickte.
»Du hast demnach schon Erfahrungen mit Frauen?«
»Nichts von längerer Dauer.« Den Satz, der ihr eigentlich auf der Zunge gelegen hatte, schluckte sie lieber herunter: Das Problem war, dass die Frauen nur ein bisschen Spaß wollten und dass ich mich immer so schnell verliebt habe.
Nein, besser das blieb ungesagt. Sie wollte nicht jämmerlich rüberkommen.
Joanna sah Alice lange und ruhig mit ihren intensiven hellen Augen an. Dann sagte sie: »Und wie ist das bei mir? Könntest du dir vorstellen, für mich tiefere Gefühle zu entwickeln?«
Alice schluckte und log reflexartig: »Ich weiß nicht. Wir kennen uns ja noch nicht so gut.«
Ihr Herz raste in dem Moment so schnell, dass für ihr Gehirn scheinbar keine Energie mehr zur Verfügung stand. Alles was ihr blieb, war ein Schutzinstinkt, der sie davor bewahren sollte, sich verletzbar zu machen. Denn sie wollte nicht noch einmal nur ein schnelles Abenteuer für eine Frau sein, die sich ein bisschen ausprobierte. Wenn sie ehrlich war, sah es im Moment mal wieder ganz danach aus. Als suchte auch Joanna nur nach einer kleinen Kostprobe vom anderen Ufer, während sie ja, wie sie gerade eben bestätigt hatte, mit diesem furchtbaren Peter zusammen war.
»Das stimmt. Noch kennen wir uns nicht so gut. Aber wir können uns ja besser kennenlernen. Möchtest du noch Wein?«
Sie nickte ganz automatisch und Joanna schenkte ihr nach.
»Hast du Hunger? Sollen wir gleich essen oder etwas später?«
»Lieber später.«
In ihren Magen hätte im Moment nicht mal eine einzelne Erbse hineingepasst. Wein schon, der hatte immer Platz, aber keine feste Nahrung.
»Sollen wir mit den Gläsern ins Wohnzimmer gehen? Das ist etwas gemütlicher als hier.«
Alice zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich finde deine Küche eigentlich auch ganz gemütlich …«
Joanna sah sie an, ganz weich und liebevoll. »Bist du ein wenig nervös?«
Alice nickte. Ganz schutzlos fühlte sie sich nun Joanna und ihren betörenden und intelligenten Katzenaugen völlig ausgeliefert. Und ihrem bezaubernden Lächeln, das immer wieder über ihr wunderschönes Gesicht huschte.
»Das macht nichts. Aber vielleicht beruhigt es dich zu wissen, dass ich auch ein wenig aufgeregt bin.«
»Wirklich?«
Joanna nickte. »Weißt du, ich finde dich sehr besonders. Du
bist eine so kluge, kreative und hübsche Frau und ich spüre da ein gewisses Knistern zwischen uns. Du auch?«
»Ja«, flüsterte Alice. Sie räusperte sich. »Aber ich möchte nicht enttäuscht werden. Du hast ja immer noch Peter und wirst auch weiterhin mit ihm zusammen sein.«
Joanna zuckte mit den Schultern. »Ach, Peter. Keine Ahnung. Keine Ahnung, ob das mit ihm überhaupt noch lange Sinn macht. Er geht mir zunehmend auf die Nerven mit seiner frechen und aufdringlichen Art. Außerdem führen wir ohnehin eine offene Beziehung. Seitensprünge sind erlaubt. Er nutzt das ständig, mir steht da kaum der Sinn danach. Vielleicht sollte ich wirklich mit ihm Schluss machen … Was meinst du?«
»Keine Ahnung. Liebst du ihn denn?«
»Ich weiß es nicht. Anfangs war ich total fasziniert von ihm und seinem Selbstbewusstsein, seinem Humor und seiner Schlagfertigkeit … aber jetzt? Ich glaube, die Faszination verliert sich immer mehr.«
»Wenn das so ist … Aber das musst du entscheiden.«
»Ja, das muss ich. Ich möchte aber, dass du weißt, dass du kein kleines Abenteuer für mich bist. Ich will dir nicht weh tun oder irgendwelche Spiele treiben. Ich möchte dich nur ein wenig besser kennenlernen. Wir müssen auch gar nichts überstürzen, okay?«
»Okay.«
Joanna lächelte. »So – und wie kriegen wir es jetzt hin, dass du dich ein wenig entspannen kannst? Was hältst du davon, wenn ich dir die Schultern massiere? Meine Schwester arbeitet in einem Massagesalon und sie hat mir ein paar Griffe und Tricks gezeigt. Darf ich die mal an dir ausprobieren? Meine Schwester sagt, ich sei als Masseurin einigermaßen talentiert.«
Alice stutzte kurz und nickte ohne lange nachzudenken.
Joanna stand auf und stellte sich hinter sie. Im nächsten Moment berührten ihre Hände Alice’ Schultern und sie begann, sie sanft und behutsam zu kneten.
»Gut so?«
»Ja, das ist sehr schön.«
»Dann mach die Augen zu und versuche, an nichts zu denken. Versuche einfach, den Moment zu genießen, ja?«
»Mhm.«
Alice schloss die Augen. Sie spürte, wie Joannas Finger mit kreisenden Bewegungen den Bereich zwischen ihren Schulterblättern massierten, sanft die Muskulatur kneteten und dann ganz zart ihren Nacken berührten und kurz darüberstrichen. Sie hätte dahinschmelzen können – oder schweben. Eigentlich beides zugleich, wenn das irgendwie möglich gewesen wäre. Sie versank in den Berührungen, hörte tatsächlich auf zu denken und gab sich hin, für einen wunderbaren Moment zumindest. Doch dann setzte Alice’ Vernunft wieder ein und dringende Fragen tauchten in ihrem Kopf auf.
»Warum meintest du vorhin, Peter wäre eifersüchtig? Wenn ihr beide doch eine offene Beziehung führt?«
»Weil er sich auch für dich
interessiert, Süße. Das ist der einzige Grund.«
Das überraschte Alice nicht wirklich, so anbiedernd wie Peter sich in den letzten Wochen ihr gegenüber verhalten hatte.
»Was ist mit dir? Wirst du nie eifersüchtig? Stört es dich nicht, wenn dein Freund mit anderen Frauen schläft?«
Joanna arbeitet sich zu ihren Schultern hoch.
»Wenn ich mir gegenüber selbst ehrlich bin, doch. Ich bin da wohl ein wenig anders als Peter.«
»Hm«, machte Alice.
»Was hm?«
»Weißt du, ich verstehe das nicht ganz. Peter geht dir immer wieder auf die Nerven, er geht ständig fremd und du bist immer noch mit ihm zusammen? Ausgerechnet du?«
»Was meinst du mit ausgerechnet ich
?«
»Du bist doch eine wahnsinnig schöne und tolle Frau«, platze Alice heraus. »Die Männer stehen bei dir Schlange. Die halbe Uni würde mit dir ausgehen wollen. Warum dann ausgerechnet Peter?«
Joanna hielt kurz inne, dann beugte sie sich herab und hauchte Alice einen zarten Kuss auf den Nacken.
»Das war jetzt total süß von dir«, sagte sie leise. »So sehe ich mich gar nicht. Doch es ist ein großes Kompliment, so etwas zu hören. Danke.«
Alice hielt den Atem an. Ihr Nacken begann leicht zu kribbeln.
»Joanna … was passiert hier? Es kann nicht, es darf so nicht weiter gehen … Du hast einen Freund …«
Joanna ließ von Alice’ Schultern ab, trat vor sie und ging in die Hocke. Sie blickte ihr tief in die Augen, schien kurz zu überlegen, dann nickte sie.
»Ich verstehe dich. Du bist ein aufrichtiger und lieber Mensch. Ich fühle mich dir sehr nahe. Und ich habe soeben einen Entschluss gefasst: Ich werde mit Peter Schluss machen, wenn du mir die Erlaubnis gibst, dich jetzt zu küssen.«
Alice’ Herz stand für einen Moment still und schlug dann umso heftiger weiter.
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Alice nickte wie in Trance, während sie in Joannas intensiven hellblauen Augen versank. Und dann geschah es. Joanna nahm ihr Gesicht zärtlich in beide Hände und ihr Mund näherte sich
dem ihren. Als sich ihre Lippen berührten, durchfuhren Alice unzählige kleine Blitze. Sie schien sich aufzulösen, gar nicht mehr in dieser Welt zu sein. Das einzige Stückchen Realität, das sie wahrnahm, waren Joannas zarte, volle Lippen.
Im nächsten Moment öffnete sich Joannas Mund und Alice spürte ihre Zungenspitze, die sich langsam zu ihrer vortastete. Tausend Schmetterlinge tobten in ihrem Bauch und ihr Herz schlug zu deren Tanz ekstatische Rhythmen. Joannas Kuss war unglaublich süß und behutsam, doch leider von viel zu kurzer Dauer. Als sie sich von Alice löste, drehte sich alles um sie herum, während die Schmetterlinge nach wie vor aufgeregt flatterten und ihr Herz noch immer einen Trommelwirbel schlug.
Joanna reichte ihr die Hand. »Komm mit.«
Alice stand auf. Es schien ihr, als würde sie schweben, während sie Joanna in ihr Schlafzimmer folgte. Was dann kam, war die schönste und innigste Stunde in ihrem bisherigem Leben. Sie war voller Momente, die so unbeschreiblich wundervoll, zärtlich und lustvoll waren, dass sie es kaum aushielt überhaupt daran zu denken, sich auch nur in kurzen Bildern und Szenen daran zu erinnern.
Mit diesem wunderbaren Erlebnis war der Ausflug ins Paradies für Alice an diesem Abend jedoch noch nicht vorbei. Nach dem sanften und zugleich atemberaubend leidenschaftlichen Liebesakt waren sie beide erschöpft, aber plötzlich auch sehr hungrig und machten sich über das indische Reisgericht her, das mittlerweile seit über zwei Stunden unberührt in der Küche stand. Joanna wärmte es in der Mikrowelle auf und sie aßen, redeten und lachten – Joanna konnte unglaublich witzig und so vergnügt sein! Ihr Lachen war hell und ansteckend. Dann floss noch mehr Wein und die Gespräche wurden tiefsinniger und drehten sich bald um Liebe, Beziehungen, Zukunftsvisionen, Träume und Lebensziele … Kurz nach Mitternacht kuschelten sich die beiden
erneut ins Joannas Bett. Doch an Schlaf war erst einmal nicht zu denken. Sie küssten sich, streichelten und berührten sich überall, zart, liebevoll, später voller Begierde und mit immer heftiger werdender Lust. Dieser Abend, die ganze Nacht, war ein einziger Rausch, ein unwirklicher Taumel, mehr ein Traum als Realität. Wie sollte man etwas beschreiben, dass so unfassbar schön war, dass es fast weh tat? Gefühle, die so intensiv waren, dass grenzenlose Freude und süßer Schmerz ineinander verschmolzen und man glaubte, zerspringen zu müssen? Niemals würde Alice diese heftigen Empfindungen in geeignete Worte fassen können, nie zuvor in ihrem Leben und auch bis heute nie wieder – war ihr eine Erfahrung derart nahegegangen.
Joanna machte ihr Versprechen schon am nächsten Tag wahr und trennte sich von Peter. Nach den Vorlesungen trafen sie sich im Englischen Garten und sie erzählte Alice davon. Peter war eifersüchtig, wütend, gekränkt und hatte beleidigende Worte gefunden. Joanna sagte, sie müsse die Trennung auch erst verarbeiten, es sei aber in jedem Fall richtig gewesen, diesen Schritt zu tun.
Zwei Tage später besuchte Alice sie erneut. Dieses Treffen war aber bei Weitem nicht mehr so intensiv und magisch wie das erste. Das lag mit Sicherheit auch daran, dass Peter anrief und sich eine halbe Stunde lang nicht aus der Leitung drängen ließ. Joanna ließ ihn reden, weil sie zunächst wohl Mitleid mit ihm hatte, er aber bildete sich ein, zumindest Telefonsex erbetteln zu können. Dieser aufdringliche und unverschämte Kerl wollte noch immer ein kleines Stück vom Kuchen abhaben. Es ging ihm dabei aber keineswegs um Gefühle, sondern nur um Sex. Joanna machte ihm einen Strich durch die Rechnung, dennoch war die Stimmung zum Teil von Ärger, Trotz und Wehmut geprägt, am Ende bezogen auf Peter auch von Schadenfreude, doch die Unbefangenheit, Romantik oder gar Leidenschaft des ersten
Abends wiederholte sich nicht.
Es war einfach noch zu früh, Joannas Trennung von Peter noch zu präsent und frisch. So schliefen sie dieses Mal auch nicht miteinander und Alice fuhr gegen Mitternacht nach Hause. Zu dem Zeitpunkt war sie aber noch optimistisch, dass sich ihre Beziehung mit Joanna gut entwickeln würde und dass sie nur etwas Zeit brauchte, den Bruch mit ihrem Freund zu verarbeiten.
Eine Woche später fuhr Joanna in die Toskana. Zusammen mit drei Kommilitonen hatte sie schon vor einem halben Jahr ein Ferienhaus gebucht. Sie bedauerte, sich für diese vierzehn langen Tage von Alice trennen zu müssen, aber nach ihrem Urlaub würden sie sich wiedersehen. Joanna sagte, sie freue sich darauf, könne es jetzt schon kaum erwarten.
Als sie zwei Wochen später aus der Toskana zurückkam, war das Wiedersehen jedoch anders als erwartet. Statt eines freudvollen Sich-in-die-Arme-Fallens, das Alice sich während der ganzen Zeit in verschiedensten Varianten ausgemalt hatte, gab es nur eine kurze, etwas reservierte Umarmung. Und eine Joanna, die ihre wunderschönen Katzen-Augen niederschlug und sagte, sie müsse etwas mit ihr besprechen, es gebe da eine Neuigkeit. Etwas Unvorhergesehenes sei passiert. Die Überraschung, die ihr Joanna in einem Café in der Nähe der Uni präsentierte, war folgende: sie hatte sich im Urlaub in einen der Mitreisenden, Robert, verliebt. Es habe sie einfach überwältigt, sie habe sich bis über beide Ohren in ihn verschossen. Während Joanna ihr das gestand, vergoss sie ein paar Tränen. So etwas habe sie doch nicht vorhersehen können.
Alice hörte sich die Geschichte stumm an, stand dann auf und ging. Ohne eine weitere Frage, ohne Abschiedsgruß, sogar ohne zu bezahlen. Als sie zu Hause war, sperrte sie sich in ihr Zimmer ein und weinte den restlichen Tag und die halbe Nacht.
Drei Monate später war Joannas und Alice’ Studium zu Ende
und jede ging ihrer Wege. Die wenigen verbleibenden Wochen ihrer gemeinsamen Studienzeit hatten sie sich kaum noch in der Uni gesehen, da jede mit ihrer Abschlussarbeit zu tun hatte und kaum mehr Vorlesungen besuchte. Alice nahm seither auch nicht mehr an dem Kurs »Kreatives Schreiben« teil, um eine Begegnung mit Joanna zu vermeiden. Nur eine einzige Frage hatte Alice beschäftigt – und beschäftigte sie bis heute: Hatte Joanna jemals wirklich
etwas für sie empfunden? Mehr als nur den Wunsch, etwas Neues auszuprobieren und die Lust, sich sexuell zu vergnügen? Vermutlich nicht. Denn so schnell konnte man sich doch nicht »entlieben« – nicht nach so einer wahnsinnig schönen und intensiven gemeinsamen Nacht.
Rückblickend war Alice sicher, dass es für Joanna kein großes Opfer gewesen war, sich von Peter zu trennen. Die Beziehung hatte ohnehin schon kurz vor ihrem Ende gestanden. Aber waren ihre Tränen echt gewesen, als sie ihr Geständnis machte? Vielleicht hatte sie es ja wirklich bedauert, dass ihr Robert »passiert« war. Oder sie war nur eine verdammt gute Schauspielerin gewesen.
Alice drückte ihren Stoffhasen Nani ganz fest an ihre Brust und verbarg ihr heißes, feuchtes Gesicht in dessen Hinterkopf und Schlappohren. Joanna hatte ihr damals so unfassbar weh getan. Nein, das durfte nicht noch einmal passieren, denn Alice empfand noch heute viel zu viel für sie – das war ihr spätestens dann klargeworden, als Joanna plötzlich im Laden vor ihr gestanden hatte.
Wie wunderschön und sexy sie aussah – heute fast noch schöner als damals, wenn das irgendwie möglich war. Ihre Stimme klang so weich, so samtig, so betörend. Dennoch – egal wie überwältigend Joannas Ausstrahlung, Aussehen, ihre Stimme waren: Alice durfte ihren Verstand davon nicht lahmlegen lassen. Sie sollte sich lieber darüber ärgern, dass Joanna ihr so
unbeschwert und heiter gegenübertrat, so schamlos offen gar, indem sie sich auch noch in Dessous vor ihr rekelte – als wäre zwischen ihnen nie etwas gewesen, und vor allem, als hätte sie Alice niemals verletzt. Denn diese Nacht war für sie kein erotisches Intermezzo gewesen – es war nach wie vor das bedeutendste und intimste Erlebnis ihres bisherigen Lebens.