Kapitel 2
Das »Bewerbungsgespräch«, wie Franzi es nannte, sollte samstags um fünfzehn Uhr stattfinden. Die »Bewerberin« hieß Jaqueline Möller, war einunddreißig Jahre alt und suchte nach einem Zimmer, das sie ab Mitte Januar beziehen konnte. Mehr wussten sie nicht über sie. Sie waren alle drei sehr gespannt, mehr zu erfahren, wenngleich auch mit recht gegensätzlichen Haltungen und Gefühlen: Franzi und Olga waren kritisch, aber hoffnungsvoll, dass sie endlich eine Mitbewohnerin bekommen würden, die alle ihre Erwartungen erfüllte. Alice hingegen war der Unbekannten gegenüber vollkommen offen, sah ihrem baldigen Einzug aber wenig optimistisch entgegen. Letzteres lag jedoch allein an der wählerischen Art ihrer beider WG-Genossinnen.
Als Lara vor zwei Monaten gegangen war, hatte sich kurz die Frage gestellt, ob Olga nicht in das freie Zimmer ziehen sollte. Sie und Franzi waren schon vier Jahre ein Paar, Olga war aber erst letzten Oktober in die WG gekommen, als sie mit dem Studium Soziale Arbeit begonnen hatte. Zuvor hatte sie als Krankenschwester gearbeitet, dank Schichtzulage recht gut verdient und hatte sich dadurch eine eigene Wohnung leisten können. Doch als Studentin arbeitete sie nur auf Minijobbasis weiter in der Klinik und musste sich daher finanziell stark einschränken. Hauptsächlich aus diesem Grund, aber auch, um mehr Zeit mit Franzi verbringen zu können, war sie in die WG gezogen. Da Lara fast zeitgleich mit Olgas Studienbeginn ausgezogen war, hätte Olga problemlos das leere Zimmer beziehen können. Doch sie hatte sich dafür entschieden, sich mit Franzi ein Zimmer zu teilen, weniger aus romantischen, als eher aus Sparsamkeits-Gründen. So würden sie das freie Zimmer vermieten können und die Gesamtmiete würde von Vieren getragen werden und nicht nur von Dreien.
Das enge Zusammenleben führte allerdings immer wieder zu Stress und kleinen Reibereien zwischen Franzi und Olga, und was das Vermieten des leeren Zimmers betraf, so hatten sie sich das wesentlich einfacher vorgestellt. An Interessenten mangelte es nicht, in den letzten Wochen hatten bereits fünf Frauen das Zimmer besichtigt. Alice hätten mindestens drei davon zugesagt, aber ihre beiden Mitbewohnerinnen waren in ihrer Auswahl deutlich strenger – und das war das eigentliche Problem.
Kurz vor drei versammelten sie sich in der Küche, wo das Gespräch stattfinden sollte. Franzi hatte Kaffee gekocht, dazu gab es Plätzchen. Gekaufte – man müsse es ja nicht gleich übertreiben mit der Gastfreundschaft, meinte Olga, wo man noch gar nicht wisse, wer einem da »ins Haus schneit«. Die »guten«, von ihr selbst gebackenen Weihnachtsplätzchen blieben vorerst in der Keksdose im Küchenschrank, man könne sie ja noch herausholen, wenn ihnen die Bewerberin gefiele. Sie wollte das Anbieten von diesen Plätzchen gleich zum Maßstab machen.
»Also, wenn ich die Dose rausrücke, könnt ihr davon ausgehen, dass ich die Frau gut finde. Dann wisst ihr schon mal, dass ich ihrem Einzug zustimmen würde. So als verstecktes Signal für euch.«
»Ist das nicht ein wenig albern?«, fragte Alice. »Wenn du das tust, merkt sie doch, dass wir sie erst mit dem gekauften Zeug abfertigen wollten.«
»Na und?«, mischte Franzi sich ein. »Dann kann sie sich geehrt fühlen und weiß, dass wir eine gute Meinung von ihr gewonnen haben. Ich finde diese Idee gut – hoffentlich hast du überhaupt die Gelegenheit, deine Plätzchen rauszuholen, Olga.«
»Ich habe ein gutes Gefühl. Nach den beiden merkwürdigen Bewerberinnen von vorletzter Woche kann es ja nur besser werden.«
Alice zuckte mit den Schultern. »So merkwürdig fand ich die zwei Frauen gar nicht. Die eine war eben sehr ruhig und die andere dafür sehr redselig.«
»Ach, Alice!« Franzi seufzte theatralisch. »Die waren doch beide nicht ganz normal. Die Ruhige sah aus, als hätte sie nächtelang nicht geschlafen oder als wäre sie auf Drogen. Und die Laute hat so viel Unsinn geplappert, dass einem die Ohren davon weh taten.«
»Und es waren nicht einmal Lesben!«, warf Olga ein. »Hetero-Frauen bringen womöglich ständig irgendwelche Typen hier rein und ich will keine Männer in der Wohnung. Wir müssen der Bewerberin heute unbedingt gleich am Anfang klarmachen, dass das hier eine Lesben-WG ist – ohne Männerbesuche! Und gut prüfen, wie sie dazu steht.«
»Olga – ich weiß echt nicht, ob das was wird, wenn ihr immer so wählerisch seid. Warum nicht eine Hetera? Solange sie sich an gewisse Regeln hält?«
»Apropos Regeln«, fiel Franzi ein. »Wo bleibt sie eigentlich? Es ist zehn nach drei. Das macht schon mal keinen guten Eindruck, wenn sie sich verspätet.«
»Ich hoffe trotzdem, dass sie kommt und dass sie zu uns passt«, sagte Olga. »Allein schon wegen dem Geld … Und ja, Alice, ich sehe auch ein, dass wir nicht zu kritisch sein dürfen. Solange sie vernünftig ist und einen halbwegs normalen Eindruck macht, darf sie meinetwegen auch bi oder hetero sein, solange sie hoch und heilig verspricht, keine Männer mit ins Haus zu bringen.«
»Na, du bist aber großzügig.« Franzi schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht, ob es so viel besser ist eine Lesbe mit unzähligen Frauenbekanntschaften hier zu haben, als eine Hetera mit dem immer gleichen Freund. Wenn, dann muss es eine besonnene und ruhige Lesbe sein, eine, mit der man auch mal gute Gespräche führen kann, die nicht ständig nur unterwegs ist und Abenteuer sucht … eine bodenständige Frau eben, kein ausgeflipptes Szene-Girl. Und auf keinen Fall eine Eislesbe! Eine Liebe und Nette, die uns allen gefällt.«
Dabei sah sie Alice eindringlich an und lächelte verschmitzt.
Alice unterdrückte ein Stöhnen. Na das konnte ja was werden. Hoffentlich benahmen sich die beiden heute nicht zu peinlich gegenüber der Zimmersuchenden.
»Oder wir müssen unser Altersspektrum anpassen«, überlegte Olga. »Wir könnten auch Frauen über siebzig zu uns einladen …«
»Jetzt wird’s abenteuerlich!« Franzi lachte. »Du kommst auf Sachen!«
»Lach mich doch nicht gleich aus!«
So dumm ist diese Idee gar nicht! Ein wenig diskriminierend vielleicht. Als hätten ältere Damen kein Bedürfnis nach Liebe mehr. Dann aber lieber ältere Lesben, als dass uns alte Heteras alte Männer in die Wohnung bringen …«
Franzi lachte nun noch lauter. »Du bist echt der Knaller! Und politisch immer sooo korrekt!«
»Hör endlich auf, mich auszulachen! Das geht mir dermaßen gegen den Strich! Ich …«
»Ja, meine kleine Feminismus-Maus?«
Da lief Olga rot an. »Ich bin keine …«
Alice machte eilig mit ihren Händen das Cut-Zeichen.
»Bitte seid friedlich! Lasst uns erst schauen, ob die Bewerberin überhaupt kommt, und wenn ja, ob sie für uns in Frage kommt. Wenn nicht, dann können wir ja gemeinsam überlegen, wie wir unsere Suche weiter gestalten. Aber jetzt herumzustreiten bringt doch gar nichts.«
Olga schnaufte tief durch. »Hast recht. Ich versuche Franzis unangebrachte Bemerkungen einfach zu ignorieren. Wie so oft. Weil es eh’ nichts bringt.«
Franzi verdrehte die Augen. »Ja, ja, schon gut, Mäuschen.«
»Lass uns beide einfach ruhig und offen bleiben, so wie Alice. Und erst einmal davon ausgehen, dass die Bewerberin nett ist. Sie hat immerhin einen hübschen Namen, nicht? Jacqueline, das klingt zart und feminin …«
»Tja, nun ist es aber fast zwanzig nach drei«, brummte Franzi. »Ob das noch was wird mit dieser Scha-kööö-linö?« Sie zog den Namen veralbernd in die Länge, um Olga zu nerven.
Die quittierte Letzteres mit einem stechenden Blick.
»Oh, wirklich schon so spät?«, rief sie nach einem Blick auf die Uhr. »Ich glaube meine Plätzchen bleiben heute doch im Schrank.«
Genau in dem Moment ertönte die Klingel.
»Gut.« Franzi straffte die Schultern. »Alle bereit? Ich mache auf. Bleibt ihr beide in der Küche, damit wir sie nicht gleich zu dritt überfallen.«
»Huch, ist das spannend«, piepste Olga und ihre Miene erhellte sich. Sie wedelte aufgeregt mit der rechten Hand. »Ja, mach nur, geh schon – geh!«
Franzi verließ die Küche, ließ aber die Tür offenstehen, sodass Alice und Olga die Begrüßung im Flur mithören konnten. Natürlich spitzten nun beide gespannt die Ohren.
»Oh … äh … hallo, sind Sie Frau Möller?«, hörten sie Franzis Stimme. Sie klang sehr verdutzt.
»Ja, bin ich. Können wir uns duzen? Ich heiße Jacky.«
»Äh … ja. Ich bin Franzi. Komm doch rein. Meine beiden Mitbewohnerinnen warten in der Küche.«
Dann wurde die Haustür geschlossen. Franzi sagte: »Deine Jacke kannst du hier aufhängen.«
Im nächsten Moment näherten sich der Küche Schritte und ein leises Rasseln. Nun erschien Franzi mit blassem Gesicht und großen Augen und hinter ihr: Jacky.
Das Erste, was Alice ins Auge fiel, war Jackys blaue Mähne, die wild über ihre linke Kopfseite fiel. Die rechte Seite war ausrasiert und mit einem Drachen-Tattoo versehen, am Ohr hingen mehrere silberne Creolen. Ihre Augenbrauen waren ebenfalls blau gefärbt und es steckte je ein Ring im rechten Nasenflügel und mittig in der Unterlippe. Ihre Hautfarbe war nicht gerade rosig und das dunkle Augenmake-up ließ ihr Gesicht zusätzlich blass erscheinen. Sie trug einen schwarzen Kapuzenpulli mit dem roten Aufdruck »WTF?«, über ihren Hals wand sich ein schlangenförmiges Tattoo. In ihrer schwarzen Lederhose steckte ein breiter Nietengürtel, an dem einige Kettchen baumelten, die bei jedem ihrer Schritte leise klirrten. An ihren Füßen trug sie schwarze Boots mit großen silbernen Schnallen. Jacky war von durchschnittlicher Größe, aber schlank und zierlich. Dennoch strahlte ihre ganze Person Wildheit, Kraft und eine gute Portion »Ist-mir-egal« aus, gleichzeitig aber auch Ruhe und Gelassenheit. Mit einem leisen Schmunzeln sah sie in die verblüfften Gesichter von Alice und Olga.
»Äh – das ist Jacky«, stammelte Franzi nun und deutete dann auf ihre Mitbewohnerinnen. »Jacky, das ist Alice und das Olga.«
»Hallo, Leute. Tut mir leid wegen der Verspätung. Hab mich vorhin ein wenig verfranzt.«
Nachdem Franzi keine Anzeichen machte, sich weiter um ihren Gast zu kümmern, erhob sich Alice.
»Freut mich, dich kennenzulernen. Setz dich zu uns. Willst du Kaffee?«
»Och ja, gerne«, erwiderte Jacky und nahm gegenüber von Alice und neben Olga am Küchentisch Platz. Das Klirren hörte auf. Franzi setzte sich ebenfalls, jedoch mit einem deutlichen Sicherheitsabstand zu Jacky. Fast saß sie auf Alice’ Schoß.
»Milch und Zucker?«, fragte Alice.
»Nur Zucker. Zwei Stück. Danke.«
Unglaublich, wie strahlend grün Jackys Augen waren, überlegte Alice. Ob die Farbe echt war? Oder trug sie farbige Kontaktlinsen? Bei all dem anderen Körperkult, den sie betrieb, den Tattoos, Piercings und gefärbten Haaren wäre das doch gut möglich … Eine leichte Gänsehaut fuhr Alice über den Körper. Diese Jacky war auf jeden Fall eine spannende Person mit einer echt außergewöhnlichen Ausstrahlung … Wow! Sie war neugierig darauf, sie näher kennenzulernen, und reichte Jacky die Tasse.
»Wenn du Plätzchen magst, bedien’ dich.«
Franzi und Olga blieben weiterhin stumm und weitgehend starr und Alice hatte das Gefühl, dass sich das so schnell nicht ändern würde. Somit musste sie wohl fürs Erste die Gesprächsführung übernehmen.
»Wir möchten dich natürlich ein wenig kennenlernen, Jacky. Erzähl mal – lebst du momentan schon in München? Und wie kommt es, dass du umziehen möchtest?«
»Ja, ich wohn schon seit ein paar Jahren in München, aber derzeit in ’ner echten Bruchbude. Seit Wochen ist die Heizung kaputt, die Fenster sind undicht und es gibt maximal lauwarmes Wasser. Dem Vermieter ist das egal, der macht von sich aus gar nichts, und ich hab nicht die Kohle, da groß was zu investieren. Jetzt im Winter wird’s halt langsam ungemütlich. Bis Ende Dezember ist die Miete noch bezahlt, dann hab ich zwei Wochen Urlaub, wo ich aber eh bei ’nem Kumpel bin. Wär schön, wenn ich ab Mitte Januar ’ne neue Bleibe hätt.«
»Das kann ich verstehen, dass du da raus willst. Ohne Heizung und heißes Wasser – bei der Kälte momentan – das muss echt hart sein. Das würde ich keine Woche aushalten.«
»Hm ja – man gewöhnt sich irgendwie dran. Aber es geht sicher auch angenehmer.«
Alice nickte. »Bestimmt. Erzähl uns doch ein bisschen mehr von dir – oder sollen wir uns erst mal genauer vorstellen?«
»Nö, ich kann schon weitermachen. Also was soll ich sagen? Ich arbeite in ’ner Kneipe und ansonsten mache ich Musik.«
Alice nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie Franzi neben ihr die Augen verdrehte. Olga saß noch immer wie hypnotisiert neben Jacky und regte sich nicht. Da nahm Alice den Faden wieder auf. »Musik? Aha … spielst du in einer Band?«
»Ja. Die Band heißt The Dark Shift –  ich bin die Sängerin. Wir spielen Melodic Death Metal mit Doom- und Blackelementen.«
Alice hatte keine Ahnung, was die musikalischen Begriffe bedeuten sollten, sie hatte nur das Wort »Metal« wirklich verstanden. Sie überlegte, ob sie nachfragen sollte, doch dann verwarf sie den Gedanken, denn ihr brannten andere Fragen stärker auf der Zunge. »Und wie läuft das so mit eurer Band? Ihr müsst ja auch irgendwo proben, nicht?«
»Ja klar. Wir haben ’nen kleinen Proberaum am Rand von Neubiberg. Mindestens einmal die Woche treffen wir uns dort.«
»Ah, Neubiberg, das ist ja gar nicht weit von hier, das wäre praktisch für dich, was den Weg betrifft.«
Jacky nickte.
»Habt ihr schon ein Album aufgenommen?«
»Noch nicht. Wir sind aber kurz davor. Die zwölf Songs, die drauf sollen, sind so gut wie fertig.«
»Gratuliere! Das muss aufregend sein, wenn man kurz vor der Fertigstellung seines ersten Werkes steht. Ich mein, ich kenne das ja selber irgendwie.«
Jackys grüne Augen funkelten. »Ja? Bist du auch Musikerin?«
»Nein, ich schreibe. Sitze gerade an einem Roman und der sollte demnächst auch fertig werden.«
»Das ist cool. Echt. Was schreibst du so?«
Nun wurde Franzi plötzlich wieder lebendig. »Alice schreibt Liebesromane«, warf sie ein und würgte das Thema dann schnell wieder ab. »Was mich aber viel mehr interessieren würde: Hörst du zu Hause öfter Musik? Keine von uns Dreien steht besonders auf Metal und wir brauchen alle unsere Ruhe …«
Jacky sah Franzi nachdenklich an, dann lächelte sie kurz. »Ich hör oft Musik. Aber zu Hause hab ich natürlich Kopfhörer auf.«
»Na, dann ist das ja schon mal kein Problem«, meinte Alice versöhnlich. »Jede von uns hört gerne mal Musik und keine hat sich je davon gestört gefühlt.«
Franzi war noch nicht fertig. »Und wie ist das so mit deinem Job? Wenn du in einer Kneipe arbeitest, kommst du ja sicher erst spät nachts nach Hause, oder?«
»Ja. Aber ich bin ruhig, wenn ich die Wohnung betrete. Poltere nicht herum, mach keinen Lärm. Falls das deine Sorge war.«
»Das glauben wir dir natürlich«, sagte Alice schnell.
Franzi, ganz der Spürhund, ließ immer noch nicht locker. »Was ist das denn für eine Kneipe, in der du arbeitest?«
»Die heißt Rockbar, ist ’ne typische Rockerkneipe. Kommt doch mal vorbei, die ist in Giesing, nicht weit vom Bahnhof entfernt. Es gibt halt nix zu essen, nur Getränke und Musik. Die Kneipe öffnet abends um sieben und schließt gegen eins. Jeden Dienstag und Donnerstag ist Death-Metal-Abend. Sonst wird eher Hard Rock gespielt. Bier-Happy-Hour gibt’s jeden Abend von sieben bis acht.«
»So, so, Bier-Happy-Hour und Death-Metal-Abende«, murmelte Franzi mit verkniffener Miene. »Nein, danke. Das ist sicher nichts für mich … Rauchst du?«
»Ja.«
»Viel?«
»Geht so.«
»Nur Zigaretten oder auch andere Sachen?«
»Franzi!«, mahnte Alice.
Jacky lachte. »Schon gut.« Und an Franzi gewandt: »Zigaretten.«
»Also, wir mögen es nicht, wenn in der Wohnung geraucht wird. Das geht höchstens auf dem Balkon.«
»Ist okay.«
»Und dir muss auch klar sein, dass wir hier keine lauten Partys brauchen«, betete Franzi die WG-eigenen Verhaltensregeln herunter. »Wenn du Freunde einladen möchtest und ihr macht da nachts Rabatz – das geht von unserer Seite aus gar nicht.«
Langsam erwachte Olga aus ihrer Trance. »Moment mal. Nun sei doch nicht gleich so negativ. Entschuldige bitte, Jacky, Franzi schießt manchmal etwas übers Ziel hinaus. Ich nehme an, du hast nicht vor, hier laute Partys zu veranstalten und bist auch sonst rücksichtsvoll, was Lärm, Rauch und so weiter betrifft. Das hast du ja vorhin schon gesagt.«
Jacky blickte abwechselnd Olga, Franzi und Alice an, dann nickte sie.
»Gut, dann ist das ja schon mal geklärt.« Alice warf Olga einen dankbaren Blick zu. »Damit du auch weißt, wer wir sind: Also ich bin dreiunddreißig, arbeite als Verkäuferin und meine größte Leidenschaft ist das Schreiben. Außerdem lese ich viel und bin gerne draußen in der Natur. Musik liebe ich auch, stehe aber eher auf Klassik. Ich wohne schon seit zwölf Jahren in der WG und fühle mich hier echt wohl.« Sie sah Olga an, die den Faden aufgriff.
»Und ich bin zweiunddreißig, komme ursprünglich aus Polen, lebe aber schon fünfzehn Jahre in München. Ich studiere im ersten Semester Soziale Arbeit. Vorher habe ich als Krankenschwester gearbeitet, am Wochenende jobbe ich noch immer in der Klinik, um ein bisschen Geld zu verdienen. Was noch? Ach ja, ich koche und backe gerne, außerdem stricke und häkele ich, um mich zu entspannen.«
»Olga ist eine tolle Köchin«, lobte Alice. »Eigentlich die Einzige von uns, die das wirklich gut beherrscht und sich Zeit dafür nimmt. Nicht wahr, Franzi?«
Die zuckte unmotiviert mit den Schultern. »Ja«, sagte sie nur.
»Willst du dich nicht auch kurz vorstellen?«, fragte Alice.
»Hm, na gut«, machte Franzi. »Also ich bin vierunddreißig, arbeite als Sekretärin und mache gern Sport.«
»Sie macht Krafttraining und Kickboxen«, ergänzte Olga. »Franzi ist topfit. Und was ich noch sagen will, damit du gleich Bescheid weißt: Wir beide sind schon seit drei Jahren ein Paar. Alice ist auch lesbisch, aber sie ist momentan Single.«
Alice unterdrückte ein Stöhnen. Das hatte Olga ja wahrlich elegant gelöst! Wie ihre potenzielle neue Mitbewohnerin wohl auf diese plumpe Überleitung reagierte? Und das direkt nach Franzis unangenehmen Verhör? Vorsichtig musterte Alice die blauhaarige Metal-Sängerin mit den grünen Augen. Jacky trank in aller Ruhe einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse ab und nickte.
»Okay.«
Alice räusperte sich. »Ähm, ja, so ist das. Wir sind eine lesbische WG. Das hat sich einfach so ergeben.«
»Das war schon auch Absicht«, preschte Olga vor. »Wir fanden es immer gut, eine Lesben-WG zu führen. Es macht manche Dinge leichter und unkomplizierter. Senkt den Erklärungsbedarf. Jacky, wie ist das denn bei dir, wenn ich fragen darf: Bist du im Moment Single oder mit jemandem zusammen?«
Alice hätte sich in dem Moment am liebsten unsichtbar gemacht. Olga trampelte ungeschickt wie ein Riesen-Bergtroll auf ihr Ziel los! Mit heißen Wangen sah sie Jacky an. Doch die blieb weiterhin unaufgeregt, nahm sich ein Plätzchen und biss davon ab.
»Ich bin im Moment mit niemanden zusammen«, sagte sie nur und kaute. Dann schickte sie ein kurzes Lächeln an Alice. Es war verschmitzt und ihre Augen funkelten amüsiert, aber keinesfalls verärgert. Sicher war ihr aufgefallen, wie Alice vor lauter Fremdschämen rot geworden war – bei ihrem hellen Teint sah man das immer sofort – und sie verstand Jackys Lächeln als Aufforderung, sich nun ebenfalls zu entspannen und die groteske Situation mit Humor zu nehmen. Für Jacky war wohl weiterhin alles »okay«, sie wunderte sich anscheinend noch nicht mal über Olgas aufdringliche Fragen. Auch Franzis von Vorurteilen strotzendes Verhör hatte sie kein bisschen aus der Ruhe gebracht. Das war schon beeindruckend, diese Gelassenheit. Und sympathisch noch dazu. Alice lehnte sich ein bisschen zurück, schickte ein kleines Schmunzeln an Jacky und ihre Wangen kühlten wieder ab.
»Dann bist du also Single«, fuhr Olga fort, die anscheinend kein Halten mehr kannte. »Ich frage deshalb, weil wir es vermeiden möchten, dass wir hier ständig Männerbesuche haben. Wie ist das bei dir? Hast du viele Männerbekanntschaften?«
Jacky lachte kurz auf. »Ich? Nein. Hab ich nicht.«
»Na, dann ist ja gut«, erwiderte Olga einigermaßen zufrieden. »Tut mir leid, dass ich so nachhake, ich weiß ich bin da sehr indiskret, aber manche Dinge sind mir eben wichtig, wenn es um unsere neue Mitbewohnerin geht. Ich hoffe, du kannst das verstehen.«
Jacky grinste. »Ja, ist okay. Alles cool. Frag mich nur. Ich find’s gut, wie direkt du bist. Kein verstecktes Drumherum, keine Schnörkel, das ist klar und ehrlich.«
Bei Olga fiel daraufhin die letzte Hemmungsschranke. »Und? Bist du nun lesbisch oder nicht?«
Jacky schien kurz zu überlegen.
»Ganz ehrlich? Ich komm mit diesen Schubladen nicht klar … Was soll ich sagen? Ich denke, das Meiste im Leben besteht aus Zwischentönen und Tendenzen, aber nie aus klaren Trennlinien. Vor allem wenn es um das Innere des Menschen geht. Da drin ist in jedem eine Menge los und es wäre absurd, alles immerzu in bestimmte Kategorien pressen zu wollen. Ich konnte mit den Begriffen lesbisch, bi und hetero noch nie viel anfangen – eher noch mit bi – wenn man sich das als breites Spektrum vorstellt, wo es unzählige Nuancen gibt. Aber egal, wie auch immer – ich hab’s im Moment generell nicht so mit der Liebe, egal in welcher Schattierung und Farbe. Und ich hab echt nicht vor, hier ständig Liebhaber oder Liebhaberinnen zu empfangen. Ich hoffe, es ist für dich okay, wenn ich nicht mehr dazu sage.«
»Äh ja – natürlich«, beeilte sich Olga zu sagen. »Das war … eine spannende Antwort. Darüber muss ich erst mal nachdenken …«
»Also ich kann da mitgehen«, sagte Franzi bedächtig. Ihre Mimik hatte sich in den letzten Minuten immer mehr entspannt. Inzwischen wirkten ihre Gesichtszüge fast schon freundlich. »Menschen sind eben sehr vielseitig und verschieden.«
Jackys Augen funkelten keck, sie grinste. »Habt ihr noch Fragen? Ich bin leise – zu jeder Uhrzeit, rauche nur auf dem Balkon, nehme keine illegalen Drogen, hetero bin ich auch nicht und ich will hier bestimmt keinem auf die Nerven gehen. Außerdem bin ich stubenrein und pflegeleicht. Versprochen.«
Franzi nickte. »Gut. Alles klar. Für mich ist vorerst alles geklärt. Ich zeig dir jetzt das freie Zimmer und den Rest der Wohnung. Danach können wir uns noch mal in der Küche zusammensetzen.«
Im nächsten Moment waren die Zwei aus der Küche verschwunden. Alice und Olga sahen sich schweigend an, dann stand Olga auf, ersetzte die billigen Plätzchen mit den selbstgebackenen, die sie sogar hübsch auf einem Teller anrichtete und setzte sich wieder. Alice lächelte ihr zu und zwinkerte. Sie lächelte still zurück. Beide spitzten die Ohren, schwiegen und lauschten. Durch die offene Küchentür konnten sie Franzis Erklärungen hören.
»Und das hier … Bad … sogar mit ordentlicher Wanne … Alice’ Refugium … mein und Olgas Zimmer.« Von Jacky war wenig zu hören, nur hin und wieder ein »okay« oder ein »cool«. Als sie kurz darauf von der Besichtigung zurückkamen, wirkten beide recht entspannt und guter Dinge.
»Und die Küche kennst du ja schon«, schloss Franzi ihre Ausführungen. »Manchmal essen wir hier alle gemeinsam, oft aber auch getrennt, je nach Lust und wie es zeitlich passt. Das ist alles recht frei und unkompliziert. Olga ist die Einzige von uns, die richtig kocht, Alice und ich haben weder Talent noch Lust dazu.«
»Bin auch nicht so die Köchin«, erklärte Jacky.
»Und? Wie gefallen dir die Wohnung und das Zimmer?«, fragte Olga.
»Schön. Passt alles, auch der Preis. Viel mehr könnt ich nicht ausgeben, aber so geht’s schon.«
Olga lächelte. »Das klingt doch gut. Wollt ihr beide euch nicht setzen? Ich hab kürzlich Weihnachtsplätzchen gebacken. Wenn du willst, greif zu!«
Sie deutete auf den Teller, auf dem sie in Kreisform ihre neuesten Back-Kreationen drapiert hatte.
Jacky sah auf die kleinen Gebäckstücke und grinste. Ihr Blick glitt von Olga zu Franzi, dann zu Alice. Drei freundliche Gesichter sahen zurück. Da setzte sie sich und griff nach einer Kokosmakrone.
»Wow, danke. Die sehen echt schön aus. Hab schon ewig keine selbstgebackenen Plätzchen mehr gegessen.«
Alice spürte einen Stich im Herz. Da fror diese Jacky wochenlang in ihrer alten Bruchbude ohne funktionierende Heizung und Warmwasser – und hatte in der Weihnachtszeit noch kein einziges selbstgebackenes Plätzchen verzehrt. Das musste sich ändern! Sogleich wunderte sie sich über ihre eigenen Gedanken. Ich glaub, ich hab Jacky jetzt schon gern . Und ich will, dass sie hier einzieht.
Letzteres stellte sich dann als ziemlich unkompliziert heraus. Nachdem die vier Frauen noch ein wenig geplaudert hatten und Jacky einige Plätzchen gegessen und eine weitere Tasse Kaffee getrunken hatte, verabschiedete sie sich freundlich mit den Worten: »Danke. War nett bei euch. Die Plätzchen sind der Hammer, Olga. Wär cool, wenn’s mit dem Zimmer klappt.«
Als sie dann zu dritt am Küchentisch saßen, stimmten sie über Jackys Einzug ab. Zwei Hände hoben sich sofort. Franzi zögerte noch kurz.
»Wenn sie sich doch als laut und dreckig herausstellt, werfen wir sie wieder raus, okay? Wilde Sauf- und Musikergelage will ich hier nicht haben!«
»Ja, keine Sorge, das machen wir«, erwiderte Olga. »Geben wir ihr doch eine Chance. Sie wirkt ja ganz vernünftig, wenn man sich ihr Outfit, die Tattoos und Piercings wegdenkt. Und ich glaube ihr, dass sie hier kein Chaos macht und vor allem auch keine Männer mit in die Wohnung bringt.«
»Ich will auch, dass sie einzieht«, sagte Alice bestimmt. »Ich denke, Jacky ist eine sehr nette und umsichtige Person. Sie wird uns bestimmt keinen Ärger machen.«
»Na gut«, meinte Franzi und hob ebenfalls die Hand. »Dann will ich mal nicht so sein. Jacky hatte ja gute Antworten auf alles und hat sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sogar bei Olgas Männer- und Lesbenfragen. Außerdem hat mir ihre Meinung zur Liebe gefallen. Ich glaub, sie hat auch was im Kopf.«
Damit war alles geklärt. Sie hatten eine neue Mitbewohnerin gefunden. In dreieinhalb Wochen würde Jacky bei ihnen einziehen.
Zwei Tage später war Heiligabend. Alice saß gerade in der U-Bahn, auf dem Heimweg von der Arbeit. Sie hatte bis vierzehn Uhr in der Toy Box gearbeitet und der Laden war mehr als nur gut besucht gewesen. Jedem Kunden, der heute bei ihr eingekauft hatte, hatte Alice ein kleines Schokoherz in roter Verpackung mit der Aufschrift »Love« geschenkt. Ein kleines Weihnachtspräsent. Das hatte sie vor ein paar Tagen ihrer Chefin vorgeschlagen, die sofort einverstanden gewesen war. Weihnachten war schließlich nicht ein Fest der Triebe, sondern der Liebe. Natürlich war beides zusammen eine tolle Sache, aber gerade am Heiligen Abend sollte man doch mehr an das Herz als an das Höschen denken, fand Alice.
Ach, Liebe  … sinnierte sie in der U-Bahn und fühlte sich plötzlich ganz einsam und verloren. Nicht nur, weil sie wieder Single war – daran hatte sie sich schon fast gewöhnt –, sondern auch, weil sie Weihnachten immer wieder über ihre Familie und die Menschen in ihrem Umfeld nachgrübeln musste. Wer liebte sie eigentlich wirklich? Ihre Eltern vielleicht, aber sie wussten es sehr gut zu verbergen.
Es gab eigentlich nur Franzi und Olga, ihre beiden engsten Freundinnen, die ihr immer wieder deutlich zu verstehen gaben, dass sie ihnen am Herzen lag. Und sonst? Ihre Kollegin Nadja war stets sehr liebenswürdig ihr gegenüber und dann waren da noch Babs und Gisi, zwei Freundinnen, mit denen sie sich gelegentlich traf. Aber wenn es um echte, innige Liebe ging, um eine starke Bindung oder beständigen Halt, sah es in ihrem Leben eher trüb aus. Immerhin würden sie heute Abend in der WG das fünfte Mal gemeinsam Weihnachten feiern, das würde sicher schön werden …
Es war Tradition geworden, dass die WG-Mitglieder den Heiligen Abend zusammen verbrachten und am ersten Weihnachtstag getrennte Wege gingen, um ihre Eltern zu besuchen. Alice fuhr nach Poing, einem Dorf in der Nähe von München, Franzis Weg führte nach Schwabing, Olga reiste nach Krakau. Die WG war inzwischen wie eine Familie zusammengewachsen, eine Familie, die sich aus freier Entscheidung zusammengefunden hatte, nicht eine, in die man hineingeboren worden war und zu der man gehörte, ob man wollte oder nicht. Und leider oft auch – ohne wirklich gemocht zu werden.
Alice seufzte. Sie sah aus dem trüben U-Bahnfenster, der Weihnachtschor, der aus ihren Kopfhörern drang, stimmte sie nur noch melancholischer. Na klar, auch in der WG lief nicht alles perfekt und es gab manchmal Ärger, aber sie interessierten sich füreinander, wünschten einander das Beste und waren für die jeweils anderen da. Es würde heute Abend sicher wieder schön und gemütlich werden. Ihr graute nur vor den kommenden beiden Tagen.
Morgen würde sie auf ihre dominante, rechthaberische Mutter treffen, die sie schon öfter hatte wissen lassen, wie sehr sie sich für Alice schämte. Weil sie lesbisch war und weil sie in einem Sexladen arbeitete und weil sie aus ihrem Leben nichts Richtiges machte und nichts auf die Reihe bekam. Alice’ Schwester, die Vorzeigetochter, würde auch da sein. Sie war mit einem erfolgreichen Juristen verheiratet, hatte zwei Kinder, und wohnte in einer riesigen Villa im Münchner Luxus-Stadtteil Bogenhausen.
Oh, es würde wieder grässlich werden. Ein Tag voller mehr oder weniger verdeckter Vorwürfe und Vergleiche mit ihrer ach-so-tollen Schwester.
Übermorgen – bei ihrem Vater – würde es nicht ganz so destruktiv zugehen, dafür ungemein zäh, lieblos und stumpf. Ihm schien alles egal zu sein, nichts interessierte ihn, außer Volksmusiksendungen und stupide Reality-Serien, die er von seinem alten Sofa aus im Fernsehen verfolgte. Seit er in Rente war, bestand sein Leben nur noch darin, sich auszuruhen und lustlos in seinen Lebensabend hinein zu vegetierten. Wenn Alice ihn besuchte, empfing er sie eher gleichgültig, sprach wenig, begab sich gleich nach dem Mittagessen auf das Sofa und schaltete die Flimmerkiste ein. Ihre Mutter bezeichnete ihrem Ex-Mann gern einen »alten Waschlappen«, ihr Vater seine Ehemalige als »bösen Drachen«.
Alice war bei der Trennung ihrer Eltern zwölf Jahre alt gewesen. Die Ehe war eine einzige zänkische Katastrophe aus Vorwürfen und angestautem Frust gewesen und eine Scheidung damals die einzig sinnvolle Lösung. Seit sie von zu Hause ausgezogen war, pflegte sie losen Kontakt zu beiden Elternteilen, der sich auf einige Telefonate im Jahr und ein paar Zusammenkünfte beschränkte – der obligatorische Weihnachtsbesuch gehörte zwingend dazu. Manchmal überlegte sie, ob sie die Besuche nicht einstellen sollte, doch dann verwarf sie diesen Gedanken wieder. Es waren schließlich immer noch ihre Eltern, auch wenn sich ihre Mutter für sie schämte und sie ihrem Vater scheinbar völlig egal war.
Zu Hause angekommen nahm Alice ein ausgiebiges Bad. Eine Stunde später betrat sie erholt, frisch gekleidet und frisiert das Wohnzimmer. Dort waren Franzi und Olga schon eifrig beim Baumschmücken. Sie beobachtete die beiden bei ihrem regen Tun: Natürlich musste mal wieder ein Kompromiss geschlossen werden. Franzi mochte den Baum bunt und chaotisch, Olga hätte am liebsten nur rote Kugeln und silberne Anhänger verwendet, weil dies harmonischer aussah, wie sie Alice nun erklärte. Die beiden hatten sich zwar darauf geeinigt, nur rote Kugeln zu verwenden und die gelben, grünen und blauen im Karton zu lassen, dafür durfte sich Franzi bei den restlichen Anhängern austoben.
Alice begann, den beiden bei der Verzierung des Baumes zu helfen. Bald hingen neben den silbernen Engeln und Sternen auch Strohsterne und gelbe Sonnenblumen aus Holz – Alice’ Lieblingsschmuck, den Olga ihr gerne zugestand – sowie Franzis bunte Vögel, rosa Weihnachtsmänner, braune Hunde und grün-goldenen Gurken – letztere gefielen Olga gar nicht, wie man ihr deutlich ansehen konnte. Als der Baum schließlich in weihnachtlichem Kitsch mit viel Glitzergemüse zwischen den edlen roten Kugeln erstrahlte und sie zu dritt ihr Werk für vollendet erklärten, wirkte Olga trotzdem einigermaßen zufrieden. Franzi gab ihr einen herzhaften Kuss, welchen sie sanft erwiderte.
Danach aßen sie in der Küche zu Abend. Es gab Olgas leckeren veganen Gemüse-Nudelauflauf, dazu Putenschnitzel für Franzi und Alice. Es wurde ein harmonisches gemeinsames Mahl, wobei die Freundinnen über die Ereignisse der letzten und die der kommenden Tage plauderten. Als Franzi den bevorstehenden Besuch bei ihren Eltern erwähnte und dabei vor Vorfreude strahlte, fühlte sich Alice erneut sehr elend. Es war, als krampfe sich ihr ganzer Brustkorb zusammen. Sie legte die Gabel nieder und spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen.
Olga, die eine feine Antenne für ihre Mitmenschen besaß und von ihrem Eltern-Problem wusste, sah sie mit sanftem Blick an und legte eine Hand auf ihren Arm.
»Sei bitte nicht traurig. Reden wir über was anderes, ja? Ach, ich habe übrigens zum Nachtisch eine Mousse au Chocolat gemacht, weil du sie so gerne magst. Steht im Kühlschrank.«
»Oh«, machte Alice. »Das ist lieb. Hast du die Mousse wirklich wegen mir gemacht?«
»Na klar, Liebes. Du hast es verdient, dass sich jemand auch mal um dich kümmert.«
Da spürte Alice, wie ihr eine kleine Träne über die Wange lief. Sie wischte sie sofort weg. Ach je … am Weihnachtsabend war sie wirklich besonders sensibel.
»Mensch Olga, du bist Klasse!«
»Ach, das ist doch normal.«
Olga drückte sanft Alice’ Arm, auf dem noch immer ihre Hand lag.
Olgas Mousse war einfach nur köstlich. Alice aß davon zwei Schälchen, bis wirklich gar nichts mehr in sie hineinging. Sie murmelte mehrfach »Mhmmm, war das lecker« und bedankte sich noch einmal. Zugleich spürte sie eine satte Trägheit nahen, doch bevor sie diese richtig einholen konnte, sprang Olga schon auf und brachte Bewegung in die Dreier-Runde.
»Lasst uns schnell den Tisch abräumen und die Sachen in den Geschirrspüler stecken! Ich glaub nämlich, das Christkind kommt jeden Moment.«
Wenig später, nachdem jede heimlich ihre Geschenke für die anderen unter die Zweige des Baums geschoben hatte, läutete Olga das Weihnachtsglöckchen und sie trafen alle sich im Wohnzimmer wieder. Sie setzten sich vor den Weihnachtsbaum und taten einen Moment lang so, als staunten sie über die überirdische Bescherung des Christkinds. Dann begann das Auspacken der Geschenke.
Franzi war als Erste dran. Sie war begeistert über den kuscheligen Schal und den Eierwärmer für ihr tägliches Frühstücksei, die Olga für sie gestrickt hatte. Auch über Alice’ hübsch verpackte Hanteln freute sie sich. Olga bekam von Franzi einen Gutschein für ein gemeinsames Wellness-Wochenende und von Alice edle indische Gewürze. Olga schenkte Alice zwei gestreifte Kuschelsocken in ihren Lieblingsfarben gelb und hellblau – natürlich selbst gestrickt.
Dann wurde Alice von Franzi freundlich in den Arm gestupst.
»So, nun musst du aber noch mein Geschenk aufmachen. Ich bin gespannt, was du dazu sagst.«
»Na klar«, erwiderte sie und griff nach dem rechteckigen gelben Päckchen, auf dem ein gelber Umschlag geklebt war. Zuerst öffnete sie das Paket und fand darin eine Ausgabe von Alice im Wunderland , mit wunderschönen Aquarellzeichnungen versehen.
»Oh, danke«, sagte Alice freudig, während sie in dem Buch blätterte.
Franzi lächelte. »Du bist ja ein bisschen wie Alice im Wunderland , so verträumt und mit so viel Fantasie. Aber das in dem Umschlag, das ist eigentlich das Hauptgeschenk. Na los, mach schon auf!«
Neugierig öffnete sie den Umschlag und holte eine Karte heraus. Sie las: »Gutschein für eine Premiummitgliedschaft – Queer-Elite  – die exklusive Online-Partner-Börse für lesbische Frauen. Mit gezielten Partnervorschlägen und Partnervermittlungen. Bei uns finden Sie garantiert Ihr Liebesglück! Laufzeit: sechs Monate.« Alice’ Mund formte ein O.
»Was ist? Freust du dich?«, fragte Franzi aufgeregt. »Keine Sorge, ich helfe dir auch dabei, dein Profil einzurichten und so. Das ist die beste Partnerbörse, die es derzeit für lesbische Frauen gibt. Da wirst du sicher die Richtige finden, glaub mir! Du musst es nur versuchen!«
Alice sah in Franzis vor Eifer gerötetes Gesicht und beschloss, ihr etwas Freude vorzuspielen. Sie meinte es gut, auch wenn sie bisweilen zu sehr drängte. Also lächelte sie und umarmte ihre etwas übermotivierte Freundin.
»Danke. Wenn das so ist, werde ich Queer-Elite wohl ausprobieren müssen.«
»Versprichst du mir das?«
»Ja, ich verspreche es.«
Franzi lächelte und lehnte sich zufrieden zurück.
Den restlichen Abend verbrachten sie auf dem Sofa, tranken Olgas selbst gebrauten Weihnachtspunsch und plauderten fröhlich. Dabei sprachen sie auch ein wenig über Jackys Einzug – sie alle freuten sich auf ihre neue Mitbewohnerin, wenngleich Franzi inzwischen schon wieder Bedenken hatte. Ob sie wirklich leise war? Eine Metal-Musikerin, leise? Hoffentlich habe der gute Eindruck beim Bewerbungsgespräch nicht getäuscht …
Als potenzielle Partnerin für Alice schien Franzi Jacky jedenfalls nicht zu betrachten, sonst hätte sie bestimmt begeisterter über sie gesprochen und vor allem Alice’ Ansichten erforscht. Franzi hatte sich anscheinend auf die Online-Partnerbörse versteift und schien fest davon überzeugt zu sein, dass Alice dort ihre künftige Traumfrau kennenlernen würde, wenn sie sich nur Mühe gab. Doch auch zu diesem Thema bohrte Franzi nicht allzu lange nach und beließ es bei »Das wird schon«- und »Wirst schon sehen«-Sätzen.
Olga benahm sich Alice gegenüber den ganzen Abend lang besonders reizend. Vielleicht lag es an ihrer heiteren Weihnachts- und Punschstimmung in Kombination mit dem Bedauern, das sie für Alice empfand, was deren schwierige familiäre Konstellation betraf. Olga war in solchen Dingen sensibel und reagierte manchmal überfürsorglich.
Außerdem beteuerte sie immer wieder, wie schön es war, Heiligabend mit ihrer Partnerin und besten Freundin zu verbringen und wie kostbar es war, Menschen um sich zu haben, die einem am Herzen lagen. Zu späterer Stunde, schon deutlich beschwipst, nannte sie Alice gar »eine wahre Perle« und »einen der liebenswürdigsten Menschen, den ich kenne«.
Olga wankte merklich, als sie gegen Mitternacht mit Franzi den Rückzug in ihr Zimmer antrat. Sie vertrug nicht viel Alkohol, was wohl auch an ihrer geringen Körpermasse lag – sie wog keine fünfzig Kilo. Zwei Tassen Punsch genügten für einen kleinen Rausch und der machte sie auf eine liebenswerte Weise sehr emotional und überschwänglich.
So wurde es insgesamt einer der schönsten Weihnachtsabende, die Alice bisher erlebt hatte. Als sie sich wenig später in ihr Bett kuschelte und Nani an sich drückte, war sie rundherum zufrieden und glücklich. Mit leicht schummrigem Kopf vom Punsch und einem Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.
Die beiden Weihnachtstage abwechselnd bei Mutter und Vater waren wie erwartet sehr zäh, lieblos und extrem deprimierend gewesen. Alice fuhr an beiden Abenden mit leichten Kopfschmerzen und prall gefülltem Bauch nach Hause. Obwohl sie total mit deftigem Mittagessen und süßem Gebäck vollgestopft war, fühlte sie sich innerlich völlig leer. Sie brauchte einige Tage, um sich von dem Frust zu erholen, der sich bei beiden Besuchen in ihr festgesetzt hatte.
Silvester hingegen verlief deutlich vergnügter und entspannter. Franzi und Olga waren von ihren Familienbesuchen zurück und Alice feierte mit ihren Freundinnen in der WG. Als die Frauenrunde kurz vor Mitternacht zu den Vorsätzen für das neue Jahr kam, fiel Franzi natürlich die Partnerbörse ein. Sie war angetrunken und deshalb besonders vehement und nachdrücklich.
»Du musst dir unbedingt Queer-Elite ansehen, Alice! Du sollst dich im neuen Jahr verlieben! Eine tolle Partnerin wünsche ich dir!« Alice wollte das Thema wechseln, aber Franzi ging wie befürchtet nicht darauf ein: »Wie wär’s mit morgen? Morgen haben wir beide frei. Und dann legen wir ein tolles Online-Profil für dich an, ja? Versprochen?«
Alice nickte, damit das Thema endlich wieder vom Tisch war.
Als sie am nächsten Vormittag leicht verkatert in der Küche an ihrem Kaffee nippte, kam Franzi herein, und nagelte sie endgültig auf die Registrierung bei Queer-Elite fest. Wenig später saßen die beiden an Alice’ Schreibtisch und sie füllte ein Formular am Computer aus, dazu einen Persönlichkeitstest, der dreißig Fragen umfasste. Franzi gab ihr laufend Ratschläge, was sie schreiben sollte. Nachdem Alice die Sache ohnehin nicht am Herzen lag und sie die Anmeldung so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte, ging sie auf die meisten Tipps von Franzi ein und ließ sich sogar Antworten diktieren. Eine Stunde später waren sie mit dem Anlegen des Profils und dem Beantworten des Tests fertig. Franzi war sichtlich zufrieden und ließ sich ein High-five geben.
»So und nun schauen wir uns gleich mal die Partnervorschläge an!«
»Können wir das nicht ein anderes Mal machen? Oder ich sehe mir die alleine an, so nach und nach?«
»Ach, papperlapapp!«, sagte Franzi. »Du schreibst jetzt mindestens drei Frauen an, erst dann gebe ich Ruhe. Man muss dir manchmal auf die Sprünge helfen, wenn es um dein eigenes Glück geht. Das hab ich schon kapiert.«
»Na gut, dann schreiben wir eben drei Frauen an.« Alice stöhnte. »Aber ab dann mach ich ganz alleine weiter. Und du drängst mich auch nicht mehr. Weder heute noch in den nächsten Wochen oder Monaten.«
»Darf ich wenigstens hin und wieder nachfragen, was sich getan hat?«
»Ja klar, das darfst du mich fragen. Mehr aber nicht.«
Franzi seufzte. »Na gut. Ich versteh schon. Ich lass dich dann selbstständig machen und mische mich nicht mehr ein. Aber jetzt lass uns mal schauen, welche Frauen dir so vorgeschlagen werden …«
Es gab einundzwanzig Auserwählte für Alice. Die Fotos der Frauen waren verschwommen und die Gesichter kaum zu erkennen. Queer-Elite stellte das so ein, damit man seine Wahl nicht aufgrund der Optik traf. Man sollte sich zuerst nach den Persönlichkeitsprofilen richten. Später konnten die kontaktierten Frauen genehmigen, dass ihr Foto für bestimmte Personen freigeschaltet wurde. Alice und Franzi lasen gemeinsam die Profile der empfohlenen Frauen durch und einigten sich auf drei potentielle Kandidatinnen.
Die eine, Paula, war dreiunddreißig Jahre alt, las, genau wie Alice, gerne Liebesromane, war nach eigenen Angaben sehr romantisch, mochte klassische Musik und Tiere und lebte ebenfalls in München. Sie hatte, laut Profil, die meisten Ähnlichkeiten mit ihr, daher wurde sie auf der Liste ganz oben genannt. Die zweite Frau, hieß Jenny, war fünfunddreißig und wohnte in Augsburg. Sie war ebenfalls tierlieb und außerdem aktiv und sportlich.
»Es würde dir guttun, mal eine Partnerin zu haben, die dich auch sportlich ein bisschen mitreißt«, kommentierte Franzi. »Sport ist gesund und außer hin und wieder ein bisschen Radfahren oder Spazierengehen, tust du ja rein gar nichts.«
Alice nickte gleichgültig, also wurde auch Jenny angeschrieben.
Frau Nummer drei hieß Erika, war genau wie sie dreiunddreißig, wohnte in München und war von Beruf Grafikerin. Außerdem betätigte sie sich in ihrer Freizeit künstlerisch, malte, zeichnete und fotografierte. Alice hatte sie sich ausgesucht, weil sie kreative Menschen mochte und es ja möglich war, dass sich da ein spannender Austausch ergab.
Doch eigentlich langweilte sie der Gedanke an das erste Kennenlernen mit den Frauen jetzt schon, egal ob Künstlerin oder Sportlerin. Dieses Abklopfen: Was machst du beruflich? Welche Hobbys hast du? Gehst du öfter aus? Wenn ja – wohin? Was machst du sonst so? – konnte wie eine anstrengende Mühle sein, wie ein Fragebogen, den es immer wieder neu abzuarbeiten und zu beantworten galt. Sie hatte ausreichend Erfahrungen mit dieser Art von Dates gemacht – oft über Lesbenplattformen oder Kontaktanzeigen vereinbart – und sie war davon irgendwann müde geworden.
Es war tatsächlich so: Oft war da dieser erste Zauber, dieser Reiz eines ersten Treffens, wenn einem die Unbekannte noch geheimnisvoll und unergründlich erschien. Doch dieser löste sich in den meisten Fällen schon nach Minuten eines Gesprächs auf, manchmal auch erst beim zweiten oder dritten Date. Weil das Geheimnisvolle, das Alice zu spüren glaubte, wenn eine Frau ruhig oder zurückhaltend war, sich oft als leere Blase herausstellte. Nein, es war nicht immer mehr dahinter, wenn eine Frau wenig redete. Manchmal gab es einfach nicht mehr zu erzählen.
Auch musste unter einer taffen, pragmatischen Oberfläche einer Frau nicht zwangsläufig eine zarte, sensible Seele verborgen sein, ein Schatz, der nur darauf wartete, endlich geborgen zu werden. Manche Frauen waren eben einfach klar, kühl und geradeaus. Und dann gab es noch diese »Eislesben«, die nach außen auf cool und unantastbar machten, weil sie innerlich so unsicher waren. So wie Lara. Alice hatte aber auch bei ihr keine Motivation mehr gehabt, das Eis abzukratzen. Am Schlimmsten aber waren die »Jammer-Lesben«, die ständig über ihr Unglück in der Liebe klagten und darüber lamentierten, wie schlecht von ihren bisherigen Partnerinnen behandelt worden waren … diese Art von Frauen erkannte sie inzwischen blind, nach den ersten Sätzen. Da wusste man wenigstens von Anfang an, dass daraus nichts werden konnte.
Nachdem Alice die ausgewählten Frauen kontaktiert hatte, gab Franzi erst einmal Ruhe. Es war kaum zu glauben: Sie hielt sich an ihr Versprechen und bedrängte sie in den kommenden Wochen kaum mit Fragen nach dem aktuellen Stand der Dinge. Das lag wahrscheinlich auch daran, dass Franzi und Olga gerade sehr mit langwierigen Auseinandersetzungen beschäftigt waren. In denen ging es um Olgas zeitaufwendiges Studium und ihr daraus resultierendes permanentes Gestresst-sein. Auch, dass Olga an den Wochenenden halbtags arbeitete, ständig für irgendwelche Prüfungen lernte und somit kaum mehr Zeit für Franzi hatte, trübte die Stimmung und schuf immer neues Konfliktpotenzial.
Alice loggte sich in den ersten drei Wochen nach ihrer Anmeldung nur einmal bei Queer-Elite ein. Die Künstlerin Erika und die Sportlerin Jenny hatten ihr geschrieben. Alice antwortete nur kurz und vergaß dann, nach einer Reaktion der beiden zu sehen. Wobei »vergessen« nicht das richtige Wort war. Irgendwo in ihrem Hinterkopf war das Thema schon präsent, sie hatte nur einfach keine Lust, sich weiter darum zu kümmern. Viel mehr Interesse hatte sie, sich mit ihrem Roman auseinanderzusetzen, denn dort ging es gerade richtig gut voran. Würde Sie das jetzige Tempo durchhalten, könnte sie in ein bis zwei Monaten tatsächlich fertig sein. Kaum zu fassen!
Ob ihr Manuskript dann wirklich die finale Fassung angenommen haben würde, jedenfalls die Fassung, die sie an Verlage schicken konnte? Dass der Moment nahte, das Buch soweit zu haben, um es mit gutem Gewissen aus den Händen geben zu können, war für Alice sehr aufregend und motivierend und ihr zukünftiges Liebesleben daher zweitrangig.