Kapitel 3
An einem Donnerstag Mitte Januar, zwei Tage vor Jackys Einzug, stand Alice in der Toy Box und langweilte sich ungemein. Nur vereinzelt kamen Kunden und die meisten sahen sich nur um, ohne etwas zu kaufen. Das Weihnachtsgeschäft war vorbei, der nächste, jedoch deutlich kleinere Boom war erst kurz vor dem Valentinstag zu erwarten. Alice verbrachte die kundenlose Zeit damit, die Regale zu sortieren, träumend aus dem Schaufenster zu sehen und passende Musik für das Geschäft auszuwählen. Ihre heutige Schicht dauerte von acht bis vier, gegen halb vier würde ihre Kollegin Nadja kommen, die dann bis zum Ladenschluss übernahm. Alice freute sich schon sehr auf die Ablöse und auf einen kurzen Plausch mit ihrer Kollegin.
Gegen halb zwei, als Alice gerade gedankenverloren die Kondome im Regal zurechtrückte, zeigte ihr das Klingeln an, dass jemand den Laden betreten hatte. Sie kam hinter dem Regal hervor und sah der Person entgegen, die zielstrebig und mit schwungvollen Schritten auf sie zukam. Sofort war es vorbei mit der Langeweile. Verdammt … Joanna! Was machte die denn hier?!
»Hey!«, rief Joanna.
Im nächsten Moment stand sie direkt vor ihr, ihre hellblauen Katzenaugen funkelten lebhaft, ihre vollen Lippen formten ein bezauberndes Lächeln und ein Hauch eines sehr aufregenden Parfums wehte Alice entgegen.
»Wie geht’s dir, Alice?«
»Gut, danke.«
»Ich bin hier, weil ich dich sehen wollte. Du hast dich ja nicht bei mir gemeldet. Das fand ich übrigens sehr schade.«
Alice räusperte sich. »Ich wusste nicht recht, ob es gut wäre, dich wiederzusehen.«
Joanna musterte sie aufmerksam.
»Warum? Wegen der Sache damals?«
Alice atmete tief durch und versuchte dem Blickkontakt standzuhalten. Sie mobilisierte ihren inneren Schutzwall.
»Ja.«
Joannas Lächeln verschwand und machte einem ernsteren und zugleich sehr warmen Gesichtsausdruck Platz.
»Ich verstehe. Das war damals eine verrückte Zeit und ich weiß, dass ich mich nicht richtig verhalten habe. Das tut mir heute noch leid. Ich würde gerne mit dir darüber reden. Dir alles erklären. Aber nicht hier, an deinem Arbeitsplatz. Können wir uns nicht irgendwo treffen? Darf ich dich am Wochenende vielleicht zu einem Kaffee einladen?«
»Ach, Joanna, ich glaub nicht …«
Joanna berührte sie kurz an der Schulter.
»Ich habe dir damals sehr weh getan, oder?«
Alice nickte stumm. Ihre Schulter kribbelte.
Joanna sah sie noch immer mit diesem ruhigen, freundlichen Gesichtsausdruck an.
»Das war nicht meine Absicht, Süße, wirklich nicht. Ich war damals sehr verwirrt und unerfahren. Habe einfach drauflosgemacht, um mich auszuprobieren und meinen Weg zu finden. Hatte teilweise auch Angst vor meinen eigenen Gefühlen. Und dabei habe ich ehrliche Menschen wie dich sehr verletzt. Das war falsch. Das weiß ich jetzt. Aber ich habe mich sehr verändert, bitte glaub mir das. Gib mir wenigstens die Chance, dir alles zu erklären.«
Alice raffte all ihre Kraft und sämtliche Schutzmechanismen zusammen und spürte, wie sich ihr Körper anspannte und ihre Schläfen pochten.
»Was meinst du mit: Du hattest Angst vor deinen eigenen Gefühlen? Was heißt das? Hast du damals etwas für mich empfunden oder nicht?«
Erneut strich Joanna sanft über ihre Schulter. Sie lächelte, beinahe scheu, senkte den Blick, dann sah sie ihr wieder direkt in die Augen. In dem Moment, als sie ihren Mund öffnete, um zu antworten, erklang das Klingeln an der Tür. Mist! Warum gerade jetzt?, schoss es Alice durch den Kopf.
Ein Mann mit einem schwarzen Vollbart betrat den Laden. Joanna seufzte und sah Alice an.
»Ich will dir gerne alles sagen. Aber bitte lass uns woanders reden. Hast du am Samstag Zeit? So gegen sechzehn Uhr?«
Alice, der es so wichtig gewesen wäre, dass Joanna ihre vorige Frage beantwortet hätte und die daher ihren neuen Kunden zum Mond wünschte, nickte.
»Na gut.«
Doch dann fiel ihr ein, dass Jacky am Samstag einziehen würde. Irgendwie fände sie es schade, wenn sie da nicht in der Wohnung wäre …
»Oh warte – geht’s bei dir auch am Sonntag?«
»Tut mir leid. Am Sonntag haben wir ein wichtiges Familienfest. Die silberne Hochzeit von Mannis Eltern.«
Alice überlegte. Jacky hatte angekündigt, irgendwann im Laufe des Nachmittages zu kommen, eine Uhrzeit hatte sie nicht genannt. Na ja – wahrscheinlich war es nicht so wichtig, ob sie Jacky vor oder nach dem Treffen mit Joanna willkommen hieß.
»Also gut. Dann Samstag um vier. Wo?«
Joanna lächelte erleichtert.
»Danke, Alice. Ich danke dir wirklich. Treffen wir uns im Moritz? Ist dir das recht?«
Das Moritz. Das war das Café direkt gegenüber der Uni, in dem sie als Studentin oft gewesen war. Nach ihrem Abschluss war Alice nicht mehr hingegangen. Weil es sie zu sehr an Joanna erinnerte, auch wenn sie nur einmal mit ihr gemeinsam in dem Lokal gewesen war. Es war das Gespräch nach deren Urlaub gewesen, das sie dort geführt hatten. Bei dem sie ihr von Robert erzählt hatte, dass sie sich in ihn verliebt hatte und nun mit ihm zusammen war. Und das nur zwei Wochen nach ihrer gemeinsamen Nacht …
Alice spürte einen starken Stich in ihrem Herzen. Warum hatte Joanna ausgerechnet dieses Café vorgeschlagen? Absicht? Doch sie wollte sie nicht danach fragen. Auch, weil der bärtige Kunde mittlerweile nähergekommen war und sich suchend umsah. Er brauchte wohl Beratung.
»Ja, okay«, sagte Alice deshalb eilig. »Treffen wir uns dort.«
»Schön! Ich freue mich darauf. Bis Samstag.«
Joanna schenkte ihr noch ein bezauberndes Lächeln, drehte sich dann um und verließ die Toy Box . Ihr Verschwinden erschien Alice genauso plötzlich wie ihr überraschendes Erscheinen. Mit gemischten Gefühlen sah sie, wie ihre Gestalt am Schaufenster vorbeiging und sich dann aus ihrem Blickfeld löste. Ein brennender Schmerz machte sich in ihrer Brust breit.
»Haben Sie auch Peitschen?«
Überrascht blickte Alice den bärtigen Kunden an.
»Wie bitte?«
»Peitschen. Aus Latex. Sie wissen schon!«
»Ach, äh, ja, natürlich«, murmelte Alice. »Kommen Sie bitte mit.«
Sie führte ihren Kunden in die BDSM-Abteilung, zeigte ihm die verschiedenen Produkte, die sie vorrätig hatte. Er entschied sich für eine schwarze Peitsche mit Dildogriff. Als der Mann gegangen war, setzte Alice sich auf den Stuhl hinter der Kasse. Sie sank richtiggehend in sich zusammen, wie ein Schlauchboot, aus dem die Luft durch einen großen Riss entwichen war. Ihr Kopf war taub und leer. Nur langsam formten sich darin die ersten Gedanken … Worauf hatte sie sich eingelassen? Sollte sie sich wirklich mit Joanna treffen? Alice schloss kurz die Augen und versuchte, sich zu sammeln. Sollte sie? Oder war es nicht besser, das Treffen mit einer Ausrede einfach abzusagen? Aber ob Joanna dann lockerlassen würde? Schließlich wusste sie, wo sie arbeitete und konnte jederzeit hier hereinschneien. Nein. Es war wohl besser, sich dem Treffen zu stellen, allein schon, um endlich eine Antwort auf die seit Jahren bohrende Frage zu bekommen: Hatte Joanna jemals tiefere Gefühle für sie gehegt? Oder war es damals wirklich nur ein Spiel gewesen, ein Ausprobieren, ein kleiner Ausflug zum anderen Ufer?
Ob Joanna bei dem Treffen ehrlich auf diese Frage antworten würde, konnte Alice natürlich nicht vorhersehen. Sie traute ihr nicht. Aber sie wusste auch, dass sie ihr diese Frage trotzdem noch einmal stellen wollte, stellen musste. Jetzt, wo dieses alte Thema wieder so präsent war, wo die verborgene Kiste in ihrer Seele wieder geöffnet worden war.
Natürlich hatte Alice ihren WG-Genossinnen nichts von ihrem Treffen mit Joanna erzählt. Franzi hätte die Augen verdreht und es ihr auszureden versucht und Olga hätte sie wahrscheinlich nur besorgt und verständnislos angesehen. Gegen viertel nach drei war Alice von zu Hause aufgebrochen, Jacky hatte sich bis dahin nicht blicken lassen.
Nun stand sie vor dem Moritz und lugte durch die Scheibe. Sie war eine Viertelstunde früher gekommen. Durch das Fenster konnte man nur den vorderen Teil des Lokals sehen. Ihr Blick schweifte flink über die Gäste. Sie stellte fest, dass Joanna, wie erwartet, nicht darunter war und atmete tief durch, sie war schrecklich nervös.
Alice sah sich um. Noch konnte sie verschwinden. Noch konnte sie Joanna eine Nachricht schreiben, dass etwas dazwischengekommen war. Aber nein, das ging nicht. Es würde ihr keine Ruhe lassen. Sie wollte dieses Treffen ja selbst. Sie wollte Joanna sehen und erfahren, was sie zu sagen hatte.
Also los! Jetzt galt es, sich zu überwinden und das Café zu betreten. Denn es wäre ziemlich peinlich, wenn Joanna jetzt um die Ecke käme und sie beim Zögern vor dem Lokal ertappte. Also Brust raus, Schultern zurück, Kinn hoch, ermahnte sie sich –  und betrat das Café. Sie marschierte durchs Lokal und warf einen Blick in dessen hinteren Bereich, den sie zuvor nicht hatte einsehen können. Auch hier war Joanna nicht. Wie spät war es? Zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit.
Alice ging zu einem Tisch im vorderen Teil des Cafés, direkt neben dem Fenster. Bewusst mied sie den Platz, an dem sie vor acht Jahren mit Joanna gesessen hatte und sie … Egal. Jetzt nicht dran denken! Sie hängte ihren Mantel und ihren Schal auf den Kleiderhaken an der Wand, setzte sich und griff zur Karte. Eigentlich brauchte sie die gar nicht – sie wusste schon längst, was sie bestellen wollte – aber es fühlte sich beruhigend an, etwas in der Hand zu haben. Sie sah starr auf die Getränkeauswahl, ohne ein Wort davon wahrzunehmen. Kurz darauf kam die Bedienung und Alice bestellte einen Cappuccino, dann legte sie die Karte zur Seite. Erneut sah sie auf die Armbanduhr. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen. Okay. Joanna konnte jeden Moment das Café betreten, egal, ob es nun fünf vor oder fünf nach war … Diese blöde Uhr war also erst mal egal. Sie sollte sich lieber ein wenig zusammennehmen und sich für das Gespräch wappnen. Aber wie?
Wichtig würde sein, Joanna nicht sofort wieder zu verfallen. Egal, wie toll sie aussah und wie charmant sie sein würde. Alice musste skeptisch bleiben und ihre Antworten hinterfragen. Sie musste »bei sich bleiben«, ein Ausdruck, den Olga gerne verwendete, seit sie studierte. Klang gut und logisch, aber wie genau machte man das? Wie, wenn gerade alle Gedanken und Gefühle wie wild durcheinandergingen – und man den Eindruck hatte, nicht »bei sich«, sondern komplett »neben sich« zu stehen?
Alice verfolgte weiterhin die Zeiger der Uhr, konnte es einfach nicht lassen. Irgendwas musste sie ja tun, irgendwohin musste sie ja sehen. Und so pendelte ihr Blick von ihrem Handgelenk zur Eingangstür und zurück. Dabei schien ihr Puls jede Minute schneller zu werden. Ziemlich genau um sechzehn Uhr wurde der Cappuccino serviert. Alice streute mit zittriger Hand Zucker auf den Milchschaum und rührte mit dem Löffel zweimal um. Nippte an ihrem Getränk und kehrte zurück zur Routine: Uhr – Eingangstür – und zurück. Noch keine Joanna. Alice kam sich vor wie ein aufziehbares Spielzeug, das nur diese immer gleichen Bewegungen vollführen konnte. Fünf Minuten nach vier. Noch immer keine Joanna. Alice rührte, nippte und atmete tief durch. Auch nach weiteren fünf Minuten war sie nicht in Sicht.
Alice überlegte. Joanna hatte ihre Handynummer nicht. Sollte ihr etwas dazwischengekommen sein, konnte sie sie nicht benachrichtigen. Dafür hatte Alice aber Joannas Nummer. Aber wegen zehn Minuten Verspätung konnte man ja noch nicht anrufen oder eine Nachricht schreiben. Das würde eindeutig unentspannt und dränglerisch rüberkommen. Sie würde noch mindestens fünf Minuten warten und währenddessen aufhören, an ihrem Cappuccino zu nippen. Sie wollte nicht mit einer leeren Tasse dasitzen, wenn Joanna gleich das Café betrat …
Was, wenn sie gar nicht käme? Das Schlimmste, was Alice jetzt passieren konnte, war, von ihr versetzt zu werden. Dann lieber noch eine Joanna, die sich verspätete und ihr eine reizende – vielleicht sogar wahre – Erklärung dafür lieferte.
Um viertel nach vier nach holte sie ihr Handy und Joannas Visitenkarte aus der Tasche. Sie öffnete den SMS-Bereich, tippte die Nummer ein und schrieb: »Hallo Joanna, wo …« In dem Moment hörte sie vor sich eine warme, samtige Stimme: »Hi, Alice. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich habe den Bus verpasst.«
Alice’ Herz setzte kurz aus. Sie legte das Handy auf den Tisch und sah nach oben. Joannas Gestalt raubte ihr für einen Moment den Atem. Wahnsinn! Die Frau war wunderschön, geradezu perfekt schön. Sie trug einen schwarzen Mantel und dazu einen bordeauxfarbenen Wollschal. Ihre schwarze leicht gelockte Haarpracht fiel locker und glänzend über ihre Schultern. Hellblaue Katzenaugen strahlten Alice an und volle rote Lippen lächelten ihr zu. Wie konnte eine Frau nur so großartig, so umwerfend aussehen? Nun zog Joanna ihren Mantel und ihren Schal aus und hängte beide Kleidungsstücke an den Kleiderhaken. Darunter trug sie einen engen roten Strickpullover mit einem großzügigen Ausschnitt, der Alice einen Blick auf ihr prachtvolles Dekolletee erlaubte. Sie beherrschte sich, nicht auf ihren Ausschnitt zu starren, und lenkte ihren Blick wieder auf Joannas nicht minder faszinierendes Gesicht.
»Ich wollte dich wirklich nicht warten lassen, entschuldige bitte«, sagte Joanna nun, während sie sich zu ihr an den Tisch setzte.
Alice schluckte. »Schon in Ordnung, ich hatte mich selbst leicht verspätet«, log sie. Ihre Stimme war leise und ihre fast leere Tasse strafte sie Lügen. Sie griff nach dem Cappuccino, allerdings so ungeschickt, dass etwas von dem Kaffee auf den Unterteller schwappte – und einige Tropfen auch auf das weiße Tischtuch. Hektisch nahm Alice einen Schluck und schob danach die Tasse auf den Fleck, so als wäre das Malheur nie passiert.
Joanna sah man nicht an, ob sie Alice’ Tollpatschigkeit gekonnt ignorierte oder wirklich nicht mitbekommen hatte. Sie lächelte.
»Schön, dass es mit unserem Treffen geklappt hat. Ich bin wirklich froh, mit dir in Ruhe reden zu können.«
»Ja«, sagte Alice, weil ihr nichts Besseres einfiel, und versuchte sich zu konzentrieren. »Worüber möchtest du denn mit mir sprechen?«
Du liebe Zeit, wie steif klang das denn? Alice ärgerte sich darüber, wie verkrampft sie war.
Joanna dagegen blieb entspannt. »Ach, über vieles. Ich möchte wissen, wie es dir so geht und was du machst. Und ich möchte vor allem einige Missverständnisse aus dem Weg räumen. Zwischen uns alles bereinigen, wenn das möglich ist. Ich weiß, dass ich dich damals verletzt habe und das tut mir wirklich immer noch sehr leid.«
Alice sah in ihre Kaffeetasse. »Ja, das stimmt. Das hast du. Du hast mich …« In dem Moment erschien die Bedienung. Joanna bestellte einen Milchkaffee und ein kleines Wasser. Als die Servicekraft weg war, versuchte Alice den Faden wiederaufzunehmen. »War dir damals nicht klar, was du mir damit antust?«
Joanna legte ihre Hand auf die von Alice. »Tut mir leid. Ich war damals so unreif, so orientierungslos. Ich habe mehreren Menschen wehgetan, das weiß ich heute. Aber so bin ich jetzt nicht mehr. Bitte glaub mir das!«
Alice sah auf Joannas Hand. Gepflegte Nägel, rot lackiert. Die Berührung ihrer Finger fühlte sich warm und beruhigend an und zugleich unglaublich erregend und gefährlich. Doch obwohl ihr ihre Vernunft deutlich machte, dass sie diesen Körperkontakt beenden sollte, war sie dazu nicht fähig.
Joanna schien ihren Blick und ihre Nervosität zu bemerken und zog ihre Hand selbst wieder zurück.
Alice atmete tief durch und sah ihr in die Augen. »Was meinst du damit, wenn du sagst: Du hast mehreren Menschen wehgetan?«
»Nun, ich hatte damals viele, kurze Beziehungen. Dabei habe ich mich rücksichtslos und egoistisch verhalten, konnte irgendwie nie genug kriegen …«
Alice schluckte. »Das heißt, du warst mit vielen zusammen, hast mit vielen geschlafen? Ohne mehr für sie zu empfinden?«
Joannas Gesicht war nun ganz ernst. »Ich will jetzt ganz ehrlich zu dir sein, auch wenn ich mich dadurch in ein schlechtes Licht rücke. Ich war damals fast ein kleines Miststück, ein Flittchen. Ich habe es genossen, dass sich so viele Jungs für mich interessiert haben und ich habe das ausgenutzt. Weißt du, ich war damals fast unersättlich nach Liebe und Aufmerksamkeit, das lag mit Sicherheit auch daran, dass ich keine leichte Kindheit hatte. Ich bin bei Pflegeeltern aufgewachsen, meine leiblichen Eltern haben mich als Kleinkind weggegeben. Ich kenne sie gar nicht. Meine Mutter hatte ein Drogenproblem und ich habe keine Ahnung, wer mein Vater ist. Und obwohl meine Pflegeeltern sich bestimmt Mühe gegeben haben, sie haben mich sogar richtig verwöhnt, habe ich mich nie wirklich geliebt gefühlt …« Joanna seufzte und ihre Augen glänzten leicht.
Alice spürte ihr Herz schneller schlagen, während sie wie gebannt an Joannas Lippen hing. Sie saugte ihre Worte in sich auf, spürte ihre Traurigkeit und war in diesem Moment weder fähig noch willens das eben Gesagte kritisch zu hinterfragen.
»Tut mir leid, ich will dich nicht volljammern. Ich möchte mich nur erklären, damit du mich vielleicht ein wenig besser verstehen kannst. Ich bin durch schwierige Zeiten gegangen, musste viel an mir arbeiten. Nicht nur, damit ich mich selbst lieben lerne, sondern auch, damit ich lerne, andere Menschen nicht zu verletzen. Ein Jahr nach dem Studium habe ich eine Therapie begonnen, drei Jahre lang habe ich gemeinsam mit meiner Therapeutin daran gearbeitet, ein besserer Mensch zu werden. Und ich denke, das ist mir einigermaßen gut gelungen. Ich habe mich wirklich verändert, Alice. Bitte glaub mir!«
Joannas Stimme war am Ende ganz brüchig geworden, sie wischte sich mit einer schnellen Bewegung über die Augen. Dann sah sie Alice ganz offen an. Sie wirkte auf einmal zerbrechlich. Alice’ Brust krampfte sich zusammen. Das Gefühl, von den Eltern nicht gewollt und nicht geliebt zu werden, konnte sie gut nachempfinden und ohne dass sie es wollte, verspürte sie plötzlich großes Mitgefühl. Doch nein – sie wollte sie sich davon nicht völlig vereinnahmen und von ihrer Spur abbringen lassen. Sie hatte schließlich noch Fragen, wichtige Fragen. Sie räusperte sich, ihr Blick schweifte ziellos auf dem Tisch umher.
»Das mit deiner Vergangenheit tut mir leid. Aber trotzdem, möchte ich eines wissen: Hast du auch mich damals nur benutzt? So wie die vielen Jungs, mit denen du was hattest?«
»Alice«, sagte Joanna mit fester Stimme. »Alice, bitte schau mich an.«
Sie zwang sich dazu, erneut Blickkontakt aufzunehmen.
Joannas Blick wirkte warm und ehrlich.
»Ich fand unsere gemeinsame Nacht wunderschön, bitte glaub mir das. Und ich habe danach nie wieder mit einer Frau geschlafen. Für mich war dieses Erlebnis etwas ganz Besonderes und mit nichts zu vergleichen. Und genau so werde ich es auch immer in meiner Erinnerung behalten.«
Alice spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Nein, sie wollte jetzt nicht die Fassung verlieren. Sie musste stark bleiben. Wachsam bleiben. Bei sich bleiben. Was auch immer das war. Aber auf keinen Fall wollte sie weinen.
»Du warst aber nicht in mich verliebt, richtig? Das hast du mir nur vorgespielt.«
»Verliebt?«, fragte Joanna langsam, als wolle sie der Bedeutung dieses Worts nachschmecken. »Ich weiß es nicht. Ich fühlte mich auf jeden Fall stark zu dir hingezogen, wollte dir nahe sein. Vielleicht habe ich dabei Dinge gesagt oder getan, die bei dir falsche Hoffnungen geweckt haben. Das hat mich bis heute immer wieder beschäftigt. Denn ich empfinde nach wie vor etwas für dich. Zugleich weiß ich, dass ich mehr auf Männer stehe und niemals mit einer Frau eine längere Beziehung eingehen kann.«
In dem Moment erschien die Bedienung, um den Milchkaffee und das Wasser zu bringen. Joanna und Alice sahen einander unverwandt an und warteten, bis die Kellnerin wieder verschwunden war.
Dann sagte Alice: »Aber warum hast du mich damals einfach links liegen lassen? Warum hast du den Kontakt völlig abgebrochen? Warum hast du nie wieder ein Gespräch mit mir gesucht, um mir all das zu erklären? Es kam mir vor, als hättest du mich einfach weggeworfen. Einmal benutzt und dann weggeworfen.«
»Tut mir unglaublich leid, wenn das bei dir so ankam, wirklich. Aber eigentlich wollte ich dich nur schützen. Vor noch mehr Schmerz bewahren. Ich habe dir doch angesehen, wie sehr es dir wehgetan hat, als ich dir von Robert erzählt habe. Und ich dachte, wenn ich den Kontakt zu dir aufrechterhalte, schadet es dir nur noch mehr.«
»Und warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Warum hast du mich an dem Abend glauben lassen, du willst mit mir zusammen sein? Du hast mir sogar versprochen, mit Peter Schluss zu machen!«
»Was ich auch getan habe«, stellte Joanna mit ruhiger Stimme klar. »Ach, Alice, ich habe mir an dem Abend wahrscheinlich wirklich eingebildet, das mit dir könnte etwas Ernsthaftes werden. Doch schon einige Tage danach wurde mir bewusst, dass das eben nicht geht. Ich bin nun mal nicht lesbisch.«
»Das mit Peter war wahrscheinlich kein so großer Verlust.«
Joanna nickte. »Stimmt. Die Sache wäre ohnehin bald vorbei gewesen. Dennoch habe ich damals mein Versprechen dir gegenüber gehalten.«
»Na gut. Der Punkt geht an dich. Aber kannst du mir erklären, warum du dich bei unserem ersten Wiedersehen in der Toy Box in knappen Dessous vor mir räkeln musstest? Warum du mir von den sexuellen Vorlieben von Manni erzählen musstest? Findest du das besonders feinfühlig? Wolltest du mich damit in Verlegenheit bringen?«
»Das war sehr dumm von mir. Naiv. Ich wusste nicht, dass es für dich heute noch so schmerzhaft ist. Wahrscheinlich ging ich davon aus, dass du inzwischen in einer festen Partnerschaft bist und dass dir das nichts mehr ausmacht. Dass da irgendwie Gras darüber gewachsen ist. Dass ich gar nicht so wichtig bin, dass sich jemand nach all den Jahren noch einen Kopf über mich macht. Ich wusste wirklich nicht, dass ich noch immer eine … hm … bestimmte Wirkung auf dich habe. Ich war ganz unbedarft und habe nicht weiter nachgedacht, mich einfach benommen wie immer. Wie eine normale Kundin. Aber du hast recht, ich hätte vorsichtiger und feinfühliger sein sollen.«
Nachdenklich blickte Alice auf Joanna. Alles, was sie gesagt hatte, klang logisch und nachvollziehbar. Sie schonte sich selbst nicht, ging kritisch mit sich ins Gericht, war noch dazu sehr emotional und zeigte sich verletzlich. Aber dennoch … Konnte sie ihr wirklich glauben?
»Du überlegst gerade, ob du mir vertrauen kannst, stimmt’s?«
Alice nickte.
»Das kann ich gut verstehen. Aber ich erwarte gar nicht, dass du mir sofort volles Vertrauen schenkst. Wie solltest du auch, nachdem ich mich dir gegenüber so verhalten habe? Ich bin einfach nur froh, dass du bereit warst, dich mit mir zu treffen und mir zugehört hast. Aber vielleicht kannst du dir ja vorstellen, mir noch eine Chance zu geben? Die Chance, mich besser kennenzulernen? Als eine Freundin?«
Unentschlossen blickte Alice in Joannas schönes Gesicht, in ihre hellblauen offenherzigen Augen. Okay, bei sich bleiben, das war jetzt das Stichwort. Ganz klar und authentisch bei sich bleiben. Nicht gleich wehrlos in Joannas offene Freundinnen-Arme fallen.
»Ich weiß nicht. Keine Ahnung, ob eine Freundschaft möglich ist. Womöglich verliebe ich mich neu in dich und dann beginnt das Drama von vorne.«
Ja, das war gut, befand Alice. Gut, mutig und echt. So ging das wahrscheinlich mit dem Bei-sich-Bleiben.
»Meine liebe Alice«, sagte Joanna. Dann drückte sie kurz ihre Hand. »Dass du so starke Gefühle für mich hattest, ehrt mich sehr. Aber ich verspreche künftig achtsam und ehrlich zu sein. Ich will dir ganz bestimmt nie wieder wehtun.«
»Und was ist, wenn ich mich tatsächlich wieder in dich verliebe?«, hakte Alice nach. »Dann wird es weh tun, egal, wie achtsam du bist.«
»Bist du denn im Moment Single?«
»Ja. Bin ich. Aber warum fragst du mich das?«
»Das geht mich natürlich nichts an. Das ist deine Sache. Ich dachte nur … vielleicht wäre es einfacher, eine Freundschaft aufzubauen, wenn du in einer Partnerschaft wärst.«
Alice spürte Trotz in sich aufkeimen. Das war gut. Das machte sie stärker.
»Nein. Das ist nicht logisch. Denn ich hätte womöglich noch mehr Probleme, wenn ich mich in dich verliebe, während ich eine Partnerin habe. Denkst du denn, ich wäre weniger anfällig für dich, wenn ich in einer Beziehung wäre?«
Joanna senkte den Blick. »Tut mir wirklich leid. Das war wohl ein sehr dummer Gedanke von mir.«
Angesichts Joannas Zerknirschung wurde Alice wieder friedlicher.
»Schon gut. Vielleicht steckt da sogar ein Körnchen Wahrheit drin. Keine Ahnung. So genau kann man das vorher nie wissen.«
Joanna sah sie an. »Ja, das weiß man vorher sicher nie so genau. Trotzdem hätte ich vorhin nicht fragen sollen. Natürlich wünsche ich dir eine tolle Partnerin. Die hättest du wirklich verdient. Aber das alles geht mich natürlich gar nichts an.«
»Das sagt Franzi auch immer«, rutschte es Alice heraus.
»Franzi?«
»Ja, eine Freundin von mir.«
»Was genau sagt Franzi?«
»Dass ich eine tolle Partnerin verdient hätte. Franzi mischt sich gerne in mein Liebesleben ein. Natürlich geht es sie nichts an, auch wenn sie es nur gut meint.«
»Inwiefern? Will sie dich verkuppeln?«
»Ja, ständig. Sie hat mich sogar bei einer Partnerbörse angemeldet.«
Das war ihr wieder so rausgerutscht und im gleichen Moment wunderte sie sich schon darüber. Warum plapperte sie plötzlich so darauf los? Wie schaffte es Joanna derart schnell, eine so vertraute Stimmung herzustellen?
Joanna lächelte entspannt. »Ach, das ist aber doch sehr nett von ihr, oder nicht? Es scheint, als liege dieser Franzi dein Glück sehr am Herzen. Manche dieser Börsen sind ja auch recht exklusiv. Wie heißt die Seite? Etwa E-Lovers oder Parpoint
Alice überlegte kurz. Ach, egal, nun war die Sache schon auf dem Tisch, da konnte sie auch auf diese Frage antworten. Möglichst unverkrampft, dann aber bald das Thema wechseln.
»Nein. Queer-Elite . Die Seite ist nur für lesbische Frauen.«
»Nie davon gehört. Aber vielleicht lernst du dort tatsächlich eine tolle Partnerin kennen?«
»Keine Ahnung. Können wir jetzt bitte über etwas anderes reden?«
»Klar«, sagte Joanna. »Erzähl mir doch ein bisschen davon, was du die letzten Jahre so erlebt hast? Und was du aktuell so machst?«
Alice dachte einen Augenblick nach, dann erwiderte sie: »Erzähl mir doch lieber erst etwas von dir.«
»Gerne. Was interessiert dich denn?«
Vielleicht war etwas Smalltalk jetzt gar nicht so schlecht, befand Alice. Außerdem interessierte sie es ja wirklich, womit Joanna ihre Tage füllte, wie sie lebte, welche Interessen sie hatte.
»Wie läuft es denn im Job? Macht dir die Arbeit in dem Verlag Spaß?«
»Meistens ja. Manchmal ist es etwas anstrengend. Termine, Termine, Termine. Und Meetings. Und dann kommen jede Woche an die hundert Manuskripte rein. Und vieles davon ist leider kaum zu gebrauchen. Es ist manchmal, als würde man in pechschwarzen Gewässern nach Perlen tauchen wollen.« Sie lächelte. »Dafür sind die Konditionen gut und ich habe flexible Arbeitszeiten. Manni und ich sparen gerade für ein Haus in Starnberg. Wenn wir genügend Geld zusammen haben, werde ich auf Teilzeit gehen. Und dann möchten wir eine Familie gründen, ein Kind haben, vielleicht auch zwei.«
»Ah, so, so. Und was macht Manni beruflich?«
»Er ist Manager bei einer Softwarefirma.«
»Aha. Na, dann verdient ihr beide wohl richtig gut.«
»Ja. Aber das ist nicht das Wichtigste. Wir freuen uns jetzt darauf, bald eine richtige Familie zu sein. Momentan leben wir in Nymphenburg. Aber wir möchten gern ruhiger wohnen, möglichst direkt am Starnberger See, wenn wir dann Kinder haben.«
»Verstehe.«
Alice dachte plötzlich an ihr WG-Zimmer in Neuperlach, ihr bescheidenes Verkäufergehalt und ihre wenig aussichtsreichen Zukunftsperspektiven und fühlte sich gleich etwas unwohl, denn sie würde ebenfalls über ihr Leben erzählen müssen.
»Und wie ist es bei dir?«, fragte Joanna auch schon. »Und mit dem tollen Job als Redakteurin, den du in Aussicht hast?«
Was hatte sie? Ach ja! Alice fiel die Lüge wieder ein, die sie beim ersten Wiedersehen mit Joanna von sich gegeben hatte.
»Das ist noch sehr ungewiss«, sagte sie und drehte den Zuckerstreuer auf dem Tisch hin und her.
»Und schreibst du noch?«
Dieses Thema gefiel ihr schon besser. »Ja, ich sitze gerade an einem Manuskript.«
Joanna strahlte. »Ach, das ist ja toll! Du hast ja damals schon an einem Roman geschrieben. Das ist jetzt aber ein neuer, oder?«
Alice nickte.
»Hast du denn schon ein Buch veröffentlicht?«
»Nein, bisher noch nicht. Bisher habe ich nur einige Kurzgeschichten in Anthologien untergebracht. Ist aber auch schon eine Weile her. Ich konzentriere mich in letzter Zeit sehr auf mein Buchprojekt und das braucht Zeit.«
»Worum geht es?«
»Na ja, die Geschichte ist noch so ähnlich wie die, von der ich dir damals erzählt habe. Ich habe sie nur etwas umgeformt und die Charaktere verändert. Also die Protagonistinnen vor allem älter und erwachsener gemacht.«
Joannas Augen leuchteten noch immer begeistert.
»Ah, ich erinnere mich! Die Geschichte von den beiden Frauen, die gemeinsam aufbrechen … Wohin fahren sie noch mal? Nach Spanien?«
Alice war beeindruckt und geschmeichelt, dass Joanna das nach neun Jahren noch wusste.
»Ja, stimmt. Sie fahren mit dem Auto nach Spanien ans Meer. Und machen jeweils für einige Tage in Italien und Frankreich Halt.«
»Und das ist in deinem aktuellen Werk genauso?«
»Ja. Das habe ich so belassen. Nur, was sie auf ihrer Reise erleben, ist ein wenig anders jetzt.«
Joannas Augen funkelten. »Wart mal! Schick mir doch dein Manuskript zu!«
Alice glaubte sich verhört zu haben. Sie spürte eine Anspannung in ihrer Magengegend. »Ach, ich weiß nicht …«
»Oh, Alice, ich bin mir sicher, dein Roman ist toll, nach allem, was ich bisher darüber gehört habe! Außerdem weiß ich noch von unserem Schreibkurs an der Uni, dass du wahnsinnig gut schreiben kannst.«
»Das waren doch nur kurze Geschichten von maximal zehn Seiten.«
»Und wenn schon! Du hast eine authentische Sprache und einen sehr flüssigen Erzählstil. Und die Figuren werden die Leser bewegen, da bin ich mir sicher. Wie weit bist du denn schon? Könntest du mir demnächst ein Exposé und – sagen wir mal – die ersten dreißig Seiten schicken?«
Alice Magen verkrampfte sich nun noch etwas mehr.
»Puh, Joanna … das kommt jetzt etwas plötzlich für mich. Da muss ich erst darüber nachdenken. Grundsätzlich brauche ich für die Überarbeitung des gesamten Manuskriptes sicher noch ein bis zwei Monate.«
»Wie lang ist es?«
»In der aktuellen Fassung sind es dreihundertzwanzig Seiten.«
»Na ja, also wenn es mehr als dreihundert Seiten sind und du nur noch ein bis zwei Monate für die komplette Überarbeitung brauchst, bist du schon ziemlich weit, nicht?«
»Seite zweihundertzweiundachtzig.«
Joanna zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Also könntest du mir die ersten dreißig Seiten schicken?«
»Aber das Exposé habe ich noch nicht fertig.«
»Das ist kein Problem. Da reichen zwei, drei Seiten. Nur knapp den Inhalt des Buches zusammenfassen. Und die Hauptpersonen kurz skizzieren.«
»Das würde tatsächlich schnell gehen. Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob ich es schon aus der Hand geben möchte.«
»Hast du Bedenken, dass mir dein Buch nicht gefällt?«
Bedenken? Bodenlose Angst würde es besser beschreiben. Alice sah nachdenklich in ihre leere Kaffeetasse.
»Ja, vielleicht schon …«
»Gut, ich werde keinen Druck machen. Überlege es dir einfach in Ruhe. Ich würde mich jedenfalls freuen, dein Werk zu lesen.«
»Ich denke darüber nach.« Alice fühlte sich plötzlich sehr müde und erschöpft. »Joanna, wäre es für dich okay, wenn wir zahlen? Im Moment geht in meinem Kopf alles ein bisschen durcheinander. Ich möchte nach Hause.«
Joanna nickte. »Natürlich. Aber kannst du dir denn vorstellen, mich wiederzusehen?«
Alice suchte in ihrem leeren, überforderten Gehirn nach einer Antwort.
»Keine Ahnung. Auch darüber muss ich nachdenken.«
In dem Moment servierte die Bedienung Kaffee am Nachbartisch und Alice winkte sie herbei. Joanna wollte sie einladen, doch Alice zog es vor, für sich zu zahlen. Kaum waren beide Rechnungen beglichen und die Bedienung fort, stand Alice auf und griff nach ihrem Mantel. Als ihr Schal zu Boden rutschte, hatte Joanna ihn bereits aufgehoben, bevor sie reagieren konnte, und reichte ihn ihr mit einem zarten Lächeln.
»Danke«, murmelte Alice, verlegen über ihre Tollpatschigkeit.
Joanna beobachtete sie einen Moment lang, dann begann auch sie, sich Mantel und Schal anzuziehen. Wortlos verließen die beiden Frauen das Café und blieben neben dem Eingang stehen. Joanna sah ihr tief in die Augen. Einen Moment lang befürchtete Alice, dass Joanna sie gleich umarmen würde. Doch sie strich ihr nur einmal kurz über den Arm und lächelte sie an.
»Mach’s gut. Melde dich jederzeit bei mir, wenn du möchtest. Ich würde mich freuen.«
Dann drehte sie sich um und ging mit großen Schritten davon. Ihre Locken wippten auf ihren Schultern und der Schal wehte hinter ihr her.
Alice konnte nicht anders, als ihr eine Weile nachzusehen. Als sie sich wieder gefangen hatte, fiel ihr ein, dass sie ja eigentlich den gleichen Weg nehmen musste, jedenfalls, wenn sie zur nächsten U-Bahnstation wollte. Aber ihr jetzt mit nur wenigen Metern Abstand zu folgen, wäre ihr blöd vorgekommen und hätte außerdem Joannas bühnenreifen Abgang versaut.
In Filmen und Büchern kommt so etwas nie vor , dachte sie. Dass jemand nach einer glorreichen Abschiedsszene einfällt, dass er ja eigentlich denselben Weg nehmen muss . Wenigstens schneite es jetzt. Das gab der Szene etwas Klasse und Dramatik zurück. Wenn dies hier ein Abschnitt ihres eigenen Romans gewesen wäre, würde es jetzt auch schneien. Vielleicht sogar stürmen. Und es würde das Ende eines Kapitels sein. Was für ein Blödsinn … Ihr Kopf machte ja wirklich mächtig Chaos …
Sie blieb noch einige Minuten stehen, dann ging sie langsam in die Richtung, in der Joanna verschwunden war.