Kapitel 9
Alice machte einen kleinen Umweg und lauschte kurz an Franzis und Olgas Zimmertür. Ja, aus dem Zimmer drang Franzis Stimme … sprach sie mit Olga? Natürlich sprach sie mit ihr, mit wem denn sonst? Dann war sie also zurückgekommen! Aus dem ruhigen Tonfall und der Lautstärke des Gesprächs war klar zu erkennen, dass die beiden nicht mehr stritten. Was genau Franzi sagte, verstand Alice nicht und es war auch nicht wichtig. Hauptsache war, dass Olga wieder da war und die beiden sich versöhnt hatten. Ach, das war wirklich eine schöne Neuigkeit!
Mit einem Strahlen im Gesicht ging Alice zu ihrem Zimmer und öffnete die Tür. Sie gähnte wohlig in Vorfreude auf ihr Bett und betätigte den Lichtschalter. Doch kaum war es hell im Zimmer, war die Müdigkeit mit einem Schlag wie weggeblasen.
»Was zum Teufel«, murmelte sie.
Anstatt ihres Aquariums stand ein rechteckiger roter Putzeimer auf der Ablage. Mit klopfendem Herzen ging sie darauf zu und sah hinein. Er enthielt eine Kiesschicht, die Steine und die Pflanzen, die zuvor im Aquarium gewesen waren und war bis zu Hälfte mit Wasser gefüllt. Es war alles etwas schlampig drapiert, aber im Grunde hatte er einen ähnlichen Aufbau wie vorher das Innere des Aquariums. Auf einem Stein saß Xaver, er hatte den Kopf ausgestreckt und Alice schien es, als würde er sie nun vorwurfsvoll ansehen.
»Ach, Xaver, mein kleiner Schatz«, flüsterte sie aufgeregt. »Was ist hier passiert? Geht’s dir gut?«
Natürlich gab Xaver keine Auskunft, sondern starrte nur weiter in ihre Richtung. Alice beobachtete die kleine Schildkröte noch eine Weile und stellte fest, dass es ihr gut zu gehen schien. Jedenfalls benahm sich Xaver wie immer, ruhig und behäbig. Sie holte die Futterbox aus dem Schrank und streute etwas von ihrem Inhalt ins Wasser. Wenn Xaver jetzt fraß, dann war alles in Ordnung. Und tatsächlich, er paddelte direkt auf die grünen Sticks zu und öffnete sein kleines Maul, um zu fressen und zwar so eifrig wie immer. Alice fiel ein Stein vom Herzen.
Was wohl mit dem Aquarium passiert war? Hatte es jemand heruntergestoßen? Franzi? Warum sollte sie so etwas tun? Aus Wut? Auf sie? Nein … so etwas würde Franzi nicht machen. War es ein Unfall gewesen? War sie versehentlich dran gestoßen?
Entschlossen stand Alice auf, verließ ihr Zimmer und steuerte direkt auf Franzis und Olgas Tür zu. Sie klopfte und rief: »Franzi! He, Franzi! Bist du wach? Kann ich reinkommen?«
Keine Reaktion. Waren die beiden jetzt eingeschlafen? In den paar Minuten? Wohl kaum. Also klopfte sie noch mal, dieses Mal lauter und fordernder.
»Franzi, nun komm schon! Ich hab dich doch gerade noch reden hören! Ich will wissen, was mit dem Aquarium passiert ist!«
Nun antwortete Franzi. »Alice, bitte, verschieben wir das auf morgen. Dann erklär ich’s dir. Ich bin müde, bitte lass mich jetzt in Ruhe.«
Doch sie ließ sich nicht so schnell abwimmeln, wenn es um Xaver ging. Sie musste wissen, was passiert war. Also drückte sie die Klinke herab und hoffte, dass nicht abgesperrt war. Die Tür sprang sofort auf. Alice stand im Türrahmen und starrte auf Franzis Bett.
»Was? Was … Was ist denn hier los?«, keuchte sie.
Unter der blauen Decke tauchte Franzis hochroter Kopf auf, und ein weiterer daneben, der aber nicht Olga, sondern einer fremden Frau gehörte. Wer war die denn? Überrascht musterte Alice die Unbekannte mit den wasserstoffblonden, kurzen Haaren, deren blaue Augen erschrocken – und ihrem spontanen Eindruck nach – auch nicht gerade sehr intelligent dreinblickten.
Franzi, die im ersten Augenblick schockiert und schuldbewusst gewirkt hatte, erholte sich schnell von ihrem Schrecken und ging zum Angriff über. Sie raffte die Decke über ihrer Brust zusammen und sprang damit aus dem Bett. Gut, dass Franzi und Olga zwei getrennte Bettdecken benutzten, sonst wäre die Blondine jetzt gänzlich unbedeckt gewesen. Alice erhaschte unfreiwillig einen Blick auf deren üppige Brüste, bevor die Fremde schnell den blauen Stoff hochzog. Franzi stand angespannt vor Alice, hielt mit der rechten Hand die Decke fest, die linke stemmte sie in ihre Hüfte.
»Was hier los ist?!«, brüllte sie los. »Nichts, was dich etwas angehen würde! Was fällt dir ein, einfach in mein Zimmer zu platzen, obwohl ich dir klipp und klar gesagt habe, dass ich jetzt meine Ruhe will! Schon mal was von Privatsphäre gehört, hä?«
»Aber ich dachte … Olga sei bei dir, nicht die da …« Sie deutete mit dem Kinn auf die Blondine.
»Olga ist weg, kapiert? Sie hat mich verlassen! Versucht sich nun selbst zu finden, gemeinsam mit dieser bescheuerten Mitstudentin. Sie hat mich einfach stehengelassen, wie einen alten Schirm in der Kneipe! Ich bin also wieder Single und kann mit gutem Gewissen tun, was immer ich will! Und mit wem«, fügte sie hinzu.
Alice war vollkommen aus dem Takt. Doch dann fielen ihr Xaver und der Grund ihres Herkommens wieder ein. »Du darfst mit deinem Liebesleben machen, was du willst, ist klar. Aber was du mit Xaver anstellst, das geht mich schon etwas an! Sag mir endlich, was passiert ist!«
Aus Franzis Augen schossen Giftpfeile in ihre Richtung. »Ist das der einzige Weg, um dich loszuwerden? Haust du dann endlich ab?«
»Ja.«
Da setzte sich Franzi aufs Bett und atmete tief durch. »Na gut. Gestern Abend hab ich ein paar Mädels eingeladen, wir haben gegessen und getrunken … und … jedenfalls wurde es recht spät und es ging keine U-Bahn mehr. Da hab ich denen vorgeschlagen, hier zu übernachten. Zwei haben im Wohnzimmer geschlafen, eine bei mir und eine in deinem Zimmer. Jackys Tür war abgesperrt, außerdem hätte ich ihre Metal-Höhle sowieso niemanden zumuten können. Tine, die bei dir geschlafen hat, hat versehentlich das Aquarium vom Tisch gestoßen … und Na ja, so ist es eben passiert. Wir haben aber für Xaver sofort eine Lösung gefunden.«
Alice schluckte. »Einen Putzeimer? Habt ihr den vorher wenigstens gründlich gereinigt?«
»Ja, klar. Der ist immerhin groß genug und ähnelt ein wenig der Form des Aquariums. Also führ dich nicht so auf. Der Schildkröte ist nix passiert.«
»Hätte es aber können! Ihr hättet Xaver verletzen können! Wenn eine von euch auf ihn draufgetrampelt wäre … dann wäre er jetzt womöglich tot!«
»Oh, mein Gott, dein Xaver!«, deklamierte Franzi, vollkommen übertrieben und verdrehte die Augen. »Das ist doch bloß eine blöde, winzige Schildkröte. Mehr nicht. Reg dich mal ab …«
Jetzt war es Alice, die ihre linke Hand in die Hüfte stemmte, während sie mit der rechten aufgebracht gestikulierte. »Ich reg mich aber nicht ab! Und Xaver ist zwar winzig, aber sehr kostbar für mich! Das weißt du ganz genau!«
»Ja, schon recht. Ich kauf dir für das Vieh auch ein neues Aquarium, wenn du willst …«
»Nein, lass mal, darum kümmere ich mich selbst. Aber sag mal, was fällt dir überhaupt ein, in meinem Zimmer irgendwelche fremden Leute übernachten zu lassen? Die noch dazu wahrscheinlich total besoffen waren? Warum benimmst du dich so furchtbar dämlich und teenagerhaft?«
»Ich kann, verdammt noch mal, machen, was ich will! Hier ist doch jeder grad am Durchdrehen! Du fährst auf ein Metal-Festival, Olga ist auf ’nem Selbstfindungstrip und von der Klimperbraut nebenan will ich gar nicht reden! Da darf ich doch wohl eine kleine Party geben! Oder soll ich hier in der Wohnung allein versauern und an Selbstmitleid zu Grunde gehen?«
»Was ist denn verrückt daran, auf ein Metal-Festival zu fahren? Damit überschreite ich wenigstens keine Grenzen anderer Leute!«
»Aber jetzt – jetzt tust du das!«, plärrte Franzi und schoss erneut vom Bett hoch. »Bist du endlich fertig? Ich brauche keine Moralpredigt, verstanden? Und von dir am allerwenigsten! Du hast versprochen, mich in Ruhe zu lassen, wenn ich dir erzähle, was mit deinem bescheuerten Vieh passiert ist. Das habe ich – also nun verschwinde! Hau ab!«
»Bin schon weg. Macht doch, was ihr wollt«, schrie Alice und warf dabei einen abfälligen Blick auf die immer noch stumm glotzende Wasserstoffblondine. »Aber mein Zimmer betritt außer mir jetzt keiner mehr, verstanden? Viel Spaß noch!«
Dann knallte sie die Tür hinter sich zu, rauschte wütend über den Gang und schmiss ihre Tür ebenso vehement ins Schloss. Sie sperrte hinter sich ab und warf sich aufs Bett.
»So ein Mist! So ein Durcheinander! Und alles geht kaputt«, schimpfte sie und starrte an die Decke.
Was nun? Auf jeden Fall musste sie sich schnell um ein neues Aquarium kümmern. Aber wie und wann? Ihr Dienst begann morgen um elf, aber der Zoohandel in Neuperlach öffnete erst um zehn. Sie brauchte Zeit für diesen Einkauf, außerdem musste sie Xavers neue Behausung ja auch einrichten, bevor sie ihn hineinsetzten konnte.
Sollte sie sich morgen krankmelden? Das wäre aber sehr unfair ihrer Kollegin Nadja gegenüber, die meist pünktlich um zwölf verschwinden musste, da sie zu Hause ein Kind zu versorgen hatte und die Arbeitszeiten mit ihrer Mutter abstimmte. Aber vielleicht könnte sie Nadja morgen früh anrufen und fragen, ob es okay wäre, wenn sie etwas später zur Arbeit erschien. Vielleicht ließ sich das organisieren …
Alice hatte den Wecker auf halb acht gestellt, was gar nicht nötig gewesen wäre. Sie war trotz bleierner Müdigkeit erst gegen zwei Uhr nachts eingeschlafen, dann immer wieder aufgewacht und nun schon seit sieben hellwach. Schon beim ersten Piepton stellte sie das Gerät ab, stand auf und ging ins Bad, um sich frisch zu machen. Zurück im Zimmer griff sie zu ihrem Handy und wählte die Nummer ihrer Kollegin. Bei ihrem Telefonat mit Nadja stellte sich heraus, dass sie gar kein Problem damit hatte, heute länger zu bleiben.
»Echt nicht«, sagte sie mit ihrem charmanten tschechischen Akzent. »Kümmer dich um deine Schildkröte. Es reicht, wenn du zwei, halb drei da bist. Ich hab eh Minusstunden, mach ich heut länger, kein Problem. Meine Mutter kann bis halb vier schauen auf Louis. Kein Problem, Alice, ist gut.«
Alice bedankte sich herzlich und legte erleichtert auf. Nadja war schon klasse, immer hilfsbereit und nie schlecht gelaunt. Es wäre wirklich nicht fair gewesen, sich heute krankschreiben zu lassen.
Sie zog sich an und ging in die Küche. Die war verwaist, die Kaffeemaschine noch unbenutzt – sehr wahrscheinlich schliefen Franzi und ihre Wasserstoffblonde noch, und Jacky sowieso. Nachdem Alice ein kleines Frühstück, bestehend aus einer Tasse Kaffee und einem Joghurt zu sich genommen hatte, ging sie zurück in ihr Zimmer. Es war erst halb neun, sie hatte noch Zeit, ihr Manuskript für Jacky auszudrucken, bevor sie zum Zoogeschäft ging.
Alice wollte ihr Versprechen so schnell wie möglich einlösen. Außerdem war sie, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, richtig gespannt auf Jackys Meinung. Sie hatte ihre Ängste und Widerstände, das Manuskript in deren Hände zu geben offenbar abgebaut – wie schnell das gegangen war, wunderte sie selbst ein wenig. Warum eigentlich? Jacky zeigte ehrliches Interesse, war Musikerin und damit selbst Künstlerin und wusste, wie viel Arbeit und Herzblut in einem kreativen Schaffensprozess steckte. Außerdem würde sie in ihrem Feedback konstruktiv und ehrlich sein und niemals verletzend … und sie vertraute Jacky. Ja, das war wohl auch ein wichtiger Grund für ihren Meinungsumschwung.
Alice überflog noch einmal die ersten Seiten, verbesserte eine Kleinigkeit und druckte dann die Datei aus. Sie heftete das Manuskript in einem Ordner ab, dann machte sie sich auf dem Weg zum Zoofachgeschäft, wo sie nach ausführlicher Beratung durch einen sehr geduldigen Verkäufer ein neues Zuhause für Xaver erstand. Zurück in der Wohnung richtete sie das Aquarium liebevoll ein, befüllte es dann mit Wasser und setzte schließlich ihr kleines Haustier hinein. Zufrieden betrachtete sie, wie Xaver sich zur ersten Erkundung seiner neuen Behausung aufmachte.
»So, nun ist alles wieder gut, mein Liebling«, flüsterte Alice und wurde innerlich ein ganzes Stück ruhiger und zuversichtlicher. Inzwischen war es halb eins, sie lag gut in der Zeit. Noch schnell Jacky einen Besuch abstatten und dann los, zur Arbeit. Sie nahm den Ordner und ging damit zu ihrem Zimmer. Jacky würde jetzt wahrscheinlich wach sein. Obwohl, nach dem gestrigen Bierrausch …
Leise klopfte sie an die Tür. Keine Reaktion. Dann klopfte sie noch einmal lauter. Ein dumpfes »Wer ist da?«, klang aus dem Zimmer.
»Ich bin’s. Alice. Ich möchte dir mein Manuskript geben.«
»Ah, Moment.«
Kurz darauf öffnete sich die Tür. Jacky trug ein weites Totenkopf-Shirt, darunter eine gebleichte Jeans mit Löchern an den Knien und war barfuß. Obwohl sie verstrubbelt und ungeschminkt war, wirkte sie nicht so, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Das lag sicher an ihrem wachen und etwas nachdenklichen Blick.
»Guten Morgen«, sagte Alice freundlich. »Wie geht’s dir?«
Jacky stutzte und wich dann ihrem Blick aus. »Och, geht schon. Bisschen geschlaucht von gestern.«
Alice nickte. »Hab ich mir schon gedacht. Ich störe auch nicht lang, wollte dir nur das hier geben.« Sie reichte Jacky den Ordner. »Mein Manuskript.«
Jacky nahm es entgegen. »Wow.«
»Und lass dir ruhig Zeit mit dem Lesen. Wenn du fertig bist, sag mir einfach Bescheid. Ich bin sehr gespannt auf dein Feedback.«
Jackys Blick lag einen kurzen Moment ruhig auf Alice. »Das mache ich. Boa, danke.« Dann huschte ein kurzes Lächeln über ihr blasses Gesicht.
»Ich will, dass du es liest.«
Jacky nickte. Dann bildete sich eine Falte zwischen ihren Augenbrauen. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben.
»Du, Alice?«
»Ja?«
»Hab ich mich gestern eigentlich sehr daneben benommen? Ich weiß gar nicht mehr so genau …«
»Ja … Na ja. Du warst am Ende sehr betrunken und hast mich auf der Heimfahrt ein wenig provoziert. Aber alles in allem halb so wild. Eher kindisch als wirklich schlimm.«
»Echt? Egal, was ich da gesagt oder getan habe, es tut mir leid. Du hast es nicht verdient, blöd angemacht zu werden.«
Alice lächelte. »Schon gut. Das Festival war trotzdem eine tolle Erfahrung. Und das Lied von Bowie, das du mir gestern bei der Heimfahrt vorgesungen hast, war einfach wundervoll. Danke dir dafür.«
»Bowie? So, so.«
Alice sah Jacky immer noch lächelnd an, doch die wich nun ihrem Blick aus; ihre Augen glitten unruhig hin und her. Süß war Jacky, wenn sie ein bisschen verlegen und so verstrubbelt war, dachte Alice und spürte eine leichte Wärme in ihrer Brust aufsteigen.
»Ich freu mich schon auf Samstag. Du hast es nicht vergessen, oder?«
»Die Oper? Carmen? Nein, geht klar.«
»Genau. Und nun erhol dich noch ein bisschen … Wir sehen uns!«
Kurz nach neun abends betrat Alice nach einem recht zähen Arbeitstag mit einem Falafel Dürüm in der Hand die Wohnung. Sie steuerte auf die Küche zu, in der Hoffnung, dass weder Franzi noch deren Blondine sich dort herumtrieben. Dem war auch so –  sie hatte den Raum für sich allein. Sie goss sich rasch ein Glas Apfelsaftschorle ein, holte einen Teller und setzte sich an den Tisch. Kaum hatte sie den ersten Bissen verdrückt, hörte sie Schritte, die sich vom Gang aus näherten. Oh nein, hoffentlich war das nicht … Im nächsten Moment öffnete sich die Tür und Franzi trat ein.
»Hi, Alice«, sagte sie freundlich.
»Hi«, antwortete sie, einsilbig und dumpf.
Franzi setzte sich ihr gegenüber und schob eine Dose über den Tisch. »Hier, ich hab dir was mitgebracht. Das ist doch das Futter, das Xaver gerne mag, oder nicht?«
Alice sah kurz auf das Geschenk und nickte stumm, dann widmete sie sich wieder ihrer Mahlzeit.
»Ich weiß, du bist sauer.« Franzi seufzte. »Das mit dem Aquarium tut mir echt leid. Hast du schon ein Neues besorgt oder soll ich dir dabei helfen?«
»Natürlich hab ich schon ein neues Aquarium gekauft! Das war das Erste, was ich heute gemacht habe!«
»Ich gebe ich dir das Geld dafür. Ich kann es noch heute überweisen.«
»Es hat hundertneunzehn Euro gekostet. Ich habe den Kassenbon aufgehoben. Kann ich dir nachher geben.«
»Musst du nicht. Ich glaub dir den Preis natürlich.«
Alice biss trotzig in den Dürüm. »Und? Ist die sexy Blondine noch bei dir im Zimmer?«, fragte sie spitz.
»Nein, Ella ist heute Morgen gegangen.«
»So, so.«
»Sagst du mir bitte, was ich tun kann, damit du nicht mehr sauer auf mich bist?«
Alice atmete tief durch und sah Franzi kurz von der Seite an. »Erklär mir mal, wie du dazu kommst, eine wildfremde Person in meinem Zimmer – in meinem Bett, ganz nebenbei – übernachten zu lassen? Und wie diese Person dann auch noch so blöd sein kann, das Aquarium zu zerstören … Wart ihr derart besoffen?«
Franzi wirkte schuldbewusst. »Ja, wir waren alle betrunken, ich geb’s ja zu. Aber es war keine wildfremde Person in deinem Zimmer – das war eine Freundin von mir, die ich ganz gut kenne. Sie ist echt nett – normalerweise – wenn sie gerade keine Aquarien umwirft.«
Sie bemühte sich wirklich, konstatierte Alice, hatte aber keine Lust auf den Joke einzugehen.
»Und, bitte, glaub mir, dass ich nicht aus purem Jux eine Party veranstaltet habe, kaum dass Olga weg ist. Mir ist gestern einfach das Dach auf den Kopf gefallen. Da hab ich vier Mädels eingeladen, die mir ein wenig Gesellschaft leisten sollten, um mich abzulenken, von … du weißt schon … Olga halt. Ich konnte ja nicht ahnen, dass die Sache so ausartet. Ich war einfach so verdammt allein, hab mich so weggeworfen und ausgetauscht gefühlt, verstehst du das?«
»Meinetwegen – aber du hättest trotzdem niemanden in mein Zimmer lassen dürfen.«
»Stimmt schon. Aber ich war auch betrunken und außerdem noch sauer auf dich, wegen dem Kuss …«
»… für den ich rein gar nichts kann! Olga hat mich einfach überrumpelt!«
Franzi nickte. »Ja, das glaube ich dir sogar. Mittlerweile schon.«
Alice legte den angebissenen Dürum auf den Teller. »Hast du denn geahnt, dass sie was von mir will?«
»Ja. Schon recht lange sogar. Besonders schlimm wurde es, seit sie in die WG gezogen ist. Ab da hat sie mich ständig mit dir verglichen, wenn sie unzufrieden war, so nach dem Motto …«, sie äffte Olgas Piepstimmchen nach, »schau mal, Franzi, was du für ein Klotz bist – Alice hingegen ist so sensibel und einfühlsam, bla, bla, bla. Und sie interessiert sich für mich, meine Sorgen und mein Studium, lernt sogar mit mir. Warum kannst du nicht ein bisschen mehr so sein wie Alice?«
»Das muss nervig gewesen sein.«
»Auf jeden Fall, das war es. Und dann noch die Art, wie sie dich manchmal angesehen hat, sie hat dich regelrecht angeschmachtet – in der letzten Zeit sogar sehr oft. Vielleicht hast du es nicht bemerkt, ich aber schon. Ich bin vielleicht ein Klotz, aber ganz dumm, blind und gefühllos bin ich auch nicht.«
Alice überlegte. »Mir ist da echt nichts aufgefallen. Olga war mir gegenüber schon immer sehr herzlich und lieb, aber ich dachte, das wäre rein freundschaftlich. Ich hab auch keinen Unterschied gemerkt, seit sie hier eingezogen ist. Sie war ja auch vorher schon oft hier, hat schon immer irgendwie zur WG gehört.«
»Ich glaube, du kriegst so Einiges nicht mit. Als Olga noch nicht hier gewohnt hat, war unsere Beziehung deutlich besser, viel inniger. Doch seit wir jeden Tag so eng aufeinander saßen, hat sich was verändert. Wir sind uns gegenseitig immer mehr auf die Nerven gegangen. Gleichzeitig fing sie an, für dich zu schwärmen. Sie ist in den letzten Monaten ja regelrecht um dich herumgetanzt … und du hast das echt nicht bemerkt?«
Alice zuckte verwirrt mit den Schultern. »Nein. Na gut, sie hat öfter für uns alle gekocht und so. Aber das hat mich nicht verwundert, weil sie ohnehin gerne kocht und weil sie ja dann jeden Tag hier war.«
»Ist dir nicht aufgefallen, dass sie dein Lieblingsessen öfter gemacht hat als meines?«
Alice schüttelte den Kopf. »Nein, darüber hab ich nicht nachgedacht.«
»Wie auch immer. Noch schlimmer wurde es durch das Studium. Olga ist jetzt auf so ’ner Art Selbstfindungstrip …«
Alice seufzte. »Ist sie mit dieser Kommilitonin zusammen? Oder wohnt sie nur bei ihr?«
»Ich glaub, das ist nur ein Zusammenwohnen. Wobei die beiden freundschaftlich wohl recht eng miteinander sind. Die sind halt in der gleichen Spur: Suche und finde dich selbst, finde dein inneres Kind, deine innere Mitte, dein Chakra, dein Sonstwas. Schwinge mit deinen Resonanzen, streichle Steine, umarme Bäume, was weiß ich!«
»Du denkst sehr negativ über sie.«
»Ich bin einfach wütend und traurig. Ich hätte sie so gern zurück … aber sie will mich nicht mehr.«
»Und dafür lachst du dir jetzt irgendeine Blondine an? So sehr trauerst du um Olga?«
Franzis Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Das ist immer noch meine Sache.«
»Ja, da hast du schon recht.« Alice dachte kurz nach. »Ich hab wohl überreagiert. Natürlich kannst du mit anderen Frauen machen, was du willst, seit Olga dich verlassen hat. Weißt du, ich vermisse Olga ja auch und bin traurig, dass sie weg ist. Aber ich sollte dir keine Vorwürfe machen. Auch nicht dafür, wie du jetzt damit umgehst.«
Franzi nickte. »Stimmt.«
»Hast du denn seither irgendwas von ihr gehört?«
»Hm«, machte Franzi dumpf. »Sie hat mir eine Nachricht geschickt. Sie schreibt, dass sie jetzt Abstand braucht und zu sich selbst finden muss. Dir soll ich übrigens ausrichten, dass ihr der Kuss leidtut, aber sie wird sich nicht selbst bei dir melden. Sie meidet den Kontakt zu dir, um mich nicht noch mehr zu verletzen und um sich selbst zu schützen und so.«
»Das ist sicher vernünftig aber auch total schade. Hat sie sonst was geschrieben? Sieht sie noch eine Chance für euch beide?«
Franzi schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Sie kommt übermorgen vorbei, um ihre restlichen Sachen zu holen. Ihre Pädagogik-Freundin kommt mit und hilft ihr beim Tragen. Olga lässt dann gleich ihren Schlüssel da.«
»Ach je.«
Franzi sah mit glasigem Blick auf die Tischplatte und schwieg einen Moment, dann blickte sie Alice von der Seite an.
»Was ist denn eigentlich mit dir? Entwickelt sich da etwas mit Jacky?«
»Quatsch! Ich war doch mit ihr nur auf ’nem Festival, da ist rein gar nichts passiert. Aber morgen treffe ich mich mit Joanna, wenn du es genau wissen willst.«
»Mit Joanna? Herrje, hört das denn nie auf?«
»Vielleicht schon. Aber dazu muss ich sie treffen und herausfinden, was dahintersteckt. Bevor ich das nicht weiß, kann ich die Sache nicht abschließen.«
»Du misstraust ihr weiterhin, richtig?«
»Ja. Aber ich weiß nicht, ob zu Recht oder zu Unrecht.«
»Hast du dich schon mal ein wenig über sie informiert? Auf Facebook zum Beispiel? Vielleicht findest du die Antwort so viel schneller und einfacher.«
»Ich hab schon mal in sozialen Netzwerken nach ihr geguckt, aber da war sie nicht zu finden, jedenfalls nicht unter ihrem echten Namen.«
»Und auf der Webseite von ihrem Verlag?«
»Da ist nur so ein allgemeines Kontaktformular.«
»Aha. Und sonst steht im Internet rein gar nichts über sie?«
»Glaub nicht.«
»Komisch. Also ich check meine Dates jetzt immer vorher ganz genau ab und da findet sich in der Regel doch immer irgendwas …«
Alice dachte kurz darüber nach.
»Keine Ahnung, vielleicht muss ich noch mal genauer recherchieren.« Sie biss von ihrem Dürüm ab. »Und du gehst jetzt richtig auf Tour? War die Blondine demnach nur ein One-Night-Stand?«
Franzi zuckte mit den Schultern. »Sehr wahrscheinlich. Ich kenne Ella vom Fitness und der Sauna. Aber die Sache mit ihr ist recht unverbindlich und oberflächlich. Weißt du, jeder hat seine eigene Strategie, um über eine Trennung hinwegzukommen, und ich brauch halt Ablenkung und Trubel. Und ich werde mich jetzt einfach austoben, basta. Deshalb bin ich aber noch kein Flittchen oder ein schlechter Mensch. Ich war Olga immer treu. Ganze vier Jahre lang.«
»Und wie kommst du künftig zu deinen Dates? Kennst du vom Fitness so viele Frauen?«
»Ach, einige schon. Aber davon sind nur wenige echt interessant. Werd mich wieder öfter in der Szene herumtreiben, auf Partys gehen und vielleicht besuch ich mal den Lesbenstammtisch im Westend. Kannst ja mal mitkommen, wenn du willst. Außerdem hab ich mir ein Profil bei Queer-Elite angelegt.«
»Bei Queer-Elite , so, so …« Alice lächelte kurz, doch dann beschlich sie bei der Erwähnung der Dating-Plattform ein ungutes Gefühl. »Sag mal ehrlich … dir war es so wichtig, mich zu verkuppeln. Besonders seit letztem Oktober. Hatte das auch etwas mit Olga zu tun? Hattest du Angst, dass ich sie dir ausspanne?«
Franzi senkte den Blick und kniff den Mund zusammen. Alice’ Puls wurde schneller.
»Ach so? Bin ich dumm gewesen! Ich dachte, du wolltest für mich eine Partnerin finden, nachdem die Sache mit Lara so schiefgegangen ist. Damit ich mit einer neuen Partnerin glücklich werde! Dabei wolltest du mich nur aus dem Weg haben! Das hatte das gar nichts mit Lara zu tun – sondern allein mit Olga! Und weil das etwa zur gleichen Zeit war – Laras Auszug und Olgas Einzug – habe ich die falschen Schlüsse gezogen!«
Franzi hob abwehrend beide Hände. »Ja … auch … aber nicht nur und auch nicht hauptsächlich, bitte glaub mir das! Und es hätte dir ja tatsächlich helfen können …«
»Und warum hast du nicht einfach offen mit mir gesprochen? Und wie kannst du mir nur derart misstrauen? Ich würde doch nie mit deiner Partnerin was anfangen! Wenn du so über mich denkst, können wir unsere Freundschaft echt vergessen!«
»Aber nein, natürlich denke ich nicht so – und wir sind doch Freunde!«, rief Franzi. Ihre Augen begannen leicht zu glitzern. »Ich habe dir nichts von Olgas Schwärmerei erzählt, weil ich Olga nicht in den Rücken fallen wollte. Wenn sie etwas von dir will, soll sie dir das schon selbst sagen, findest du nicht? Ach, Alice, du und Olga, ihr habt euch einfach so gut verstanden, wart irgendwie auf einer Wellenlänge. Habt miteinander fürs Studium gelernt, habt euch immer wieder so gut unterhalten. Da wurde ich einfach eifersüchtig und hab mir Sorgen gemacht. Ich weiß doch, dass ich niemals so einfühlsam und sensibel sein kann wie du – und genau darauf steht Olga.«
»Was unter dem Strich bleibt, ist, dass du kein Vertrauen in mich hast und dass unsere Freundschaft keinen echten Wert hat.«
»Bitte übertreib jetzt nicht und stelle nicht alles in Frage! Für mich ist jedenfalls klar: Du bist meine Freundin!«
»Da bin ich mir nicht mehr sicher«, sagte Alice leise.
»Aber klar bin ich das! Warum sollte ich dir sonst von Joanna abraten – Wenn es mir nur darum gegangen wäre, dich in die Arme einer anderen zu treiben – egal ob Miststück oder nicht – dann hätte ich dich doch darin bestärkt, mit ihr anzubändeln!«
»Du weißt doch gar nicht, ob sie ein Miststück ist! Warum verurteilst du sie so schnell? Vielleicht hat sie sich wirklich verändert?«
»Ach, Alice, nun lass uns nicht schon wieder damit anfangen …«
»Egal, wie auch immer, mir reicht es jetzt! Du spielst mit mir, als wäre ich eine Marionette, bei der man nur an den richtigen Fäden ziehen muss. Du lässt besoffene, mir völlig fremde Frauen in meinem Zimmer schlafen, nur um mir eins auszuwischen, du machst dich darüber lustig, dass mir Xaver so wichtig ist und sprichst abfällig über ihn … Alles, was nicht in deine Welt passt wird schlechtgemacht oder nach deinem Willen getrimmt. Immer nur du, du, du! Du denkst viel zu viel nur an dich! Noch dazu vertraust du deinen eigenen Freunden nicht! Und ich – ich kann dir jetzt auch nicht mehr vertrauen!« Alice schnappte ihren Teller und ging damit zur Tür.
»Warte! Willst du das Futter für Xaver nicht mitnehmen?«
»Ach, friss es doch selbst!«, patzte Alice und war schon während sie das sagte, schockiert über ihre eigene Grobheit. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Franzi den Kopf auf beide Hände stützte, das Gesicht Richtung Tisch geneigt. Einen kurzen Moment lang hatte sie den Impuls zu Franzi zu gehen und sich für ihre gemeine Bemerkung zu entschuldigen. Es tat ihr weh, sie so traurig zu sehen, aber Alice war wütend. Sehr sogar. Nein – Franzi hatte sie verletzt und das ließ sich nicht sofort wieder richten. Sie sollte ruhig spüren, wie sauer sie jetzt war.
Kaum war Alice in ihrem Zimmer und hatte hinter sich abgesperrt – das würde sie jetzt immer tun! – stellte sie den Teller aufs Nachtkästchen, warf sich rücklings aufs Bett und ballte die Fäuste. Ihre Wut wich bald einem schmerzhaften Gefühl von Traurigkeit. Die ersten Tränen schlichen sich in ihre Augen. Sie griff nach Nani und drückte dessen weichen Stoffkörper fest an ihre Brust. Verdammt, was war nur los? Olga war ausgezogen, die Freundschaft zu Franzi ging kaputt … nein, falsch, diese Freundschaft war gar keine gewesen! Was Alice als Mitgefühl und Sorge um sich wahrgenommen hatte, war nichts anders gewesen als der Versuch, sie aus dem Weg zu schaffen, damit sie ihr bei Olga nicht in die Quere kam. Mit der Anmeldung bei Queer-Elite hatte diese Verkupplungs-Farce ihren Höhepunkt erreicht. Dieser Gutschein war nur ein Instrument gewesen, ein weiteres Werkzeug in Franzis Manipulationskoffer.
»Ich war so ein dummes Schaf«, murmelte Alice und drückte Nanis Bauch gegen ihr feuchtes Gesicht.
Sie gab sich noch eine Weile ihrem Schmerz und ihrer Enttäuschung hin, dann hatte sie genug vom Selbstmitleid. Sie stand auf und setzte sich an den PC. Vielleicht war ja Yvonne online: Ein Chat mit ihr würde ihr jetzt sicher guttun. Alice gab ihr Passwort bei Queer-Elite ein und ging auf Yvonnes Profil. Leider war sie nicht eingeloggt.
Alice griff gedankenverloren zu ihrem Dürum, biss hinein und überlegte. Ob sie im Netz noch ein wenig nach Joanna forschen sollte? Mehr als eine schnelle Suche bei Facebook und Instagram, einen Blick auf die Webseite des Verlages und eine kurze Google-Recherche hatte sie bisher nicht gemacht. Womöglich war es wirklich keine schlechte Idee, ihr ein wenig genauer auf den Zahn zu fühlen – da mochte Franzi recht haben.
Zur Sicherheit holte Alice noch einmal Joannas Visitenkarte hervor, die in ihrem Geldbeutel steckte. Ja, da stand »Joanna Stern«, mit Wohnadresse, E-Mailkontakt, Telefonnummer. Eine eigene Website war nicht angegeben. Okay, zurück zu Facebook. Wen kannte sie denn, der Kontakt zu ihr haben konnte? Dieser Manni-Typ, klar, aber den würde sie sicher nicht anschreiben! Außerdem kannte sie nicht mal seinen Nachnamen. Was war mit … Peter?
Ja doch, Peter! Wie hatte der gleich noch mit vollem Namen geheißen? Peter Mittermeier? Ja! Alice gab Vor- und Nachnamen in die Facebook-Suchleiste ein. Und tatsächlich – da erschien nach dem Durchklicken verschiedener Profile Joannas früherer Liebhaber. Er hatte zwar etwas zugelegt und trug einen kleinen Kinnbart, war aber doch ganz eindeutig der, nach dem sie gesucht hatte.
Alice überlegte kurz. Sollte sie? Na ja … warum nicht? Vielleicht konnte sie bei ihm etwas über Joanna erfahren. Etwaige Informationen von Peter könnten für das morgige Treffen schon hilfreich sein. Sie würde nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, und nach Joanna fragen, sondern ihm erst einmal eine Freundschaftsanfrage senden. Er würde sich vermutlich darüber wundern, da sie im Studium keinen besonders herzlichen Kontakt miteinander gepflegt hatten und das letzte Aufeinandertreffen bei Joanna sehr unerfreulich verlaufen war. Und dann war da noch die Sache gewesen mit dem Telefonsex, zwei Tage später …
Alice dachte zurück an den Moment, als sie zum zweiten und letzten Mal bei Joanna zu Besuch gewesen war. Der Abend war gänzlich anders verlaufen, als sie sich das gewünscht und vorgestellt hatte. Joanna hatte am Vortag mit Peter Schluss gemacht und damit ihr Versprechen Alice gegenüber eingehalten. Doch obwohl sie nun frei gewesen wäre, war Joanna noch nicht über ihn hinweg und das war stark zu spüren gewesen. Sie hatte abwesend und distanziert gewirkt, ganz anders als noch zwei Tage zuvor. Es war zu keiner erotischen Annäherung zwischen ihnen gekommen, zu keiner Romantik, zu keinem Knistern. Zu allem Übel hatte auch noch Peter angerufen. Dummerweise erzählte Joanna ihm, dass Alice bei ihr war und bat darum, in Ruhe gelassen zu werden. Doch Peter spornte diese Information zu Höchstleistungen an. Er besaß tatsächlich die Dreistigkeit, sie zum Telefonsex überreden zu wollen – zu dritt! Alice erwartete, dass Joanna ihn sofort abservieren und auflegen würde, doch die beschloss spontan, Peter einen Streich zu spielen und zog Alice kurzerhand in ihr Spiel mit hinein. Joanna stellte das Telefon laut und dann gaukelten sie ihm gemeinsam vor, dass sie sich gegenseitig auszogen, küssten und streichelten, während sie komplett angezogen nebeneinander im Wohnzimmer auf der Couch saßen. Alice war bei der Sache überhaupt nicht wohl, doch sie machte mit – zum Teil, weil sie Peter ebenfalls ärgern wollte, zum Teil, weil sie so vernarrt in Joanna war, dass sie zu fast jedem Unsinn bereit gewesen wäre. Als Joanna ihm dann eröffnete, dass ihre erotischen Dialoge nur Verarschung gewesen waren, war Peter wütend und amüsiert zugleich.
»Ihr billigen Schlampen«, blaffte er, ließ ein gehässiges Wiehern los und warf ihnen noch ein paar andere Obszönitäten an den Kopf, unter anderem, dass Alice hin und wieder eine »warme Wurst im Bauch« auch nicht schaden würde.
Joanna lachte ihn aus, laut, schallend und schadenfroh. Nein, das war kein schöner Abend gewesen. Er war am Ende richtig hässlich, absolut geschmacklos. Alice verabschiedete sich nach dem Telefonat bald und ging nach Hause.
Damals hatte sie noch gehofft, dass sich alles irgendwie einrenken würde, sobald Joanna die Trennung von Peter verarbeitet hatte. Schließlich war sie doch nun ungebunden – und sie hatte sich extra für sie von ihm gelöst, nicht? Doch es war anders gekommen. Ganz anders.
Alice seufzte und schob die unerfreulichen Bilder aus der Vergangenheit von sich. Trotzdem würde sie Peter jetzt anschreiben. Das war alles so lange her; es war doch sicher ordentlich Gras darüber gewachsen. Sicher war er inzwischen reifer und erwachsener geworden, genau wie sie selbst auch.
Sie klickte auf »Freund hinzufügen« und entschied sich dafür, noch eine Nachricht dazuzuschreiben. »Hi Peter, ich bin’s, Alice, erinnerst du dich? Wir haben gemeinsam Germanistik studiert. LG Alice«
Dann wartete sie ab, ob er reagierte … Doch in den nächsten Minuten tat sich nichts. Alice klickte noch eine Weile in Facebook herum, aß nebenher ihren kalten Dürüm, las irgendwelche Postings und betrachtete diverse Musik- und Katzenvideos, bis ihr das zu stumpfsinnig wurde. Sie legte sich aufs Bett und griff nach dem Buch, das in der Schublade ihres Nachtkästchens lag. Eine Stunde später wurde sie müde. Sie kontrollierte noch einmal den Nachrichteneingang auf Facebook, doch Peter hatte sich nicht gemeldet. Egal. Sie würde morgen erneut nachsehen. Jetzt wurde es Zeit zu schlafen, schließlich musste sie am nächsten Tag früh aus dem Bett und wollte auch für das Treffen mit Joanna nach der Arbeit noch fit – und vor allem konzentriert und wachsam – sein.
Gleich nach dem Aufstehen loggte sich Alice bei Facebook ein, doch der Nachrichteneingang war leer. Auch während ihres Arbeitstages schaute sie immer wieder verstohlen auf ihr Handy, doch es kam keine Reaktion von Peter. Nach der Arbeit machte sich sofort auf den Weg zu Joannas Wohnung.
Etwa eine halbe Stunde später stand Alice vor einem prächtigen Haus im vornehmen Stadtteil Nymphenburg. Sie hatte sich zwar schon vorab auf ein luxuriöses Domizil eingestellt, was sie aber hier sah, übertraf ihre Erwartungen bei weitem. Das Anwesen war mehr als imposant: Eine strahlend weiße Villa, mit großem, gepflegtem Vorgarten und kleinem Springbrunnen. Den Eingang zum Grundstück flankierten zwei Marmorengel – echt nobel.
Aber Alice wollte sich jetzt nicht beeindrucken lassen, und Zögern wollte sie auch nicht – vielleicht beobachtete Joanna sie bereits von einem dieser Fenster aus. Sie drückte auf den Klingelknopf und fast im gleichen Moment summte der Toröffner. Mit zielstrebigem Schritt ging sie durch den Vorgarten auf die Eingangstür zu. Dabei stolperte sie über einen Ast – war das ein Vorbote der Tollpatschigkeit, die sie in Kontakt mit Joanna gern erfasste? Nicht aus dem Konzept bringen lassen! , ermahnte sie sich. In dem Moment wurde auch schon die Haustür geöffnet und Joannas Gestalt tauchte im Türrahmen auf.
Sie sah in ihrer schwarzen Bluse und der engen schwarzen Jeans wieder unfassbar großartig aus. Diese wallende, glänzende Haarmähne, diese schmale Taille! Doch beim Näherkommen entdeckte Alice einen großen, dunklen Fleck unter Joannas Auge, kaschiert mit viel Make-up, aber dennoch unübersehbar.
Alice ging noch zwei Schritte auf sie zu, hielt aber einen gewissen Sicherheitsabstand ein, um eine Umarmung zu vermeiden.
»Ich freu mich sehr, dass du da bist. Komm doch rein«, sagte Joannas mit ihrer Samtstimme und lächelte.
Alice folgte ihr in den luxuriösen Flur.
»Du kannst die Schuhe anlassen, wenn du möchtest«, erklärte Joanna, was Alice bei dem piekfeinen, glänzenden Marmorboden etwas überraschte. Na ja, wahrscheinlich hatte sie eine Putzfrau, die das gesamte Haus jeden Tag auf Hochglanz polierte. Also ließ sie ihre Stiefeletten an und folgte Joanna in das riesige Wohnzimmer.
Wieder war sie verblüfft. Ein monströses schwarzes Ledersofa mit weißen Kissen thronte mitten im Raum auf einem strahlend weißen Teppich, davor stand ein Designer-Glastisch mit schwarz-weiß gesteiften Beinen und an der Wand war ein Flachbildfernseher angebracht, der fast die Größe einer Kinoleinwand hatte. Mit Sicherheit hatte ein Innenarchitekt den Raum eingerichtet, so stimmig und stilsicher wirkte alles. Alice fühlte sich in den Roman »Carol« von Patricia Highsmith versetzt. So ähnlich musste sich die junge Therese gefühlt haben, als sie das erste Mal Carols mondänes Haus betreten hatte.
»Setz dich doch«, sagte Joanna nun. »Mach es dir bequem. Darf ich dir was zu trinken anbieten? Vielleicht einen Latte Macchiato oder ein Glas Champagner? Ich kann dir aber auch gern einen Longdrink machen, wenn du willst.«
Alice war sicher, dass in diesem Luxushaushalt alles vorhanden war, egal welchen ausgefallenen Getränkewunsch sie jetzt haben mochte. Am liebsten hätte sie jetzt um ein Dosenbier gebeten – dieses billige Zeug vom Discounter, das Jacky gerne kaufte, doch sie schüttelte diesen albernen Gedanken ab und erwiderte: »Ein Wasser wäre super, danke.«
»Mit oder ohne Sprudel? Mit Eis und Zitrone? Vielleicht einen kleinen Schuss Holunderblütensirup dazu?«
Alice war überfordert. »Äh – einfach nur ein Wasser bitte. Ohne alles.«
»Okay, gerne. Bin gleich zurück.«
Als Joanna in der Küche verschwunden war, atmete Alice tief durch. Nein, sie würde sich von diesem ganzen Schnickschnack hier nicht beeindrucken lassen und dieses Domizil auch nicht mit ihrem kleinen WG-Zimmer in Neuperlach vergleichen. Sie würde ganz einfach »bei sich« bleiben und sich auch kein bisschen klein oder schäbig fühlen. Viel interessanter als der ganze Glanz und Gloria hier war doch die Frage, was mit Joannas Auge passiert war. Das würde sie herausfinden, sobald diese mit dem Wasser zurückkam. Alice atmete erneut tief durch und versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen. Doch als Joanna kurz darauf mit einem Getränketablett ins Wohnzimmer zurückkehrte, dieses auf den Tisch stellte und sich nur eine Handbreit von ihr entfernt aufs Sofa setzte, raste ihr Herz so schnell und wild, dass ihr davon schwindlig wurde. Ja, sie fühlte sich tatsächlich wie Therese, auch wenn sie fast doppelt so alt war und viel mehr Erfahrung hatte als die Romanfigur – und auch wenn sie sich vor diesem Treffen fest vorgenommen hatte, sich nicht von Schönheit und Eleganz – weder von Joannas noch von der des Hauses – einwickeln zu lassen. Also Schluss mit dieser passiven Kleinmädchenhaltung – ab nach vorne!
»Bedien dich einfach.«
Joanna deutete auf die edle Karaffe und das leere Glas. Daneben stand eine mit einer prickelnden Flüssigkeit gefüllte Sektflöte. »Ich werde mir einen Schluck Champagner gönnen. Den brauch ich jetzt – zur Beruhigung.« Dann lächelte sie etwas zittrig.
»Du bist nervös?«
»Ja. Mehr als du dir vorstellen kannst.«
Eigentlich hätte Alice diese Aussage beruhigen können – sie war offenbar nicht allein mit ihrer Aufregung – doch sie wurde dadurch nur noch angespannter. Warum war Joanna nervös? Was hatte sie vor? Was würde hier gleich passieren?
Alice goss sich ein Glas Wasser ein, war dankbar, dass ihre Hand dabei nicht zitterte – jedenfalls nicht sichtbar – und nahm einen Schluck.
»Was ist denn mit deinem Auge passiert?«, fragte sie dann.
Joanna senkte kurz den Blick.
»Das war Manni«, sagte sie leise.
Dann griff sie zum Champagnerglas. Überrascht nahm Alice wahr, dass ihre Hand dabei zitterte – und zwar merklich.
»Manni? Ja, aber … warum denn das?«
Joanna nahm einen Schluck und sah Alice dann direkt an. In ihren hellblauen Katzenaugen glitzerte es leicht. Sie atmete tief durch.
»Das ist … der Grund warum ich noch einmal mit dir reden wollte. Ich wollte dir sagen, was ich wirklich fühle. Und ich hoffe sehr, dass du mir glaubst, nach dem, wie es damals mit uns auseinander gegangen ist.«
Alice war jetzt völlig verdattert. Sie fühlte sich wie im falschen Film.
»Wie, was? Ich verstehe jetzt gar nichts mehr! Was fühlst du? Und warum hat Manni dich geschlagen?«
Eine Träne floss über Joannas rechte Wange. Sie schwieg. Die Stille zwischen ihnen beiden wurde so laut, dass Alice sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. In ihrem Kopf rauschte und pochte es – kein klarer Gedanke war mehr möglich. Die Szene erschien ihr völlig unwirklich, surreal. Zugleich schien es ihr, als wäre die Zeit stehen geblieben – oder ihr Herz – oder beides.
Dann öffnete Joanna den Mund und hauchte: »Alice, ich liebe dich.«
Sie wollte schlucken, konnte aber nicht. Alles um sie herum begann sich zu drehen.
»Du liebst mich?«
Ihre eigene Stimme hörte sich fremd an, wie sie dumpf durch ihren rauschenden Kopf hallte.
Joanna nickte. »Ja. Ich liebe dich. Ich habe dich schon damals geliebt – und heute liebe ich dich fast noch mehr.«
Alice mobilisierte all ihre Kräfte. Versuchte, sich zu konzentrieren, den Schwindel zu besiegen, den Krach in ihrem Kopf abzuschalten. Sie räusperte sich.
»Aber warum hast du mich damals abserviert? Und was war mit Robert?«
»Ich hatte Angst.« Joannas Stimme bebte. »Ich wollte nicht wahrhaben, dass … wollte sein, wie alle anderen. Ein bisschen rummachen mit einer Frau, das war schick, aber ich wollte doch nicht lesbisch sein. Ich wollte den einfachen Weg gehen. Aber das ist jetzt vorbei. Ich habe Manni gesagt, was ich für dich empfinde und mit ihm Schluss gemacht. Egal, was jetzt passiert, ob du mir noch eine Chance gibst oder nicht, für mich hat das Lügen nun ein Ende.«
»Ja, aber …« Alice stockte, suchte in ihrem wirren Gehirn nach Worten. »Aber – als wir uns im Januar im Café getroffen haben, hast du mir noch gesagt, dass du hetero bist und nie mit einer Frau zusammen sein könntest.«
»So dachte ich damals auch. Oder so wollte ich denken. Aber dann bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich habe seit unserem Wiedersehen immerzu an dich gedacht.«
Alice atmete tief durch. Der Schwindel hatte etwas nachgelassen, genau wie das dumpfe, unwirkliche Gefühl. Ihr Verstand funktionierte wieder und ihr Schutzinstinkt war ebenfalls erwacht. »Und dann lässt du mich mit dem Manuskript zwei Monate schmoren?«
»Das habe ich dir doch schon erklärt. Ich wollte dich mit meiner Absage nicht verletzen. Außerdem hatte ich Angst um meine Beziehung mit Manni – wir hatten doch schon Pläne für unsere Zukunft gemacht, wollten nach Starnberg ziehen und Kinder haben. Ich dachte, wenn ich den Kontakt zu dir meide, ist das für uns alle das Beste.«
»Aber hör mal – du musstest doch davon ausgehen, dass ich wegen meinem Buch noch einmal nachhake!«
Joanna nickte. »Ich hatte gehofft, du tust es nicht. Ich dachte, wenn ich nichts von mir hören lasse, bist du sauer und versuchst es bei einem anderen Verlag. Das war natürlich dumm von mir.«
»Das war es, ja. Und jetzt siehst du plötzlich doch eine Chance für mein Manuskript? Ich verstehe das alles nicht … ist mein Roman nun gut oder nicht?«
»Natürlich müssten wir viel daran ändern. Viel umschreiben oder sogar neu schreiben. Aber du hast Talent, du hast eine schöne Sprache … Ich würde mir tatsächlich gern mit dir gemeinsam diese Arbeit machen. Es hat mir wirklich wehgetan, dich derart enttäuscht zu sehen, als ich dir mein Feedback gegeben habe. Und zu sehen, dass ich dich schon wieder verletze, hat mich ungemein aufgewühlt und mir keine Ruhe gelassen. Ich will dir nie wieder wehtun, Alice, nie wieder. Ich glaube an dich und ich helfe dir gerne auf die Sprünge, damit das ein wirklich gutes Buch wird.«
»Hm … Ich weiß nicht, Joanna, das ist schon alles sehr seltsam. Ich fühle mich wie auf einer Schaukel, mal vor, dann wieder zurück …«
»Ich weiß. Und ich hoffe wirklich sehr, dass du es schaffst, mir wieder ein kleines Stück Vertrauen zu schenken. Mein Versteckspiel hat jetzt ein Ende. Ich bin frei, ich habe mich von Manni gelöst, ich werde ab jetzt ein ehrliches und mutiges Leben führen. Und wenn du willst, mich willst, kannst du ein Teil davon sein.«
Alice’ Blick schweifte von Joannas Gesicht auf den Glastisch vor ihr und dann durchs gesamte Wohnzimmer. Während ihre Augen den edlen, schwarz-weiß eingerichteten Raum scannten, versuchte ihr Verstand die eben gesagten Worte zu verarbeiten.
Joanna schien ihre Überforderung zu spüren.
»Alice«, sagte sie ungemein sanft und Alice’ Blick glitt zurück zu Joannas Gesicht und ihren hellblauen Augen. »Weißt du eigentlich, wie bezaubernd du bist? Die Jahre haben dich noch viel interessanter werden lassen, deinen verträumten Augen noch mehr Wärme und Kraft verliehen und deinem süßen Lächeln noch mehr Zauber und Magie.«
Wow , dachte Alice geschmeichelt, so schöne Worte  …
Sie riss sich zusammen und versuchte, vorsichtig zu bleiben.
»Du weißt, dass das hier gerade wirkt, wie eine Szene aus einem kitschigen Liebesroman? Vollkommen unrealistisch? Unvorhersehbare Wendungen, ein überraschendes Liebesgeständnis?«
Joanna lächelte. »Ja, ich weiß. Als deine Lektorin würde ich dir das nie und nimmer durchgehen lassen.«
Ihr Lächeln und der zarte Anflug von Humor ließen Alice’ Brust heiß werden. Sie spürte, wie ihr Schutzwall bröckelte … aber vielleicht war das auch nicht schlimm. Schließlich hatte Joanna auf alle ihre Fragen geantwortet und sie hatte ganz ruhig und ehrlich dabei gewirkt. Es war doch möglich, dass sie tatsächlich die Wahrheit sagte, egal wie verwirrend die ganze Geschichte war.
»So etwas würde ich auch nicht schreiben. Glaube ich zumindest.«
»Und wenn, dann wäre es wenigstens schön in Worte verpackt«, sagte Joanna, noch immer lächelnd. »Ich weiß, ich habe mich seltsam und widersprüchlich verhalten. Aber warum sollte ich dir hier und jetzt Lügen erzählen? Warum sollte ich dir etwas vormachen? Was hätte ich davon?«
»Keine Ahnung. Nichts, schätze ich …«
»Siehst du?«
»Was ist mit Manni? Ist er ausgezogen?«
Joanna nickte. »Ja, am Wochenende. Es gab eine heftige Auseinandersetzung«, sie deutet auf ihr Auge, »aber jetzt ist er weg, für immer.«
Alice’ Brustkorb brannte jetzt wie Feuer, ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Hat er dir noch mehr angetan?«
Joanna zuckte mit den Schultern.
»Er hat mich halt verprügelt. Aber ich habe mich zur Wehr gesetzt und gleich die Polizei gerufen. Er wird sich mir jetzt nicht mehr nähern, es sei denn, er will hinter Gitter.«
»So ein Arschloch!«, entfuhr es Alice. Ihr Schutzwall war dabei, komplett in sich zusammenzufallen, und sie ließ es ohne Widerstand zu.
»Ich denke, er hat einfach die Kontrolle über sich verloren. Er ist ein temperamentvoller Typ.«
»Oh, Joanna, das tut mir leid.«
Joannas Stimme war ungemein sanft und warm. »Ist schon gut, Liebes. Das zählt zur Vergangenheit. Wichtig für mich ist jetzt einzig und allein: Was fühlst du für mich? Gibt es für uns beide noch eine Chance?«
Alice horchte in sich hinein, spürte ihren Puls rasen, fühlte die Enge in ihrer Brust, das schmerzhafte, sehnsüchtige Zusammenziehen. Ihr Kopf hatte kapituliert, ihre Emotionen hatten nun freie Bahn. Ihre Augen begannen zu brennen und ihre Sicht verschwamm. Sie fühlte Joannas Hand ganz sanft auf ihrer Wange und sofort stand ihr gesamtes Gesicht in Flammen.
Joannas Stimme war ganz zart und leise, als sie fragte: »Alice, darf ich dich küssen?«
Dieser gleiche Satz, die gleiche Szene wie vor neun Jahren, damals in Joannas kleiner Küche! Und die Emotionen, damals wie heute unglaublich stark und mitreißend, fast wie ein Orkan, der ihr Gehirn völlig leerfegte. Sie konnte nur stumm nicken.
Da nahm Joanna Alice’ Kopf in beide Hände und beugte sich nach vorne, bis ihre weichen, vollen Lippen ihren Mund sanft berührten und damit eine gigantische Explosion in ihrem gesamten Körper auslösten. Alice spürte, wie Joannas Zunge ihre Lippen trennte und sich forschend vortastete, war wie elektrisiert, ließ es einfach geschehen und verschmolz mit diesem Kuss, mit diesem Moment. Alles um sie herum begann sich aufzulösen, wurde unwichtig.
Joanna strich ihr zärtlich übers Haar und über die Wange, während der Kuss intensiver wurde, während sich ihre Zungen begegneten, sich bald lustvoll umkreisten und sich ihre Lippen immer fester aneinander pressten. Joannas rechte Hand wanderte langsam von ihrem Gesicht hinab, zu ihrem Hals und ihrem Dekolletee. Sie schob Alice sanft nach hinten, sodass ihr Oberkörper auf dem Sofa zum Liegen kam. Joanna küsste sie noch immer, zärtlich, intensiv und leidenschaftlich, ihre linke Hand lag weiterhin auf Alice’ Wange, während ihre rechte Alice’ Dekolletee streichelte und nun etwas tiefer glitt, hin zu ihrer Bluse.
Alice spürte wie sie die Knöpfe nacheinander öffnete, mit Bedacht, ohne jede Eile, bis zum letzten Knopf in Höhe ihres Bauchnabels. Nun strich Joanna den Stoff beiseite und legte ihre warmen Hände sanft auf ihren Brustkorb. Sie löste ihre Lippen von Alice und sah sie einen Moment lang warm und liebevoll an, mit ihren intensiven blauen Augen. Alice’ Herz pochte erwartungsvoll, sie schien weiterhin nur aus Gefühl zu bestehen, aus Sehnsucht, Erregung, Liebe – während ihr Verstand gänzlich verstummt war. Sie gab sich hin, ließ sich mitnehmen in ein Reich aus Erotik, Wärme und Leidenschaft. Joanna küsste ihren Hals, dann berührte sie mit ihren Lippen den Bereich zwischen ihren Brüsten, sie küsste sich immer tiefer hinab, bis hin zu ihrem Bauch … Im gleichen Moment wanderten ihre Hände hinauf zu Alice’ Brüsten und streichelten sie, kneteten sie sanft. Dann löste sie sich von ihr, setzte sich auf und begann ihre eigene Bluse aufzuknöpfen.
Alice beobachtete wie sie aus ihrem Oberteil schlüpfte und den Verschluss ihres BHs öffnete, betrachtete Joannas nackten Oberkörper, ihren wundervollen, runden Busen mit den kleinen Brustwarzen, ihren flachen Bauch, ihre schlanken Arme. Alice war von dem Anblick so geblendet, dass sie fast wie hypnotisiert war. Sie spürte, wie es zwischen ihren Beinen heiß wurde.
Joanna beugte sich wieder zu ihr hinab, küsste sie zärtlich auf den Mund, während ihre Hände zu ihrem Rücken glitten und den Verschluss ihres BHs öffneten. Mit einer flinken Bewegung entfernte sie den Stoff zwischen ihnen, dann ließ sie ihren bloßen Oberkörper langsam auf Alice herabsinken, bis sie Haut an Haut lagen und sie das Schlagen von Joannas Herz direkt über dem ihren spürte, während ihre weichen Brüste sich gegen ihren Busen pressten.
Erneut küsste Joanna sie auf den Mund, dieses Mal ganz leidenschaftlich und heiß. Alice schmolz unter ihr dahin, war ihr völlig ergeben, gierte nach jeder neuen Berührung und war gleichzeitig völlig davon abhängig, was Joanna ihr gab, da sie noch immer komplett von ihren Emotionen überwältigt und handlungsunfähig war. Als sie spürte, wie sich Joannas Hand über dem Jeansstoff auf ihre intimste Stelle legte, hielt sie den Atem an. Auf einmal mischte sich in diese heftigen Gefühle eine Angst, die sie nicht näher fassen konnte … doch wurde sie weiter mitgerissen von Joanna und diesem Moment, der so unwirklich schien, sie gab sich mit rasendem Herzen weiterhin dieser heißen Verführung hin, dieser unglaublich erotischen und faszinierenden Frau, die sie so sanft und verlockend berührte und küsste, die ihren Geist so völlig lahmlegen und fesseln konnte, die dieses Geschehen hier dominierte, zu ihrer Szene machte, zu ihrer Geschichte …
Ihre Szene, ihre Geschichte … wiederholte eine Stimme in Alice’ Kopf, während die wachsende Beklemmung dominanter wurde und einen unangenehmen Druck in ihrer Brust erzeugte. Was passiert hier? Was passiert mit mir? Plötzlich tauchten die Bilder von damals vor ihr auf. Sie erinnerte sich an die gigantischen Emotionen, die sie vor Wonne und Begehren fast hatten zerspringen lassen – aber auch an den Schmerz zwei Wochen später, der sich anfühlte, als würde sie innerlich durchbohrt werden. Als hätte man sie erst sanft in den Himmel gehoben, um sie dann hart abstürzen zu lassen, auf zackiges Felsgestein. Auch damals hatte Alice sich mitreißen lassen, hatte sich hingegeben und vertraut, dass es gut und richtig sein würde. Sie hatte es natürlich auch selbst gewollt – keine Frage. Aber wollte sie dies jetzt auch? Wollte sie Ähnliches wieder? Erneut zum Himmel fliegen und dann abstürzen? Aber wieso fürchtete sie denn, abzustürzen? Woher kam diese Angst? Woher dieser Rest Unsicherheit in Bezug auf Joannas Absichten? Warum gelang es ihr nicht, Joanna zu vertrauen?
Allmählich wurden diese Fragen in Alice’ Kopf größer und verdrängten die süße Betäubung. Warum fühlte sich das hier nicht richtig an? War es nicht genau das gewesen, was sie sich jahrelang gewünscht hatte? Nun lag dieses Glück greifbar vor ihr – oder vielmehr direkt auf ihr – da wollte sie es gar nicht mehr? Oder lag es daran, dass sich das hier nicht echt anfühlte, nicht so wie echtes Glück sich eben anfühlen sollte, sondern dass es irgendwie zu perfekt war, fast filmreif, zu übertrieben und inszeniert …
Joanna sah sie aufmerksam an und streichelte über Alice’ Brüste und ihren Bauch. Ihre rechte Handfläche ruhte weiterhin zwischen Alice’ Beinen. Ob sie ihre Zweifel spürte? Ob sie wartete, weil sie sichergehen wollte, dass es für sie passte? Auf ein Zeichen von Zustimmung …
Wohl eher nicht. Denn nun begann Joanna, sie direkt an ihrer empfindsamsten Stelle zu massieren. Alice schloss einen Moment die Augen und horchte in sich hinein. Oh ja, die Berührungen erregten sie, zweifellos. Und ja – und sie würde sehr bald zum Höhepunkt kommen, sogar ohne, dass Joanna ihre Jeans überhaupt öffnen musste. Aber fühlte sich diese Erregung schön und prickelnd an? Oder nicht vielmehr bedrängend und sogar etwas quälend? Alice öffnete die Augen. Sie sah wie Joanna sich über ihre Brüste beugte und deren Spitzen mit ihren Lippen umschloss … Zweifellos war Joanna eine großartige Liebhaberin, sie wusste, wie sie ihre Leidenschaft anheizen konnte und wie sie liebkosen musste, aber das Gefühl – Alice’ Gefühl – passte einfach nicht …
Plötzlich fiel ihr Jackys Frage ein, die diese ihr am Festivalabend gestellt hatte: »Liebst du Joanna selbst – oder nur das Bild von ihr?« Was für eine kluge Frage! Wer war Joanna denn – sie kannte sie doch gar nicht! Wer war diese Frau, die jetzt ihr Blut zum Kochen brachte und sie bald zum Explodieren bringen würde? Und warum musste sie gerade jetzt, in diesem hitzigen Moment, an Jacky denken? Jacky, die so unperfekt war, so leidenschaftlich und verrückt, so strahlend und so düster, dabei aber immer spürbar und authentisch. Alice kannte zwar auch Jacky nicht besonders gut, aber sie vertraute ihr. Auch wenn sie sich bisweilen verschlossen und rätselhaft zeigte, sie vertraute ihr womöglich sogar mehr als irgendeinem anderen Menschen, den sie kannte. Sie wusste, dass sie sich bei ihr fallen lassen könnte, ohne Gefahr zu laufen, hart zu landen. Das war wohl der entscheidende Unterschied.
Alice spürte Joannas Hände auf ihrem Bauch und sah, wie sie sich an der Schnalle ihres Ledergürtels zu schaffen machte … es war der Gürtel, den Jacky ihr auf dem Festival geschenkt hatte, mit diesem verschmitzten Grinsen und einem »Tadaa!« Der Gürtel, den sie sehr mochte und seither fast zu jedem Anlass trug. Plötzlich war Alice sicher, dass falsch war, was hier gerade passierte, dass sie nicht wollte, dass Joanna weiter an Jackys Geschenk herumfingerte.
»Stopp!«
Verdutzt hielt Joanna inne.
»Ich kann das nicht.«
Alice richtete sich auf, erhob sich vom Sofa, zog eilig BH und Bluse an und schloss die Gürtelschnalle. Das Blut strömte immer noch wie heiße Glut durch ihre Adern und ihr Herz pochte schmerzhaft bis zum Hals.
»Was … was ist denn los?«
»Das hier ist nicht richtig, tut mir leid.«
»Ja, aber … Ich liebe dich doch! Und du liebst mich auch, oder etwa nicht?«
Alice schluckte. Ihre Stimme war heiser. »Nein … Ich glaube, ich liebe dich nicht, Joanna«, sagte sie leise.
Deren Augen weiteten sich. »Was?«
»Ich liebe dich nicht. Wie auch. Ich kenne dich überhaupt nicht. Ich war nur in eine Vorstellung verliebt, die ich von dir hatte … das ist mir jetzt klar geworden …«
»Ja, aber … Ich liebe dich! Zählt das denn gar nicht? Ich habe sogar Manni für dich aufgegeben!«
Der entsetzte Blick, den Joanna ihr jetzt zuwarf, versetzte ihr einen schmerzhaften Stich, der aber nicht so tief reichte, um sie zum Wanken zu bringen. Sie ging einen Schritt zurück.
»Tut mir leid. Ich weiß jetzt: Das mit uns würde nicht funktionieren.«
»Habe ich etwas falsch gemacht?«
Ratlos zuckte Alice mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«
»Ja, aber …«
»Nein. Ich muss jetzt gehen!« Sie kehrte ihr den Rücken zu und bewegte sich zur Tür. Joanna sprang vom Sofa auf und packte sie am Arm.
»Bitte, geh nicht!«
Alice drehte sich zu ihr um. »Doch, ich gehe.«
Joannas Griff um ihren Oberarm wurde fester, unangenehm fest, der Blick in ihren Augen ließ Alice einen Moment lang erschaudern. Sie waren weit aufgerissen und schienen regelrecht zu glühen, ihr Blick war panisch.
»Lass mich los, bitte!«
»Nein!« Joanna Stimme klang plötzlich ungewohnt hart. Sie kniff die Brauen zusammen, während ihre Augen noch immer heiß und wild funkelten.
»Ich! Gehe! Jetzt!«, sagte Alice bestimmt.
Joanna sah jetzt nicht mehr panisch aus – eher wütend, fast schon rasend vor Wut. Oder bildete sie sich das nur ein? Waren es doch nur Schmerz und die Sorge, von ihr alleingelassen zu werden, die da in ihren Augen glühten? Was auch immer: Joanna machte ihr Angst. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht – und Alice musste hier weg, und zwar so schnell wie möglich!
Sie riss sich los, wandte sich um und eilte mit großen Schritten aus dem Wohnzimmer.
»Alice – bitte!« Joannas Stimme hatte die Härte wieder verloren, klang schmerzerfüllt und flehend.
Doch Alice floh ohne weiteres Zögern aus dem prachtvollen Haus ins Freie. Verdammt – mit Joanna stimmt etwas ganz und gar nicht! , schoss ihr durch den Kopf, als sie das Gartentor hinter sich zuknallte. Sie lief wie vom Teufel gehetzt weiter, bis sie an der U-Bahnstation angelangt war.