Kapitel 11
Eine halbe Stunde später stand Alice vor einer Kneipe mit schwarzer Fassade und bunten Postern an den Fensterscheiben, über deren Eingang in roten Buchstaben der schlichte Name »Rockbar« stand. Ihr Herz schlug rasend schnell. Es zog sie förmlich hinein in diesen Laden, sie konnte es kaum erwarten, wollte, nein, musste so schnell wie möglich bei Jacky sein.
Schwungvoll riss sie die Tür auf. Wummernde Musik mit Growlgesang schallte ihr entgegen. Das Innere der Rockbar sah fast genauso aus, wie sie sich das vorgestellt hatte: schwarze Wände, schwarze Tische, schwarze Stühle, eine lange schwarze Theke, davor eine Reihe schwarzer Barstühle. Die roten Lampen an der Decke und die weißen Kerzen, die in Bierflaschen auf den Tischen standen, boten einen farblichen Kontrast, ebenso wie die bunten Poster an den Wänden, auf denen verschiedene Rock- und Metal-Bands abgebildet waren. Etwa ein Dutzend Gäste, größtenteils langhaarige Männer in schwarzen Klamotten, saßen verteilt an den Tischen, zwei Kerle hockten direkt an der Theke. Sie erntete spontan einige verdutzte Blicke, was sicher an ihrer für diesen Ort ungewöhnlichen Kleidung lag. Doch die Aufmerksamkeit kehrte rasch zu den Gesprächspartnern oder den Bieren zurück.
Alice suchte nach Jacky, konnte sie jedoch nicht entdecken. Hinter der Bar stand sie nicht, dort bediente ein dicker, vollbärtiger Typ in Metal-Kutte und auch zwischen den Tischen war sie nirgendwo zu sehen. Alice ging an die Theke. Vermutlich würde ihr der Barmann weiterhelfen können. Sie erklomm einen Hocker direkt vor ihm. Wieder ein erstaunter Blick, dieses Mal vom Thekennachbarn, aber das war ihr jetzt völlig schnuppe. Der Barmann wandte sich ihr zu.
»Hi. Was trinkst du?«
»Ein Bier«, sagte Alice ohne nachzudenken. Sie wartete ab, bis der Bärtige eine Flasche Helles vor ihr auf den Tresen gestellt und den Deckel geöffnet hatte.
»Danke. Sag mal, weißt du wo Jacky ist? Ich dachte, sie arbeitet heute Abend hier?«
»Bist du Alice?«, fragte er statt zu antworten.
Sie war verwirrt. »Ja, aber woher weißt du das? Hat Jacky von mir gesprochen?«
»N’bisschen, nicht viel. Nur, dass sie heute Abend nicht mit dir reden will. Keine Ahnung, um was es geht, aber sie hat wohl geahnt, dass du heute hier aufläufst und nach ihr fragst.«
»Hör mal, das ist ein Missverständnis. Wahrscheinlich glaubt sie, dass ich herkomme, um sie mit Fragen zu löchern oder so was. Das stimmt aber nicht. Es geht um was viel Wichtigeres! Ich muss ihr etwas sagen!«
Der Barmann hob seine wuchtigen Augenbrauen. »So? Was denn?«
»Das ist etwas sehr Privates.«
Nun grinste der Mann. »Was sehr Privates. Aha. Hör mal, Mädchen, ich kenne Jacky ziemlich gut und bin nicht blöd, okay? Sie war die letzten Tage so mies drauf wie schon lange nicht mehr. Total brummig und durch den Wind. Hat mich heute richtig angemotzt, völlig ohne Grund. Was hast du mit ihr angestellt?«
Sie nahm einen großen Schluck Bier. Dann räusperte sie sich und sagte: »Ich habe nichts angestellt. Nicht wirklich.«
Sein Gesicht wurde ernst. »Nicht wirklich? So, so. Wie auch immer, Jacky will dich nicht sehen. Und sie würde mir den Kopf abreißen, wenn ich es nicht schaffe, dich wieder loszuwerden.«
»Und wenn schon!«, rief Alice und kniff angriffslustig die Augen zusammen. »Ich gehe hier nicht weg! Ich will und muss jetzt mit ihr reden! Verstanden?!«
»Wow.« Er blickte verdutzt. »Du scheinst ja wirklich zu wissen, was du willst.«
Alice war nicht minder beeindruckt über ihre eigene Resolutheit. Eine Alice, die weiß, was sie will. Der Gedanke machte sie ein wenig stolz. Die Verblüffung im Gesichtsausdruck des wuchtigen Barkeepers tat ihr Übriges, um sie anzuspornen.
»Ja, das weiß ich! Und bitte hilf mir jetzt dabei, okay? Ich verspreche dir, dass ich Jacky nicht verärgern werde! Vielleicht … vielleicht macht sie das, was ich ihr sagen will, sogar glücklich!«
Er stutzte. »Sag mal … bist du etwa in Jacky verschossen?«
Alice sah ihm direkt in die Augen. »Und wenn schon. Hättest du ein Problem damit?«
Da begann er schallend zu lachen. »Hey, ich wusste gar nicht, dass du so taff bist. Nach Jackys Erzählungen hätt’ ich das so nicht erwartet.«
»Ach, papperlapapp! Ich bin so wie ich bin«, sagte sie trotzig. »Und im Moment bin ich nicht zu bremsen. Ich muss Jacky unbedingt etwas sagen. Das kann nicht warten. Und wenn es sein muss, bleibe ich bis nach Ladenschluss hier und geh dir bis dahin auf die Nerven!«
Er grinste. »Wow. Das ist mal ’ne Ansage.«
Alice ignorierte die Ironie in seiner Stimme. »Stimmt! Also, rück raus damit: Wo ist Jacky?«
»Na schön. Dann bist du aber schuld, wenn sie mir nachher den Kopf abreißt. Aber eines sag ich dir: Wenn du sie noch mehr durcheinanderbringst, dann pack ich dich am Kragen und schmeiß dich hier raus.«
»Ja, ja, schon gut. Also?«
Er seufzte und wies mit dem Daumen vage hinter die Bar. »Jacky ist im Büro. Sie kümmert sich um die Buchführung. Hatte keine Lust auf Kunden und macht lieber den PC-Nerd. Muss ja auch erledigt werden.«
»Ich dachte, sie ist hier als Bedienung angestellt?«
Da lachte der Barmann wieder, laut und bärig. »Viel weißt du ja nicht über sie! Jacky ist wesentlich mehr als nur ’ne Bedienung. Wir beide schmeißen den Laden hier gemeinsam.«
Alice blinzelte. »Ach so? Das wusste ich nicht … Und wo finde ich das Büro?«
»Den Gang da entlang, die letzte Tür neben dem Frauenpott. Gut möglich, dass sie sich eingesperrt hat. Dann klopf einfach dreimal laut, dann denkt sie, dass ich das bin.«
»Danke … wie heißt du eigentlich?«
»Digger.«
»Danke, Digger.«
Alice rutschte vom Barhocker und ging zielstrebig durch den Gang an den Toiletten vorbei bis zum hinteren Zimmer. Ohne Umschweife klopfte sie dreimal laut an das dunkle Holz. Da erklang Jackys Stimme.
»Ist offen, Digger.«
Sie öffnete die Tür. Zigarettendunst schlug ihr entgegen; sie musste ein paar Mal blinzeln, bevor sie etwas erkennen konnte. Das »Büro« war eine winzige Kammer ohne Fenster, nicht größer als drei Quadratmeter. Es war eingerichtet mit einem kleinen Schreibtisch, auf dem ein Computer, ein Aschenbecher und eine Flasche Limonade standen, sowie einem Hocker und einer Schachtel unter dem Tisch, in der ein Haufen Papiere lag. Es war so eng hier, dass die Tür zwangsläufig nach außen aufgehen musste, sonst hätte sie Jacky jetzt von ihrem Hocker gestoßen. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, fuhr Jacky sie an.
»Hat Digger dir etwa gesagt, wo ich bin? Na warte, der kann was erleben!« Sie schoss von ihrem Hocker hoch, drückte sich an Alice vorbei und lief durch den Gang.
Alice eilte ihr nach. »Jetzt warte doch mal, Jacky! Ich muss dir was sagen! Bitte, warte doch!«
Aber die war schon durch den Gang hindurch ins Lokal geflitzt. Als Alice die Tür zur Kneipe öffnete, sah sie wie Jacky vor der Theke stand und Digger anbrüllte.
»Was fällt dir ein, du verfickter Vollpfosten? Schmeiß sie hier raus, verstanden? Schmeiß sie verdammt noch mal hier raus! Ich will meine gottverdammte Ruhe, okay? Ist das so schwer zu verstehen?«
Jeder, wirklich jeder im Lokal starrte die wütende und keifende Jacky an, die mit ihrem Geschrei sogar locker die donnernde Metal-Musik übertönte.
»Hey, hey«, wehrte Digger mit erhobenen Händen und ruhiger Brummstimme ab. »Werd mal wieder cool, Mädel. Hör dir einfach an, was sie zu sagen hat, okay? Und wenn es dir nicht gefällt, dann schmeiß ich sie raus. Versprochen.«
»Von wegen!«, brüllte sie. »Ich höre mir gar nichts an! Ihr könnt mich alle mal!« Dann schoss sie durch das Lokal auf den Ausgang zu, riss die Tür auf und rannte hinaus.
Digger sah Alice an und zuckte mit den Schultern. »Tja, die Kleine spinnt manchmal.«
»Stimmt«, sagte sie, seufzte und rannte dann ebenfalls aus der Kneipe. Nach dem schummrigen Kneipenlicht wirkte die nächtliche Stadt mit ihrer Straßenbeleuchtung fast hell in ihren Augen. Sie hielt am Straßenrand kurz inne, sah nach rechts und entdeckte Jacky, die etwa fünfzig Meter vor ihr bei Rot über eine Kreuzung lief. Sofort sprintete sie ihr nach.
»Jacky, hey, Jacky, bleib doch bitte mal stehen!«
Doch Jacky lief ohne sich umzudrehen weiter den Gehweg entlang. Dabei rempelte sie andere Fußgänger an, aber das schien sie nicht einmal zu merken. Oder es war ihr egal. Als Alice an die Kreuzung kam, sprang die Ampel auf Grün um und sie konnte weiterlaufen. Jacky jedoch war flink und Alice konnte nicht aufholen, auch wenn sie sich jetzt ebenso rücksichtslos zwischen den anderen Fußgänger hindurchdrängelte.
»Entschuldigung«, rief sie einem jungen Mann nach, den sie beinahe umgerannt hätte.
Jacky bog nach rechts ab und verschwand in einer Seitenstraße. Fast im selben Augenblick hörte Alice ein Scheppern, ein Krachen und ein lautes »Fuck!«. Darauf folgte Babygeschrei. Sie rannte bis zur Ecke, hinter der Jacky abgebogen war.
Das Erste, was sie sah, war eine erschreckt dreinschauende Frau mit Kinderwagen, in dem ein plärrendes Kleinkind saß. Jacky lag einen Meter dahinter auf dem Gehweg, krümmte sich und hielt sich die Seite. Die Frau schien noch zu überlegen, ob sie sich zuerst um ihr weinendes Kind oder um die Verunglückte mit den blauen Haaren und schwarzen Klamotten kümmern sollte. Alice musste da nicht lange nachdenken. Sie schoss am Kinderwagen vorbei und ging neben Jacky in die Knie.
»Was ist passiert? Hast du dich verletzt?«
Sie sah, dass Jacky an der Stirn blutete und schmerzvoll das Gesicht verzog.
Diese brummte nur ein leises »fuck«, was natürlich nicht sehr erhellend war.
»Soll ich Ihnen einen Krankenwagen rufen?«, fragte die junge Mutter. Sie hatte das Kind auf den Arm genommen und wiegte es beruhigend hin und her.
Alice wandte sich um und nickte. »Ist wahrscheinlich besser.«
»Nein!«, keifte Jacky. »Kein Krankenwagen! Mir fehlt nichts!« Sie setzte sich auf, rutschte auf dem Hinterteil an die Hauswand und lehnte sich dagegen. »Bin nur blöd gefallen. Ist gleich wieder okay.«
Alice stand auf und sah besorgt auf ihre widerspenstige Freundin.
»Sie haben einen richtigen Salto gemacht«, sagte die Frau mit einem vorwurfsvollen Unterton. Dann, an Alice gewandt: »Sie wäre fast gegen den Kinderwagen gerannt. Hat dann aber noch abgebremst, ist gestolpert, und dann auf dem Rücken gelandet. Gut, dass ich den Wagen festgehalten habe, sonst hätte sie ihn mitsamt dem Kind womöglich umgerissen. Wenn meiner Kleinen etwas passiert wäre – kaum auszudenken! Dann hätte diese irre Punkerin aber echt Probleme bekommen!« Dann deutete sie mit dem Finger auf Jacky. »Sie bluten am Kopf …«
Alice wandte sich von der Frau ab und untersuchte den Kratzer an Jackys Stirn. Ein einzelner Bluttropfen floss vom Haaransatz in ihre rechte Augenbraue.
»Ist wirklich alles gut?«, fragte Alice. »Hast du Schmerzen? Beweg’ mal alles …«
»Nein«, brummte sie. »Es ist nichts passiert.« Dann sagte sie zu der Mutter: »Es tut mir leid, dass ich über Ihren Kinderwagen gestolpert bin. Bei mir ist alles okay, wirklich. Sie können ruhig weitergehen.« Sie atmete tief durch und rappelte sich auf. »Ach übrigens, ich bin vielleicht irre – aber ganz sicher keine Punkerin – nur um das geklärt zu haben. Und du, Alice, geh jetzt auch. Bitte.«
Die junge Frau legte ihre Tochter zurück in den Kinderwagen. »Na gut, wenn Sie meinen«, sagte sie und bedachte Jacky noch mit einem letzten, kritischen Blick, bevor sie sich samt Kind und Wagen entfernte.
Alice machte einen Schritt auf Jacky zu und berührte sie sanft an der Schulter, doch diese zuckte sofort zurück.
»Jacky, bitte – hör mir doch einen Moment zu. Ich verspreche dir, dich danach in Ruhe zu lassen, wenn du das willst.«
Jackys Augen glitten unruhig hin und her. »Unter einer Bedingung: Du fragst mich nichts!«
»Versprochen. Komm, wir setzen uns kurz an die Wand hier. Ist mit dir wirklich alles in Ordnung? Ist dir schwindlig?«
»Das sind schon zwei Fragen.« Jacky ließ sich wieder an der Mauer herabrutschen. »Nein, alles okay«, fügte sie versöhnlicher hinzu.
Alice hockte sich im Schneidersitz neben sie. Sie holte eine Packung Tempos aus ihrer Handtasche und reichte eines davon Jacky. »Hier. Du blutest. Auf deiner Stirn.«
Jacky blickte auf das Taschentuch, zögerte einen Moment, nahm es dann und wischte damit einmal kurz über die blutige Stelle. »Also, was willst du mir sagen? Komm bitte gleich auf den Punkt.«
Alice sah in Jackys blasses Gesicht. Ihre grünen Augen wirkten jetzt herausfordernd, ja, fast ein bisschen trotzig. Doch davon würde sie sich nicht irritieren lassen. Sie atmete tief durch. Jacky wollte, dass sie gleich auf den Punkt kam? Na gut.
»Jacky … ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.«
»Was?«
»Ich habe mich in dich verliebt.«
Jacky sah Alice an, als wäre sie eine überirdische Erscheinung.
»Hä? Was? Also das kapier ich jetzt nicht …«
»Ist aber so.«
»Und was ist auf einmal mit Joanna?«
»Ist Geschichte. Joanna ist ein verlogenes Miststück, eine total kranke Person. Sie hat mich von vorne bis hinten angelogen, damals, jetzt wieder. Aber ich habe sie endlich durchschaut.«
»Aha, Joanna ist ein Miststück? Und jetzt, wo du das weißt, fällt dir plötzlich auf, dass du dich in mich verliebt hast?«
»Nein, so ist das nicht! Ich hab das schon vorher gespürt, wollte es nur irgendwie nicht wahrhaben …«
»Oh Mann. Alice tut mir leid, das glaub ich dir nicht! Nicht, nachdem du monatelang nur Joanna im Kopf hattest. Tag und Nacht. Du hast gesagt, du liebst sie noch immer. Und zu mir, dass du froh bist, wie herrlich unkompliziert ich bin. Ich bin der unkomplizierte Kumpel – und Joanna deine große Liebe. Und das ist jetzt plötzlich anders? Seit du entdeckt hast, dass Joanna dich belogen hat?«
»Nein …« Alice war schon kurz davor, sich weiter zu rechtfertigen, doch dann hielt sie inne. »Warum machst du jetzt so ein Theater? Warum bist du so misstrauisch? Warum kannst du es nicht einfach akzeptieren, dass ich dir meine Gefühle gestehe? Du könntest dich doch einfach nur geschmeichelt fühlen und meine Worte so stehen lassen, außer …«
»Außer was?«, zischte sie, doch ihr Blick wirkte deutlich weniger wütend als ihre Stimme. Dann sah sie zur Seite weg und murmelte leise: »Fuck.«
»Was heißt das?«, fragte Alice sanft. Sie blickte auf Jackys blaue Mähne, die im Licht der Straßenlaterne leuchtete.
»Das heißt, dass ich nicht verarscht werden möchte.«
Alice legte vorsichtig ihre Hand auf Jackys Knie. »Ich verarsche dich nicht. Ganz bestimmt nicht.«
Jacky sah sie weiterhin nicht an, sondern studierte den Bodenbelag auf ihrer linken Seite.
»Absichtlich wohl nicht. Aber ich denke, du bist einfach total durch den Wind nach der Sache mit Joanna. Und brauchst einen Kumpel, mit dem du reden kannst.«
»Jacky – nein. Selten war ich so klar im Kopf wie jetzt – in diesem Moment. Ich empfinde wirklich sehr viel für dich. Wie gerne würde ich dich jetzt einfach in den Arm nehmen, um es dir zu zeigen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht.«
»Warum nicht? Sei ehrlich: Was ist mit dir? Was empfindest du für mich?«
Jacky stand ruckartig auf und rief: »Was glaubst du denn, verdammt noch mal? Ist das nicht offensichtlich? Aber ich will nicht deine Nummer Zwei sein, diejenige, die dich auffängt nach einer großen Enttäuschung. Der Kumpel, der Lückenfüller, den man hervorholt, wenn es gerade passt. Ich kann nicht schon wieder derart auf die Schnauze fallen! Das halte ich nicht aus!«
»Bitte setz dich wieder«, sagte Alice ruhig. »Was meinst du mit ›nicht schon wieder auf die Schnauze fallen‹?«
»Ich beantworte keine Fragen! Du wolltest mir etwas sagen und das hast du getan. Ich … ich …«
Ein älteres Paar machte einen Bogen um sie herum und schenkte der aufgebrachten jungen Frau mit den wilden blauen Haaren einen missbilligenden Blick. Alice schaute trotzig zurück und wandte sich dann wieder an Jacky.
»Bitte glaub mir. Ich mache dir nichts vor. Alles, was ich sage, meine ich genau so. Ich war eine Zeit lang völlig verblendet, bin einer wirren Joanna-Fantasie nachgelaufen, die nichts mit dem echten Leben zu tun hatte. Aber du – du bist real. Du bist wunderbar. Ein wenig verrückt manchmal und rätselhaft – ja, das auch – aber auch total liebenswert und besonders. Ich würde dich so gerne noch besser kennenlernen, würde gern mehr Zeit mit dir verbringen … und sehen, was draus wird. Aus uns.«
»Und selbst, wenn du die Wahrheit sagst. Ich kann das nicht! Versteh doch!«
»Nein, ich verstehe es nicht. Das musst du mir schon erklären. Hat es mit deiner früheren Freundin zu tun? Mit Sue?«
»Sprich nicht von Sue!«
Alice stand auf, um mit Jacky auf Augenhöhe zu sein. Doch die drehte ihren Kopf zur Seite.
»Sag mir bitte endlich, was los ist. Ich kann dich sonst nicht verstehen.«
Jacky schwieg einen Moment. Sie schien mit sich zu kämpfen. Dann sagte mit leiser Stimme, den Blick noch immer von Alice abgewandt: »Sue liegt im Koma. Seit mehr als sieben Jahren.«
»Ach du Sch…«, entkam es Alice. »Das tut mir sehr leid. Wie ist das passiert?«
»Ein Motorradunfall.«
»Oh je … das ist echt tragisch.«
»Und ich bin schuld dran.«
»Wie? Ja, aber warum denn?«
»Ach Alice …«
»Bitte! Erzähl es mir!«
Jacky atmete tief durch. »Okay«, sagte sie kaum hörbar und sprach fast ebenso leise weiter: »Aber nur, damit du verstehen kannst, warum aus uns nichts werden kann. Damit du mich gehen lässt.«
Ihr Blick streifte Alice kurz, dann sah sie wieder zur Seite. »Sue und ich, wir waren drei Jahre ein Paar, ein echt glückliches Paar. Sie war so wundervoll, Alice. Sie konnte wild und sanft sein, so lustig und ernst, sie war einfach Feuer und Wasser zugleich. Ich habe sie so sehr geliebt, liebe sie heute noch.« Sie machte eine kleine Pause, hing offenbar ihren schmerzhaften Erinnerungen nach. »Doch dann hat sie sich in eine Arbeitskollegin verguckt. Sie war mir zwar treu und alles, aber ich hab gemerkt, dass sie mit den Gedanken oft bei dieser Monika war, so hieß die Kollegin … Das ging einige Wochen so. Sie hat still vor sich hin geschwärmt, ich still vor mich hin gelitten. An einem Abend hörte ich sie mit Monika telefonieren. Es ging um die Geburtstagsparty vom Chef, nichts Schlimmes, keine romantischen Heimlichkeiten. Aber allein die Art, wie sie mit Monika sprach, wie sie mit ihr lachte, wie sanft ihre Stimme klang … das hat mich zur Weißglut getrieben. Ich habe Sue nach dem Telefonat angemotzt, war extrem fies und unfair. Wir haben uns derb gezofft. Sie ist dann mit dem Motorrad weggefahren, also, mehr geflohen, weil sie von mir und meinem Gezeter weg wollte. Es war nachts und hat in Strömen geregnet. Sie ist an einer Kreuzung mit ’nem LKW zusammengekracht.«
»Ach du meine Güte, was für eine schreckliche Geschichte …«
»Und hätte ich mich damals nicht so blöd aufgeführt, wär das nie passiert …«
»Aber das konntest du doch niemals vorhersehen!«
»Klar ist, hätte ich nicht so rumgetobt, wäre sie nicht mitten in der Nacht bei Unwetter mit dem Motorrad losgebraust. Dann würde sie jetzt strahlend und voller Energie durchs Leben springen, den Kopf fröhlich zu Metal schwingen – und nicht in der Klinik vor sich hin vegetieren …«
Alice’ Herz war während Jackys Erzählung schwer geworden. Die Nacht schien eine Spur dunkler geworden zu sein, die Geräuschkulisse um sie herum dumpfer.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut. Für dich und Sue … Besuchst du sie denn manchmal?«
Sie nickte. »Jede Woche. Ich lese ihr was vor oder erzähle ihr, was ich so mache, oft setzte ich ihr auch Kopfhörer auf und lass ihre Lieblingsmusik laufen. Damit sie vielleicht Lust bekommt, wieder aufzuwachen. Weißt du, Sue liebt Total Destruction und andere Bands, auf die ich auch stehe. Ach, wir waren uns in vielem so einig und ähnlich und hatten so viel Spaß …« Jackys Stimme wurde brüchig. Sie wischte sich mit einer schnellen Handbewegung über die Augen. »Alles im Arsch«, murmelte sie dann. »Nun ist alles im Arsch.«
Wie gerne hätte Alice sie jetzt in die Arme genommen. Doch sie spürte, dass Jacky das nicht zulassen würde, nicht zulassen konnte, und dass sie damit alles nur noch schlimmer machen würde. Es zerriss Alice förmlich, ihre Trauer mitanzusehen und nichts für sie tun zu können. Sie schluckte und suchte nach passenden, tröstlichen Worten, obwohl ihr nun selbst zum Heulen zumute war.
»Aber … vielleicht wacht Sue wieder aus dem Koma auf?«
Jacky zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Ich werde jedenfalls auf sie warten.«
»Und deshalb kannst du nicht mit mir zusammen sein? Weil du Sue treu bleiben möchtest?«
»Auch. Aber nicht nur. Ich hab grundsätzlich die Schnauze voll. Versteh doch. Deine Schwärmerei für Joanna hat etwas in mir ausgelöst. Ich bin richtig sauer auf dich geworden und auf Joanna sowieso. Und dabei ist mir klargeworden, dass ich lieber die Finger von alledem lassen sollte. Sonst drehe ich womöglich durch und es passiert wieder was … ach, fuck. Ich will das doch alles gar nicht. Ich hatte auch gar nicht damit gerechnet, dass ich überhaupt wieder solche Gefühle für jemanden entwickeln kann. Aber ich liebe Sue noch immer. Und ich komme mit diesem Joanna-Kram nicht klar. Und dass du auf einmal doch nichts von ihr willst, das kommt mir viel zu schnell und plötzlich. Ich check das nicht. Und ich kann das nicht. Es ist einfach so.«
»Aber Jacky … wir haben doch Zeit, uns kennenzulernen. Wir können es ganz langsam angehen lassen …«
»Nein! Es tut einfach zu sehr weh, okay? Wenn so was wieder passiert, geh ich echt komplett kaputt!«
»Aber warum sollte wieder etwas derart Schreckliches passieren? Das glaube ich nicht! Willst du dich denn dein Leben lang bestrafen – für eine Tragödie, an der du überhaupt keine Schuld trägst?«
»Von wegen! Ich bin schuld daran, dass Sue jetzt das Leben einer Gurke führt. Das lässt sich nicht schönreden! Außerdem bestrafe ich mich nicht – ich schütze mich! Okay?«
»Jedes Paar streitet mal. Das ist doch normal. Und Unfälle passieren. Ich bin mir sicher, dass Sue nicht möchte, dass du jahrelang nur auf sie wartest und dabei dich oder sie schützt, ohne selbst glücklich zu sein. Wenn sie dich liebt, will sie, dass du dein Leben genießt und dass es dir gut geht!«
»Und was ist, wenn Sue aufwacht und wir beide dann zusammen sind? Irgendeine ist dann immer verletzt, irgendeine muss gehen. Und ich muss mich dann entscheiden, mit wem ich Schluss mache. Und werde mich dabei zwangsläufig wie ein Arschloch fühlen.«
»Nein«, sagte Alice bestimmt. »Wenn Sue aufwacht und – mal angenommen, wir beide sind dann ein Paar – du feststellst, dass du lieber mit ihr zusammen sein willst, nehme ich dir die Entscheidung ab. Dann gebe ich dich frei. Und du wirst mit Sicherheit kein Arschloch sein.«
»Du tust so, als wär das alles so einfach. Ist es aber nicht! Denk doch mal genauer darüber nach!«
»Aber wir können es trotzdem versuchen. Es wird für alles eine Lösung geben, wenn die Zeit gekommen ist.«
»Alice, verdammt noch mal! Das Leben hält sich aber nicht an weise Sprüche aus irgendwelchen abgefuckten Poesiekalendern!« Mit diesen Worten wandte sich Jacky ab.
»Ich weiß, dass es nicht einfach ist! Aber ich meine es wirklich ernst! Ich hab mich in dich verliebt! Und ich will mit dir zusammen sein! Dafür will ich kämpfen! Das ist die Wahrheit!«
Jacky schien einen kurzen Moment lang zu zögern, ging dann aber zügig davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
Alice saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, während über Kopfhörer melancholische Streichertöne in ihre Ohren drangen. Vor einer halben Stunde war sie noch unendlich traurig und enttäuscht gewesen und auch ein wenig sauer auf Jacky, die sich ihr eigenes Leben so unnötig schwermachte. Doch dann war ihr klar geworden, dass sie unmöglich nachempfinden konnte, was sie durchgemacht hatte und dass es egoistisch war, wütend zu sein. Jacky fühlte sich schuldig an Sues Zustand. Sie liebte ihre Partnerin und wollte ihr weiterhin treu sein. So war das eben. Aber Jacky hatte auch Gefühle für sie – Alice – und fühlte sich nun hin-und hergerissen. Jacky hatte ja recht. Was, wenn Sue tatsächlich eines Tages erwachte? So einfach wäre das tatsächlich nicht. Aber, nein, trotzdem – Jacky durfte ihr Leben nicht aufsparen für ein sehr fragliches Vielleicht und Irgendwann, sie konnte doch nicht auf ein Wunder warten, das nur sehr unwahrscheinlich eintreten würde, und sich ein anderes Glück einfach verwehren. Denn es wäre ja tatsächlich möglich, dass sie und Jacky miteinander glücklich würden. Natürlich war diese Hoffnung egoistisch von ihr, aber war das in der Liebe – wenn zwei Menschen zueinander fanden – nicht immer der Fall?
Alice spürte in sich hinein und dabei wurde ihr eine Sache immer klarer: So schnell würde sie nicht aufgeben! Nicht, nachdem sie nun mit Sicherheit wusste, dass Jacky ihre Gefühle erwiderte. Nicht, nachdem es auf der Hand lag, dass hauptsächlich Angst und Schuldgefühle Jacky bremsten. Sie würde um sie kämpfen, es zumindest noch ein Mal bei ihr versuchen – egal, wie sehr sie blockierte. Blöd nur, dass sie nicht einmal ihre Mobilnummer hatte, aber da konnte ihr sicher Franzi weiterhelfen. Sie hatten in der Zeit, als es um den Bezug des WG- Zimmers ging, schließlich mehrere Male miteinander telefoniert. Wie spät war es? Kurz nach elf. Wenn sie Glück hatte, war Franzi noch wach.
Sie ging zu Franzis Tür und klopfte.
»Alice? Komm rein!«
Alice öffnete. Franzi stand im Muscle-Shirt und Jogginghose neben dem Bett, in jeder Hand eine schwere Hantel. Ihre Muskeln wölbten sich eindrucksvoll an den angewinkelten Armen. Sie legte die Gewichte auf den Boden und lächelte erfreut.
»Schön, dich zu sehen. Hab gerade ein wenig trainiert. Aber ich brauch eh’ eine Pause. Setz dich doch!«
Sie zeigte auf den Stuhl, der neben ihrem Schreibtisch stand.
»Ich wollte dich nur kurz um etwas bitten«, erwiderte sie gleich. »Du hast doch Jackys Handynummer, oder nicht?«
»Na klar. Kann ich dir gern geben. Was hast du vor? Willst du sie überzeugen, zu uns zurückzukommen?«
»Nicht direkt. Aber vielleicht – wenn alles gut läuft, passiert auch das.«
Franzi runzelte die Stirn. »Wenn was gut läuft?«
»Gib mir doch bitte einfach die Nummer, okay?«
»Ja, klar doch.« Franzi sah sich suchend um, dann entdeckte sie ihr Handy auf dem Bett. Sie entsperrte es mit einer schnellen Wischbewegung, tippte und scrollte über den Bildschirm. »Ha, da ist sie ja!«, sagte sie, griff nach dem Notizblock und einem Kugelschreiber und schrieb die Nummer auf. Sie riss das Blatt heraus und reichte es Alice. »Kann ich sonst was für dich tun?«, fragte sie. Sie blickte wie ein großer, freundlicher, sanfter Hund.
Alice nahm das Blatt entgegen. Franzi war ungewohnt blass und die dunklen Schatten unter den Augen zeugten von Schlaflosigkeit und Traurigkeit. Trotz ihrer Größe und ihrer Muskeln wirkte sie zerbrechlich und verletzlich, doch sie jammerte nie, biss sich durch, machte irgendwie weiter. Ja, sie war chaotisch, unreif und egoistisch, machte Dummheiten. In Bezug auf Alice waren die Dummheiten verletzend gewesen und nicht mehr rückgängig zu machen. Aber Alice spürte, dass Franzi voller Reue war und sich eine Versöhnung mit ihr wirklich sehr zu wünschen schien. Wo sie doch schon Olga, ihre große Liebe, verloren hatte …
Ein warmes, freundschaftliches Gefühl schlich sich in ihre Brust. Ach, wer ist schon perfekt?, dachte sie und lächelte.
»Eine Sache könntest du tatsächlich noch für mich tun, Franzi. Kannst du mich bitte mal kurz umarmen und mir Glück wünschen?«
»Was? Echt? Na klar! Sehr gerne!«
Sie ging einen Schritt auf Alice zu und drückte sie sanft und zugleich sehr beherzt an sich. Alice schlang ihre Arme um Franzis Brustkorb und legte ihr Gesicht an ihre muskulöse Schulter.
»Ich mag dich wirklich gern«, sagte Franzi und strich über Alice’ Rücken. »Ich hoffe, das weißt du. Und Glück wünsch ich dir freilich auch. Selbst wenn ich nicht genau weiß, wofür du es brauchst.«
»Ich mag dich ja auch. Und das Glückwünschen wirkt sicher auch so.«
Dann lösten sich die beiden voneinander. Franzis Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen.
Auch Alice fühlte sich besser, richtig gestärkt und auch etwas erleichtert.
»Das hat gutgetan«, stellte sie fest.
»Mir auch. Sehr sogar. Gibst du mir noch einen kleinen Hinweis, wofür du das Glück brauchst? Hat es mit Jacky zu tun?«
»Ja. Und das Glück brauch ich vor allem am Samstagabend. Mehr sag ich aber nicht.«
»Geht klar. Ich drücke beide Daumen, bis sie taub werden.«
Zur Bestätigung hob sie beide Fäuste und stecke die Daumen hinein.
»Danke.«
Alice hatte schon die Hand auf der Türklinke, da hörte sie hinter sich eine vorsichtige Stimme von hinten: »Alice? Es tut mir leid, aber ich muss es einfach wissen, sonst platze ich: Bist du etwa in Jacky …«
»Ja«, unterbrach Alice die Frage und seufzte. Sie hatte tatsächlich gehofft, das Thema komplett umgehen zu können. Aber da hatte sie Franzi überschätzt. Sie war zwar bemüht, doch auch kein Übermensch. Alice drehte sich zu ihrer wissbegierigen Freundin um. »Das ist alles sehr kompliziert. Und vielleicht ist der Zug auch schon abgefahren. Ich erklär es dir später. In Ordnung?«
Franzis Miene und ihre angespannte Körperhaltung sprachen Bände zum Thema »später«. Aber sie riss sich zusammen und schluckte weitere Fragen und Kommentare hinunter.
»Alles klar. Wie du möchtest.«
»Bis dann, Franzi.«
Zurück in ihrem Zimmer setzte sich Alice aufs Bett und gab Jackys Nummer auf ihrem Handy ein. Sie überlegte kurz und tippte dann eine Nachricht.
Liebe Jacky,
ich bin’s, Alice. Franzi hat mir deine Nummer gegeben. Ich möchte dir nur mitteilen, dass ich am Samstag um viertel vor acht vor der Oper auf dich warte. Und ich hoffe wirklich sehr, dich dort zu treffen. Ich empfinde so viel für dich. Bitte gib uns beiden eine Chance. Zumindest die Chance, uns noch ein wenig besser kennenzulernen. Es könnte doch tatsächlich auch gutgehen, nicht?
Liebe Grüße
Alice
P.S.: Wir müssen auch nicht in die Oper hineingehen, wenn du nicht in der Stimmung dafür bist. Ich will dich einfach nur sehen. ;-)
Sie überflog die Zeilen noch zweimal und schickte sie dann weg. In der nächsten Stunde sah sie immer mal wieder nach, ob Jacky die Nachricht schon angesehen hatte. Bis kurz nach Mitternacht, dem Moment als Alice sich schlafen legte, war das nicht der Fall. Am nächsten Morgen entdeckte sie, dass die Mitteilung immerhin gelesen worden war, aber Jacky hatte nicht geantwortet. Auch die nächsten beiden Tage reagierte sie nicht.
Als sie am Samstagabend edel herausgeputzt im cremefarbenen Hosenanzug, mit dem Gürtel von Jacky um die Taille (der mal wieder herausragend zum Outfit passte) und zwei Opernkarten in ihrer feinen hellbraunen Handtasche aufbrach, hatte sie wenig Hoffnung, dass sie Jacky heute sehen würde. Doch es hätten sie trotzdem keine hundert Pferde davon abhalten können, überpünktlich und mit besonderer Sorgfalt aufgehübscht vor der Bayerischen Staatsoper zu stehen.
Um zwanzig nach sieben und somit vierzig Minuten vor Beginn der Aufführung, bezog Alice vor dem prachtvollen Eingang der Oper ihren Warteposten. Sie hatte einen Platz mittig oben neben einer der großen Säulen gewählt. Hier hatte sie einen guten Überblick, hier würde sie Jacky bald entdecken, wenn … falls …
Es war ein warmer Sommerabend, die Sonne schien noch kräftig vom fast wolkenlosen Himmel. Ein perfekter Abend für einen Biergartenbesuch oder ein Grill-Event an der Isar. Oder einfach nur fürs Herumliegen im Park oder am See … gemeinsam mit Jacky?
Wenn sie recht überlegte, hatte sie überhaupt keine Lust auf das Musikschauspiel. Auf einmal schreckte der Gedanke an die engen Sitzplätze und die vielen aufgetakelten Menschen sie ab. Sie wollte einfach nur mit Jacky zusammen sein! Alice wollte sie in die Arme nehmen und fest an sich drücken. Ihr sagen, dass alles gut werden konnte, dass sie alle Zeit der Welt hatten, dass sie keine Angst mehr haben musste. Wenn Jacky doch kam, könnten sie vielleicht in den Englischen Garten gehen, sich Getränke vom Kiosk holen und sich ins Gras legen und reden … ach, das wäre zu schön!
Sie hing weiter dieser wunderbaren Vorstellung nach, mit Jacky im Grünen zu liegen, Seite an Seite, ihre Nähe zu spüren, in ihre strahlenden grünen Augen zu schauen und sie lächeln zu sehen. Ihr verschmitztes, kleines Jacky-Lächeln zu beobachten, wie es ab und zu über ihr hübsches, blasses Gesicht glitt. Währenddessen schlug Alice’ Herz immer kräftiger und sehnsüchtiger und ihr Blick glitt immer unruhiger über die Stufen und den Platz. Doch sie war nirgendwo zu sehen.
Die Minuten vergingen, es wurde viertel vor acht, zehn vor acht – keine Jacky. Alice spürte, wie ihr Kopf von der Sonne leicht zu schmerzen begann. Sie hätte gerne etwas getrunken, aber sie würde sich hier nicht wegbewegen. Sie wollte Jacky auf keinen Fall verpassen, wenn sie vielleicht noch auf den letzten Drücker oder sogar mit etwas Verspätung kam.
Der Platz vor dem Eingang war mittlerweile immer leerer geworden; die Opernbesucher waren fast alle im Gebäude verschwunden. Nur einzelne, fein gekleidete Leute huschten noch zum Eingang, Zigaretten wurden noch schnell ausgedrückt und im Aschenbecher entsorgt. Opernvorstellungen begannen immer pünktlich – keine Werbung wie im Kino oder Verspätungen, wie sie bei Konzerten üblich waren. Ob Jacky das wusste? Na klar, wusste sie das. Sie kam ja nicht vom Mond, auch wenn sie sicher noch nie eine derartige Aufführung besucht hatte.
Ach, verdammt, wahrscheinlich würde sie gar nicht kommen. Das war es. Das war die Wahrheit, auf die sie sich nun einzustellen hatte. Alice atmete tief aus und spürte wie ihr Herz sich verkrampfte und schwerer schlug. Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Handy und blickte aufs Display. Keine Nachricht von Jacky, nichts. Natürlich nicht. Sie wollte ihre Ruhe, sie wollte sich verschanzen und schützen. Wollte nichts riskieren. Hatte Angst davor zu verletzen und verletzt zu werden … ach, verdammt noch mal, Jacky!
Alice steckte ihr Handy zurück in die Tasche. Ihre Augen begannen zu brennen. Sie ließ ihren Blick erneut über den Platz und die Stufen schweifen. Nichts.
Doch Moment … wer war denn das? Eine schwarz gekleidete Frau mit blauen Haaren? Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Jacky? War sie das tatsächlich, die da im schwarzen Blazer, mit schwarzer Bluse und schwarzer Stoffhose und glänzenden schwarzen Stiefeletten auf sie zukam? Was war mit ihren Haaren los? Ah, sie hatte sie zur Seite gekämmt! Auf der linken Seite sah sie nun fast brav und gediegen aus, während auf der rechten, rasierten Seite ihr Drachentattoo voll zur Geltung kam.
Jacky war jetzt nur noch wenige Meter von ihr entfernt, kam flott die steinerne Treppe hoch, direkt auf Alice zu. Sie wäre ihr gern entgegengelaufen, doch ihre Knie waren plötzlich ganz weich und zittrig. Sie setzte sich auf die oberste Stufe und atmete tief ein und aus, während sie Jacky mit ihren Blicken nicht mehr losließ.
Dann stand sie direkt vor ihr. Mit funkelnden Augen, die sie lebhaft und zugleich etwas besorgt ansahen. Wie hübsch sie war! So fein gekleidet und so passend geschminkt, dunkel, aber nicht zu wild … auf eine düster-verwegene Art richtig klassisch und edel.
»Jacky«, murmelte Alice nur.
Jacky setzte sich nach einem kurzen Zögern neben sie.
»Alles okay?«, fragte sie. »Du bist so blass.«
»Oh ja.« Sie spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen und ließ es einfach zu. »Ich bin so unendlich froh, dich zu sehen. Richtig überwältigt. Und wie toll du heute aussiehst, Jacky. Ich …«
Jackys Blick ruhte auf ihr. »Ja?«
»Bitte, darf ich dich umarmen?«
Jacky hielt kurz inne, nickte und legte dann vorsichtig ihre Arme um sie. Alice schmiegte sich eng an ihre Freundin, hielt sie sanft und doch ganz fest, wollte sie am liebsten nie wieder loslassen. Ihr Herz raste und sie glaubte zu spüren, dass auch Jackys Herz aufgeregt trommelte. Wie gut sich Jacky anfühlte, wie gut sie roch … wie unbeschreiblich wundervoll, belebend und zugleich tröstend ihre Nähe war!
Eine Weile, die sich wie ein süßes Stück Zeitlosigkeit anfühlte, hielten sie sich einfach nur schweigend aneinander fest. Irgendwann löste sich Jacky von ihr. Sie blickte Alice in die Augen, dann schlich sich ein verschmitztes Grinsen in ihr Gesicht.
»Wollen wir tatsächlich da reingehen?«
Sie deutete mit ihrem Kopf in Richtung Operneingang.
Alice schüttelte den Kopf. »Nein. Bitte nicht.«
»Was dann?«
»Englischer Garten und ein kühles Bier vom Kiosk?«
»Gute Idee. Das passende Outfit fürs Rumliegen im Gras haben wir ja schon an.«
»Stimmt. Passt perfekt.« Alice warf einen Blick auf ihren feinen, hellen Hosenanzug und lächelte.
Sekunden später wurde Jackys Gesicht wieder ernst. Sie sah Alice tiefgründig und forschend an.
»Was ich noch wissen muss: Ist das mit Joanna wirklich vorbei?«
Sie nickte feierlich. »Und zwar für immer und ewig. Versprochen.«
Jacky schien noch mit sich zu hadern. »Du wirst Geduld mit mir haben müssen. Du weißt ja, ich spinne ein bisschen. Und … Angst hab ich auch.«
Sie blickte auf ihre typische Weise auf die Seite.
Alice hob ihre Hand und strich vorsichtig über Jackys Wange. Sie war froh, dass sie es zuließ und nicht zurückzuckte.
»Sieh mich bitte an«, sagte sie. »Ich werde Geduld haben. Wir beide brauchen Geduld. Du genauso mit mir. Ich wurde schon so oft verletzt, mein Liebesleben war bisher ein einziges Chaos. Ich habe viele Fehler gemacht, war zu oft verblendet und naiv. Und ich kann nur hoffen, das ist jetzt vorbei. Hoffentlich bin ich endlich schlauer geworden.«
Jacky blickte sie nur still und nachdenklich an.
Alice lächelte. »Ach, ich freu mich so, dass du hier bist. Ich hatte nicht gedacht, dass du heute kommst. Nach unserer letzten Begegnung und nachdem du auf meine Nachricht nicht reagiert hast …«
»Na ja. Ich wusste bis vor einer Stunde nicht, ob ich’s tun soll. Hab noch auf dem Weg hierher überlegt, ob ich wieder umkehren soll. Womöglich hätte ich mehr Zeit gebraucht, oder es auch gar nicht gewagt, mich mit dir zu treffen, wenn mir Digger nicht so in den Ohren gelegen hätte.«
»Digger?«
»Ja. Der hält große Stücke auf dich. Hat richtig geschwärmt. Du seist so taff, wüsstest genau, was du willst, wärst ’ne echte Kämpferin. Und als ich mir das angehört habe, war ich doch beeindruckt. Du musst in der Rockbar einen starken Auftritt hingelegt haben. Das hat mir gezeigt, dass du es wohl sehr ernst meinst.«
Alice nickte.
Ein Schmunzeln schlich über Jackys Gesicht.
»Auf jeden Fall hat Digger dann keine Ruhe mehr gegeben. Weißt du, was er gesagt hat?« Sie ahmte seine bärige Brummstimme nach: »Ich will dich verdammt noch mal glücklich sehen, Jacky. Also kneif gefälligst deinen kleinen Arsch zusammen und triff dich mit diesem Mädchen!«
Alice lachte. »Digger scheint ein toller Kumpel zu sein.«
»Ist er. Der Beste.« Jacky schwieg einen Moment und blickte in den blauen Sommerhimmel. »Trotzdem«, sagte sie dann. »Es ist nicht einfach. Ich liebe Sue und ich möchte weiterhin für sie da sein. Das weißt du.«
»Ja – und das sollst du auch. Und wenn du willst … dann komme ich mal mit, wenn du sie besuchst. Wie wäre das?«
»Wäre das nicht sehr schwierig für dich?«
»Natürlich ist es das. Aber hey, wir beide – wir kriegen das schon hin, in Ordnung?«
Alice strich erneut sanft über Jackys Wange und versank in deren warmen, wachen grünen Augen. Sie konnte ihren Blick nicht mehr abwenden, konnte neben der Angst auch Sehnsucht, Vertrauen und Liebe darin funkeln sehen und fühlte sich auf einmal unbeschreiblich glücklich. Die Luft zwischen ihnen beiden war mit einem Mal von einem Knistern gefüllt, als stünde sie unter Hochspannung. Da beugte sich Jacky leicht nach vorne und hauchte ihr einen kleinen Kuss auf die Lippen. Es war eine zarte, fast scheue Berührung und doch ungemein süß und zärtlich. Sofort schossen unzählige kleine Funken durch Alice’ Körper hindurch, während es in ihrer gesamten Brust zu kribbeln begann. Ihr war erneut etwas schwindlig, aber nun auf eine ganz wunderbare, leichte und schwebende Art und Weise.
»Wow«, flüsterte sie. »War das … schön.«
Jacky lächelte. »Was hast du gesagt? Es könnte auch gutgehen mit uns beiden?«
»Ja. Kann es. Lass es uns versuchen.«
Jacky stand auf und reichte Alice die Hand. »Okay.«