10   Die magische Zeit

Papa sagt, ich darf nach dem Essen noch ein bisschen Rad fahren. Ich glaube, er fühlt sich schlecht, weil er mich angeschrien hat und weil er gesagt hat, dass er nicht mehr kann. Ich nutze sein schlechtes Gewissen aus und erschleiche mir seine Erlaubnis, am Wochenende bei Gary zu übernachten.

Erschleichen ist, wenn du es hinkriegst, dass einer was für dich tut, ohne dass er es richtig merkt oder obwohl er es gar nicht wirklich will.

Wie in Gary würde sich ja gern ein Date mit Rebecca Johnson erschleichen, am besten für den Schulball, aber das wird nicht klappen. Rebecca Johnson weiß ja nicht mal, dass Gary überhaupt existiert.

Ich stehe mit meinem Fahrrad hinterm Haus und schaue am Maisfeld vorbei zum Waldrand. Tucker hat sich neben mich gesetzt, die Ohren hoch aufgerichtet und die Augen hellwach. Anscheinend lauscht er mit mir. Wir warten beide geduldig, während der Wind nach und nach stärker wird und die rotgoldene Sonnenscheibe langsam zum Horizont sinkt. Das Abendkonzert hat schon begonnen. Sinfonie der Natur, so nennt Mama den Gesang von Grillen, Fröschen, Zikaden und Vögeln, der um die Zeit immer lauter wird. Ich höre genau hin und wünsche mir von ganzem Herzen, dass die Flüsterer endlich mit mir sprechen. Die Zeit wird knapp, das weiß ich. Die Zeit für Mama. Und eine Welt ohne Mama kann ich mir nicht vorstellen.

»Bitte.« Jetzt flüstere ich selbst. »Bitte helft mir, meine Mama zu finden.«

Tucker legt seinen riesigen Rottweiler-Schädel schief und guckt mich an, als wollte er sagen: Redest du wieder mal mit dir selbst, Kumpel?

Da fällt mir etwas aus der Geschichte ein, und ich drehe mein Gesicht in den Wind.

»Ich habe Geschenke für euch«, sage ich in der Hoffnung, dass der Wind meine Nachricht zu den Flüsterern trägt. »Opfergaben«, stelle ich klar, denn das ist das richtige Wort, das Wort aus der Geschichte. »Richtig gute Opfergaben.«

Ich lausche. Tucker lauscht auch. Ich warte. Er wartet auch. Doch in meinen Ohren ist nichts als die Sinfonie der Natur und der Wind, der wie Meeresrauschen klingt. Nach ein paar ereignislosen Minuten seufze ich und sehe Tucker an.

»Was meinst du, Tuck? Findest du mich verrückt?«

Aus seiner Kehle kommt ein sanftes Winseln. Das bedeutet: Tut mir leid, Kumpel, aber ja, irgendwie schon. Da bin ich ganz sicher.

Ich schaue wieder zum Waldrand. »Ich glaube nicht, dass ich verrückt bin. Euch gibt es wirklich. Und ich brauche euch, um sie zu finden.«

Nichts. Ich starre noch einen Augenblick länger in den dämmrigen Wald und beobachte, wie der Wind in den Baumwipfeln eine große Welle entstehen lässt, so ähnlich wie die La-Ola-Wellen, die Menschen manchmal in Fußballstadien machen. Ich schließe die Augen. Während ein Stück weiter weg ein Windspiel klingt, streicht mir warme Luft ums Gesicht, deren Richtung dauernd wechselt. Und die ganze Zeit über kitzelt mich der beruhigende Geruch von Geißblatt in der Nase.

Ich versuche mir vorzustellen, wie sich ihre Stimmen wohl anhören würden, wenn sie meinen Namen riefen. Würden sie überhaupt wie richtige Stimmen klingen? So wie die von Menschen? Oder wären sie eher so ähnlich wie Tierstimmen? Ich will mich unbedingt dazu bringen, sie zu hören, aber da ist immer noch nichts. Enttäuscht seufze ich auf, dann öffne ich die Augen, greife nach dem Lenker von meinem Rad und drehe ihn um.

»Komm, Tucker.«

Als ich mich in Bewegung setze, surrt etwas an meinem rechten Ohr – deutlich größer als eine Fliege. Eine Wespe? Oder eine Bremse? Ich ducke mich weg und schlage danach. Ein blassblaues Licht leuchtet vor meinem Gesicht auf und verschwindet gleich wieder – genau wie gestern Abend an meinem Fenster. Ich schnappe nach Luft, und genau in dem Moment höre ich ihn. Ich schwöre bei Jesus und allen Aposteln, Judas mit eingeschlossen, dass ich ihn höre. Meinen Namen – eingehüllt in das sanfte Wehen von Geißblattduft.

Riley.

Ich erstarre. Jeder Muskel in meinem Körper verkrampft sich. Ich weiß, was ich gehört habe. Mein Herz klopft derart laut in meiner Brust, dass ich Angst habe, die Wesen damit zu vertreiben. Tucker erhebt sich vom Boden und beginnt leise zu knurren. Er hat es also auch gehört. Entweder bin ich doch nicht verrückt oder wir sind es beide.

»Leise, Junge«, sage ich. Hoffentlich erschreckt er sie nicht.

Ich spähe in die Dämmerung und schiebe mein Rad zentimeterweise bis ans Ende von unserem Hof. Das blaue Licht ist vom Waldrand hinter dem Maisfeld gekommen, da bin ich mir sicher. Dabei scheint mich die Stimme – oder die Stimmen – direkt am Ohr gekitzelt zu haben. Als ob sie gleichzeitig dahinten und hier bei mir wären. So etwas habe ich noch nie gehört. Eine Einzelstimme, aber auch viele. Weit weg, aber auch ganz nah. Ein Windstoß versetzt den Maisfeld-Chor in wirbelnde Begeisterung, als ob der Heilige Geist selbst niedergefahren wäre. Die Baumkronen in der Ferne schwanken, sie scheinen mich heranzuwinken und zu bezeugen, dass die Flüsterer irgendwo da draußen sind und auf mich warten.

Riley.

Da ist es wieder – zart und kaum zu hören. Weit weg und doch dicht an meinem Ohr. Ich steige aufs Rad und trete in die Pedale. Tucker trabt vor mir her, führt mich den Feldweg am Mathews-Maisfeld entlang. Ich fahre nicht schnell, trete nicht besonders fest. Ich muss lauschen, von wo genau die Stimmen kommen. Es klingt, als wären sie überall, in allen schattigen Winkeln des Waldes. Trotzdem müssen sie doch einen festen Ort haben, eine Art Flüsterer-Zuhause oder so. Eine Lichtung mit einem verwitterten Baumstumpf, wie in der Geschichte.

Jetzt, wo die Sonne weg ist, wird es schnell dunkel, um mich herum wirkt alles düster und grau. Im Walddickicht scheint es Millionen von Augen zu geben, die mich beobachten – manche freundlich, andere vielleicht auch nicht.

Ich werfe einen Blick zurück, will sicher sein, dass die nicht-magische Welt noch da ist. Ja, da sind die Dächer, das von unserem Haus und gleich daneben das Hausdach von Oma und Opa. Auch wenn sie im Dämmerlicht klein wirken und sich hinter dem Maisfeld zu verstecken scheinen, kann ich sie noch sehen. Dann schaue ich wieder zum Wald und trete nicht weiter in die Pedale. Mit den Füßen am Boden halte ich das Rad an und lausche. Der Wald vor mir wirkt wie eine dunkle Festung. Da ist irgendwas im seltsamen Licht der magischen Zeit. Etwas schreit: GEH DA NICHT REIN. DA SIND ZU VIELE SCHATTEN. Einer davon ist groß und kommt auf mich zu, schon ist er direkt hinter den Festungsmauern. Dann bleibt er stehen, der trampelnde Schatten, aber richtig sehen kann ich ihn immer noch nicht, er ist hinter den Baumstämmen verborgen. Tucker hat ihn jetzt auch entdeckt und knurrt ihn an.

Riley.

Dieses Mal bin ich nicht so entgeistert, meinen Namen zu hören. Aber zu erleben, wie er durch den Wald hallt und gleichzeitig direkt in mein Ohr wispert, lässt mich fast durchdrehen vor Aufregung. Ob der riesige Schatten da vorne so was wie ein Schwarm Flüsterwesen ist? Vielleicht wollen sie mich begrüßen und dann gleich zu Mama führen? Doch das Schattenmonster ist auf einmal spurlos verschwunden, und die Stimmen höre ich trotzdem. Also gehörte der Schatten wohl doch nicht zu den Flüsterern, sondern vielleicht nur zu einem besonders großen Hirsch. Oder es war der Geist von Mordecai Mathews.

Die gehauchten Stimmen kommen wohl von einer Stelle irgendwo rechts von dort, wo die Sonne untergegangen ist. Also aus Norden. Welche Himmelsrichtung wo ist, das haben Gary und ich beim Herumstreifen im Wald gelernt – bei Tag, zur nicht-magischen Zeit. Ich schiebe mein Rad Richtung Norden am Waldrand entlang. Tucker bleibt dicht bei mir, sein Fell sträubt sich, und sein Knurren wird lauter. Ich bin froh, dass er da ist, denn keine Sekunde lang habe ich die Gefahren vergessen, die bei Nacht im Wald lauern, und damit meine ich weder Luchse noch Kojoten.

Hobgoblins.

Ich lege das Fahrrad hin und schleiche näher zum Waldrand. Wieder höre ich die Stimmen, nicht so deutlich diesmal, aber sie kommen auf jeden Fall von Norden.

Da surrt es wie neulich dicht bei meinem Kopf, und ein blassblauer Schein schwirrt vor mir her, als wollte er mir den Weg in den Wald zeigen. Aber immer wenn ich versuche, ihn genauer zu betrachten, erlischt er.

Tucker winselt angespannt und schaut zu mir hoch. In seinen großen braunen Augen liegt eine Bitte. Ich weiß genau, was er will: durch den Wald preschen und die Wesen jagen. Das würde ich auch gerne. Aber der Satz von Dylan geht mir nicht aus dem Sinn.

In dem Wald da treibt sich allerhand Verrücktes rum.

Trotzdem mache ich jetzt noch einen Schritt und trete über die Schattengrenze.

»Riley? Riley!« Papas Stimme hallt von fern her über das Maisfeld, er klingt ziemlich sauer. Hier auf dem Land trägt der knurrige Tonfall von Vätern kilometerweit und fährt einem tief in die Knochen.

Morgen ist Freitag. Einen Tag kann ich noch warten. Dann bin ich besser vorbereitet und habe Gary als Verstärkung dabei. Ich ziehe Tucker an seinem Halsband aus dem Wald zurück. Er ist ein bisschen störrisch, tut aber, was er soll. Ich nehme mein Rad und spähe noch mal in das düstere Baumdickicht. Auch wenn ich nichts sehe, weiß ich doch, sie sind da. Sie halten Ausschau nach mir. Sie warten auf mich.

»Ich komm bald wieder«, flüstere ich.

Dann schwinge ich mich aufs Rad, Tucker dicht an meiner Seite. Noch im Wegfahren höre ich die Stimmen nach mir rufen. Sie köcheln im dämmrigen Zwielicht wie in einer Suppe und werden dann laut und brausend – die Suppe brodelt auf einmal stürmisch, als wären die Flüsterer unzufrieden, dass ich gehe. Aber ein Satz dringt doch durch das unverständliche Stimmengeblubber. Er lässt sich von der Brandung der anschwellenden Natursinfonie zu mir tragen, kitzelt meine Ohrmuschel und wärmt mich durch und durch.

Sie ist hier.