Am nächsten Morgen bin ich so aufgeregt, dass alles verschwimmt. Ich spule nur gedankenlos runter, was ich jeden Tag tue.
Nasses Bettzeug in die Waschmaschine.
Essigreiniger.
Lysol.
Bett frisch beziehen.
Den Ring unter dem dicken Winterpullover in der untersten Schublade verstecken.
Das Wort unqualifiziert an die Wand kleben. (Muss auf den Schreibtisch klettern, um einen leeren Fleck Wand zu finden.)
Das Wort von heute ansehen: voluminös.
Papa aus dem Weg gehen.
Auch der kurze Schultag verschwimmt.
Englisch.
Geschichte von South Carolina. (Da geht es um den Sumpf-Fuchs. Das ist kein Tier, sondern so ein General aus dem Unabhängigkeitskrieg, der diesen Spitznamen hat. Ich kannte den Ausdruck bis jetzt nur von der Swamp-Fox-Achterbahn in Myrtle Beach.)
Beim Klassenzimmerwechseln Gene Grimes begegnen, der mich Spinner und Prinzessin nennt. (Das zweite Wort ist neu.)
Mathe.
Frühes Unterrichtsende.
Nur zwei Sachen sind ungewöhnlich an diesem Tag: Miss Betty rammt mit dem Schulbus einen Briefkasten und lässt einen Schwall von Schimpfwörtern los, als sie merkt, dass das Ding total ruiniert ist – keins von den Wörtern ist jugendfrei – , und Dylan Mathews fehlt in der Schule. Vielleicht ist er mit seiner Familie übers lange Wochenende weggefahren oder so. Aber ich kann mich nicht groß mit der Überlegung aufhalten, warum Dylan nicht da ist, weil ich endlich eine heiße Fährte habe, wo ich Mama finden kann.
Eine heiße Fährte ist eine wichtige Information, die einen Kriminalfall aufklären kann.
Wie in Frank würde eine heiße Spur nicht mal dann auffallen, wenn er aus Versehen darüber stolpert.
Die Flüsterer haben gesagt, Mama wäre irgendwo im Wald. Also ist sie nicht von einem Hobgoblin gefressen worden, das ist schon mal klar. Bestimmt wissen die Flüsterer, wo der Hobgoblin sie gefangen hält. Vielleicht haben sie sie die ganze Zeit beschützt. Eins jedenfalls weiß ich genau: Wenn ich die Flüsterer finde, finde ich auch Mama. Und ich werde sie finden.
Bevor ich aus dem Bus steige, sage ich Gary, er soll um halb sechs bei der Stelle am Waldrand sein, wo wir uns immer treffen. Bis dahin bin ich bestimmt von meinem hoffentlich letzten Termin bei der Polizei zurück, und wir haben noch genug Zeit, um vor Sonnenuntergang einen guten Platz zu finden. Tucker kommt mir vom Haus her entgegen und leckt meine Hand, wie um zu sagen: Willkommen zu Hause, Kumpel. Zum Glück hast du diesen Tag im Irrenhaus auch wieder mal überlebt. Tucker versteht mich.
Opa läuft über den Hof zu Papas Werkzeugschuppen. Seit der Sache mit Kenny aus Kentucky bin ich da nicht mehr drin gewesen. Ich schiebe die Erinnerung weg, bevor sie sich festsetzen kann. Der Typ bringt nur Ärger. Meinen Rucksack lasse ich auf die Treppe vorm Haus fallen und gehe gleich rüber zu Oma. Sie sitzt am Küchentisch und kramt in ihrer Pillenschachtel herum. Ihre Lesebrille sitzt so weit vorne auf ihrer Nase, dass sie gleich abstürzt.
»Hallo, Liebes«, sagt sie abwesend. Dann kramt sie weiter und murmelt: »Migräne. Blutdruck. Herz. Arthritis …«
»Hey, Oma«, antworte ich und lege gleich meinen Köder aus. Oder eher meine Lügengeschichte. »Ich schlafe heute bei Gary, also gehe ich nachher noch mal zu Mr Killen, Knabberzeug kaufen und so. Seine Mutter hat nie was Gutes da. Brauchst du irgendwas aus dem Laden?« Das ist nicht alles gelogen. Ein bisschen Wahrheit reinzumischen, das wirkt immer gut. Ich werde ja wirklich Knabberzeug besorgen, und Garys Mutter kauft für zwischendurch nur Obst und Gemüse, was überhaupt keinen Sinn macht.
Oma sieht mich an, ihre Augen sind ein bisschen glasig. Anscheinend hat sie das Xanax schon gefunden. Das sind Tabletten, die man nimmt, damit man sich irgendwie flauschiger fühlt. Oma sagt, dass ich dieses Zeug bestimmt nicht so bald brauchen werde.
»Bratfett«, sagt Oma. »Eine große Vorratspackung Crisco. Hol mal schnell meine Handtasche, die liegt auf dem Tisch bei der Couch.«
Volltreffer!
Ich bringe Oma die Tasche und sie sucht darin herum. Das Ding ist so groß, dass ihr Kopf fast darin verschwindet.
»Oma«, sage ich. »Diese Tasche ist doch viel zu voluminös. Ich weiß echt nicht, wie du da irgendwas finden willst.«
Das war der perfekte Satz für das Wort von heute, aber Oma ist so in ihre Suche versunken, dass sie das gar nicht merkt. Mama hätte gelacht, wenn sie hier wäre, und sich gefreut, dass ich das Wort des Tages so gut untergebracht habe. Am Ende zieht Oma zwei Geldscheine heraus – einen Zwanziger für das Bratfett und einen Zehner für mich.
»Aber sag’s keinem«, flüstert sie, während sie die Zehn-Dollar-Note zusammenknüllt und mir in die Hand schiebt, als ob es um Drogen ginge oder so.
Ich sage Danke und umarme sie, dann gehe ich raus, um nach Tucker schauen. Opa und er machen hinter dem Haus Tauziehen mit einem Stock. Tucker gewinnt natürlich. Ich sage Opa das Gleiche wie Oma, und auch wenn er nichts hat, was ich ihm aus dem Laden mitbringen soll, steckt er mir einen Fünf-Dollar-Schein zu, genauso geheimnistuerisch wie Oma. Opa gibt mir immer ein bisschen weniger als Oma, aber ich kann mich auf beide verlassen. Für Kommissar Chase Cooper würde das hier vielleicht unter Schutzgelderpressung fallen.
Schutzgelderpressung ist, wenn man Leuten Geld abknöpft, indem man sie bedroht. Aber zu meiner Verteidigung kann ich sagen, dass Oma und Opa mir das Geld ja geben wollen und dass ich sie nie mit irgendwas bedrohe. Sie brauchen bloß einen Anlass, und den liefere ich ihnen.
Wenn ich meinen Großeltern Geld abluchse, indem ich ihnen einen Anlass gebe, mir was zu schenken, ist das eher eine Gefälligkeit als eine Schutzgelderpressung.
»Aber sei rechtzeitig zurück für dein … dein …«
Opa weiß nie, wie er meine Termine bei der Polizei nennen soll.
»Das heißt freiwillige Vernehmung«, erkläre ich laut und schiebe mein Fahrrad Richtung Straße. Tucker trabt langsam hinter mir her, sein Spiel mit Opa hat ihn total geschafft.
Tucker wartet vor der Eingangstür von Mr Killens Laden wie ein behaarter, massiger Wachmann. Er hat zwar abgenommen, weil er kaum noch was isst, seit Mama nicht mehr da ist, aber er wiegt immer noch gut fünfzig Kilo und wirkt auf die meisten Leute ziemlich furchteinflößend. Als er angefangen hat, dauernd sein Essen auszukotzen, sind wir mit ihm zum Tierarzt gegangen. Der Arzt hat gemeint, es könnte die Bauchspeicheldrüse sein, und uns ein Medikament mitgegeben. Das hat ein Weilchen geholfen. Ich glaube ja, Tucker ist einfach schwer ums Herz. Mir geht es genauso – nur ohne die Kotzerei. In letzter Zeit kommt es mir oft so vor, als ob mein Herz eine Tonne wiegt.
Mr Killen bedient gerade einen Kunden hinten im Laden, wo die Sportsachen sind. Er nennt das die Munitionstheke. Er winkt mir zu, während ich mir einen Einkaufskorb schnappe und nach und nach einsammle, was wir zum Campen brauchen.
Streichhölzer. Check.
Zwei Sechserpacks Mountain-Dew-Limonade. Check.
Eine Familienpackung Ruffles-Chips. Check.
Zwei Tüten von Mr Killens weltbester Erdnuss-Spezialität. Check.
Eine Tüte extrascharfe Knabberzwiebeln. Check. Aber dann fällt mir ein, dass Gary von diesen Dingern immer Furz-Explosionen kriegt, und das auch noch neben dem Feuer. Also lege ich die Packung zurück und nehme normale Knabberzwiebeln.
»Na, wenn das nicht Riley James ist!«
Ich schaue von den Knabbersachen auf und entdecke Schwester Grimes, die Mutter vom Voldemort der Buckingham Middle School, die mich von oben herab ansieht. Schwester Grimes ist keine Nonne und auch keine Krankenschwester. Sie gehört aber zur North Creek Church of God, und da reden sich die Erwachsenen alle mit Bruder und Schwester an, statt Mr und Mrs zu sagen. Ich finde das ziemlich seltsam, aber mich hat auch noch nie jemand mit Bruder angeredet. Wie kann ich das also beurteilen?
»Wir vermissen euch sehr in der Kirche, dich, deinen Vater und deinen Bruder«, sagt sie, guckt mich dabei aber so an, als ob ich Lepra hätte.
Lepra ist eine krasse Krankheit, die in biblischen Zeiten viele Leute hatten. Da bekommt man überall am Körper Geschwüre, und keiner will mehr was mit einem zu tun haben.
Wie in Soweit ich weiß, kann nur Jesus Lepra heilen.
Ich nicke bloß. Ich kann die Frau nicht ausstehen. Nicht nur, weil sie diese Teufelsgeburt namens Gene in die Welt gesetzt hat. Schwester Grimes ist ein Klatschmaul, sagt Mama. Ein Klatschmaul. Das klingt viel schlimmer als jemand, der ab und zu eben mal ein bisschen tratscht, so wie Oma.
Seit dem letzten Kirchenfest in der North Creek Church of God habe ich sie nicht mehr gesehen. An dem Tag habe ich sie zufällig etwas über Mama sagen hören. Ich habe es keinem erzählt, und im Moment kann ich mich ehrlich gesagt auch nicht mehr genau erinnern, was sie gesagt hat, aber ich weiß noch, wie furchtbar ich es gefunden habe. Ich habe Schwester Grimes bis heute nicht vergeben. Jesus sagt ja, wir sollen vergeben und verzeihen, aber ich bezweifle sehr, dass ich das jemals tun werde, darum kann ich nur hoffen, dass Jesus nicht irgendwo rumsitzt und dringend darauf wartet.
Ich stehe also mit dem Einkaufskorb vor dem Bauch da und starre sie an. Ich habe gehört, dass sich Erwachsene unbehaglich fühlen, wenn sie von Kindern statt einer Antwort bloß ein stilles, leeres Starren kriegen. Und dass es unhöflich ist, so was zu tun, und noch dazu gruselig. Das ist mir egal. Ich will, dass sich Schwester Grimes unbehaglich fühlt und vor mir gruselt. Ich will auch gern unhöflich zu ihr sein wegen dem, was sie über Mama gesagt hat. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte, was es war.
Mein Plan funktioniert. Am Ende gibt sie auf und verdreht die Augen, statt weiter zu warten, dass ich was sage. Im Vorbeigehen meint sie nur: »Richte deinem Vater Grüße von mir aus.«
Klar. Als ob ich das tun würde.
Für den Fall, dass sie sich noch mal umdreht, starre ich ihr mit meinem Kindergruselblick hinterher, bis sie um die Ecke ist. Aber sie dreht sich nicht um. Ich kaufe weiter ein und gehe bis zum Ende vom Knabberregal, wo auch der Munitionstresen ist. Da stehe ich auf einmal meinem Superhelden gegenüber: Dylan Mathews. Ich bleibe stocksteif stehen und starre ihm ins Gesicht. Nicht nur, weil es das Gesicht von Dylan Mathews ist – für mich schon Grund genug, um zu starren – , sondern auch, weil seine Oberlippe aufgeplatzt ist. Sie ist geschwollen und es klebt angetrocknetes Blut daran. Wer in aller Welt wagt es, Dylan Mathews eine reinzuhauen?
»Dylan«, blubbere ich los. Als ob er seinen eigenen Namen vergessen haben könnte und eine Erinnerung bräuchte.
Er sieht mich mit großen Augen an, wie ertappt bei irgendwas Verbotenem. Trotzdem starre ich immer weiter auf seine dicke Lippe, ich kann gar nicht anders. Zumindest so lange, bis ich den lila-braunen Bluterguss an seiner rechten Kinnlade sehe. Heilige Scheiße, denke ich, traue mich aber nicht, es laut zu sagen.
Mr Killen streift Dylan mit einem kurzen Blick, dann sieht er mich ärgerlich an. »Findest du nicht, was du brauchst, Riley?«
Dylan senkt den Kopf, aus irgendeinem Grund kann er mir nicht in die Augen sehen. Ich würde ihn gern fragen, was mit seinem Gesicht passiert ist, aber Mr Killens hochgezogene Augenbraue hält mich davon ab, außerdem will ich kein neugieriges Klatschmaul sein.
»Crisco«, sage ich schließlich. »Oma braucht Crisco.« Mein Mund ist auf einmal wie ausgetrocknet, und meine Stimme klingt nach Schmirgelpapier.
»Die große Vorratspackung?«, fragt Mr Killen.
Ich nicke und starre weiter den Bluterguss in Dylans Gesicht an. Mr Killen kommt seufzend hinter dem Tresen vor, wohl um mir Omas Bratfett zu bringen, denn ich bin hier festgewachsen und kann es nicht selbst holen. Ich frage mich, ob Gene Grimes Dylan aufgelauert und sich mit seiner Truppe dafür gerächt hat, dass er mir zu Hilfe gekommen ist. Aber Dylan war ja heute nicht in der Schule, also weiß ich nicht, wann das passiert sein könnte. Er legt die Hände auf den Tresen. Sie zittern ein bisschen. Er hat mich immer noch nicht begrüßt, was seltsam ist. Dylan sagt immer Hallo oder winkt zumindest.
Vor ihm auf dem Tresen liegen zwei Schachteln Flintenmunition. Er sieht sie so eindringlich an, als ob er ihnen klarmachen wollte, was ihr Auftrag ist – so wie Kommissar Chase Cooper seinem Team Anweisungen geben würde, bevor er sie zum Versteck des Täters führt.
»Gehst du jagen?«, bringe ich schließlich heraus.
Er sieht mich kurz an. »So was in der Art.«
Ich möchte so dringend wissen, wie das mit seinem Gesicht passiert ist – wer das gemacht hat und warum er heute nicht in der Schule war. Aber die seltsame Mischung aus Angst und Wut in seinen Augen hält mich ab.
»Wieso biste nicht in der Schule?«, fragt er mich.
»Die war heute früher aus«, sage ich.
Er nickt ein bisschen, als ob es ihm eben erst wieder eingefallen wäre. Seine Familie verreist anscheinend doch nicht übers Wochenende, sonst hätte er das nicht vergessen.
»Gary und ich, wir gehen campen«, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt.
Wieder nickt er und betrachtet dann die Schachteln mit der Munition. »Hast du im Bus schon gesagt.«
»Ach ja, stimmt.«
Mein Blick schweift durch den Laden, und ich entdecke Mr Killen, der eine Familienpackung Crisco in meine Richtung schwenkt. Schwester Grimes beobachtet uns vom Milchregal aus, typisch Klatschmaul.
»Wenn das alles ist, Riley, kann ich dich vorne abkassieren«, sagt Mr Killen. Seine Stimme ist viel lauter als nötig. »Bin gleich wieder bei dir, Dylan.«
Dylan nickt Mr Killen über die Schulter weg zu.
»Wir gehen hinter eurem Maisfeld am Waldrand lang nach Norden«, sage ich. »Schieß bloß nicht auf uns, wenn du da draußen bist.«
Der Witz kommt genauso lahm rüber wie beim ersten Mal im Bus. Dylan lacht nicht. Er lächelt nicht mal. Also winke ich bloß kurz und drehe mich weg.
»Pass auf dich auf, Riley.« Seine Stimme klingt jung und wacklig, mehr nach einem kleinen Kind als nach einem Superhelden.
Ich schaue über die Schulter zurück, aber er steht jetzt mit dem Rücken zu mir da. Also war das wohl keine Einladung, doch noch länger mit ihm zu reden. Auch wenn er mich nicht sehen kann, nicke ich, dann lasse ich ihn alleine da stehen, mit seinen finsteren Gedanken, seinem kaputten Gesicht und seiner Flintenmunition.