14   Lauschen, schnitzen, warten

In null Komma nichts hat Gary ein ziemlich gutes Feuer in Gang gekriegt. Konzentriert wie ein Chirurg im Fernsehen schiebt er an sorgfältig ausgewählten Stellen immer wieder ein paar neue Stöckchen in die Pyramide von brennenden Ästen. Carl hockt auf einem Baumstumpf und wühlt in Garys Gepäck. Ich habe mich auf einen umgestürzten Stamm gesetzt, der so lang ist wie eine ganze Bankreihe in der North Creek Church of God, und schnitze mit Opas Taschenmesser an einem Stock herum, bis er eine scharfe Spitze hat. Was ich damit aufspießen will, weiß ich nicht genau, aber ich finde, es schadet nichts, so was zu haben. Zumindest kann ich damit schon mal meine Würstchen ins Feuer halten. Tucker liegt dösend zu meinen Füßen. Ich beuge mich vor und kraule ihm den Kopf. Er ist so erschöpft, dass er nicht mal die Augen aufmacht.

Die Sonne geht jetzt endgültig unter, also muss es gegen halb acht sein. Bald wird Garys Feuer unsere einzige Lichtquelle sein. Schatten formen sich und wabern um unser Lager wie seltsame Türen in die Dunkelheit hinein – eine Dunkelheit, die zu nichts Gutem führen wird. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern. Wenn die Stimmen der Flüsterer sogar bis zu uns nach Hause gedrungen sind, werde ich sie hier im Wald laut und klar hören, da bin ich mir sicher. Ich lausche, schnitze und warte. Lausche, schnitze und warte.

Eine gute halbe Stunde vergeht, in der nichts zu hören ist als die Sinfonie der Natur. Sie klingt hier mitten im Wald noch schöner. Aber sonst gibt es nichts. Keinen Wind. Keine Stimmen. Kein Flüstern. Ich stehe auf, laufe ums Lager, spähe ins Dunkle. Tucker folgt mir nur kurz, nach ein paar Schritten lässt er es wieder. Wahrscheinlich wird ihm schwindlig, weil ich immer im Kreis gehe. Dabei reibe ich mir die Hände, als ob ich die Flüsterer auf die Art herlocken könnte. Angst drückt mir auf den Magen wie eine Riesenpackung extrascharfe Knabberzwiebeln. Wo sind sie? Was habe ich falsch gemacht? Hätte ich alleine kommen sollen?

Lauschen, schnitzen, warten, sage ich mir. Lauschen, schnitzen, warten.

Gary und Carl sitzen auf unserem Holzstamm beim Feuer und starren in die Flammen. Sie ahnen nichts von meinen verrückten Gedanken. Für sie ist dieser Campingausflug nicht anders als sonst, sie haben beide ein frohgemutes Lächeln im Gesicht, als gäbe es nichts auf der Welt, was sie belastet.

Frohgemut ist, wenn man gute Laune hat und das Leben toll findet.

Wie in Wenn Gary ununterbrochen Rebecca Johnsons Busen anstarren könnte, wäre er den ganzen Tag frohgemut.

Gary hält ein Stöckchen übers Feuer, an dem ein schlaffes Würstchen baumelt. Auch Carl hat ein Stöckchen, aber an seinem ist ein flackernder Marshmallow-Klumpen. Anscheinend ist jetzt Abendessen angesagt. Ich habe überhaupt keinen Hunger, setze mich aber trotzdem zu ihnen auf den Baumstamm. Die Hände vergrabe ich tief in den Taschen, mit der einen umschließe ich das Taschenmesser, in der anderen halte ich Mamas Ring.

»Vielleicht waren wir zu laut und haben sie verscheucht«, sagt Gary nach einer Weile.

Wie nett von ihm, dass er das sagt. Er weiß, wie enttäuscht ich bin. »Kann sein.«

»Wen verscheucht?«, fragt Carl und bläst die Flamme von seinem Marshmallow aus.

Gary wirft mir einen Blick zu. Ich zucke mit den Achseln und verdrehe die Augen als Zeichen, dass er Carl ruhig was erzählen kann.

»Unser Kumpel hier sucht was«, sagt Gary. »Sieht aber schwer danach aus, dass wir’s heute nicht mehr finden. Vielleicht dann eben morgen.«

»Was suchst du denn?«, fragt Carl. Sein Mund ist verschmiert mit weißem Klebzeug, an dem noch Asche hängt.

Ich schaue ihn an, bevor ich antworte. Wenn sie heute sowieso nicht mehr kommen, was kann es dann schon schaden? »Flüsterer heißen sie.«

Carl fährt sich mit dem Handrücken über den Mund. »Und was sind Flüsterer?«

»Weiß ich nicht so richtig«, sage ich, ein bisschen genervt, dass er es so genau wissen will. »Vielleicht gibt’s die auch gar nicht. Nur in meinem Kopf.«

Das laut auszusprechen ist furchtbar, aber ich bin wirklich nicht ganz sicher, und auf die Art fragt Carl wenigstens nicht weiter nach. Ich hole das Taschenmesser wieder aus der Hosentasche und mache mit meinem Speer weiter.

Lauschen, schnitzen, warten.

Carl sieht mir zu und leckt sich die Finger ab. »Kann ich dein Messer haben? Ich will auch so einen spitzen Stock.«

Ich betrachte Carls klebrige Finger.

»Ja«, sage ich. »Aber wasch dir erst die Hände.«

Mit einem Ruck steht Carl auf. Gary verliert dadurch die Balance, aber er kann sich noch fangen, bevor er runterknallt. Tucker rührt sich. Er hebt den Kopf und sieht Carl hinterher, wie der zum Bach läuft. Dort drüben ist es so dunkel, dass ich im schwachen Schein des Feuers kaum noch seinen Umriss erkennen kann, als er sich zum Wasser beugt. Tucker beobachtet Carl genau. Es macht ihn nervös, wenn er uns nicht alle drei auf einmal im Blick haben kann.

Lauschen, schnitzen, warten.

Carl platscht mit den Händen im Wasser herum und wischt sie dann an seinem T-Shirt ab. Neben mir hebt sich Tucker auf alle vier Pfoten, stellt die Ohren auf und starrt in das dunkle Nichts am anderen Ufer vom Bach.

Ich strecke die Hand aus und kraule ihn am Kopf. »Was ist denn los, Tuck?«

Die Haare in seinem Nacken richten sich auf, und ein tiefes Grollen kommt aus seiner Kehle.

»Wird ein Hirsch sein oder so«, sagt Gary. Das Ganze juckt ihn so wenig, dass er nicht mal von seinem Würstchen aufschaut.

Aber dann knackt draußen in der Dunkelheit ein Zweig. Wir schrecken alle zusammen, auch Gary schaut jetzt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist. Ich packe mit einer Hand meinen selbst gebastelten Speer und umklammere mit der anderen das Taschenmesser. Gary erhebt sich langsam, geht ein paar Schritte, bis er beim Bach ist, und späht in die Schatten am anderen Ufer. Tucker knurrt, immer weiter und immer lauter, wie ein näher kommender Güterzug.

»Ich seh nichts«, sagt Gary nach einer Weile, dreht sich um und kommt zu mir zurück. »Ich sag’s ja, das muss ein Hirsch gewesen sein.«

Aber als sich Gary wieder auf dem Stamm niederlässt und mir nicht mehr den Blick zum anderen Ufer verstellt, kippe ich fast rückwärts runter. Tucker schießt los und springt zum Bachufer, er bellt und knurrt und fletscht die Zähne wie ein Raubtier. Carl stößt einen Schrei aus, stolpert und tappt auf allen vieren vom Bach weg, so schnell er kann. Als ich von dem Baumstamm aufspringe, verliert Gary die Balance und kippt wirklich nach hinten. Ich starre ins Dunkle und wedle Rauch vor meinen Augen weg, der gar nicht da ist. Denn das, was ich da sehe, ist keine Einbildung.

Am anderen Ufer, von den Schatten eingehüllt wie in einen dunklen Umhang, steht eine massige Gestalt, sicher doppelt so groß wie wir. Im flackernden Feuerschein lässt sich das Gesicht nur erahnen, aber eines ist klar zu erkennen: Da sind Haare, so viele Haare, das gesamte Gesicht scheint mit Haaren bedeckt. Und diese Augen – sie starren wie Alligatoraugen, die dicht über dem Wasserspiegel der Sümpfe hochragen.

Gary flucht wild und kommt hastig wieder auf die Füße. Carl schreit und schreit, seine Stimme hallt laut durch das Kieferngewirr. Und ich? Kann mich nicht bewegen. Kann nicht schreien. Stehe bloß da und starre die Kreatur an. Nur der Bach trennt uns von ihren haarigen Pranken, aber ich bin sicher, sie käme mit zwei, drei Sprüngen auf unsere Seite – wenn da nicht Tucker mit seinem wütenden Bellen wäre. Er springt mit wildem Schnappen und Knurren am Ufer hin und her, will das Monster mit seinen starken Kiefern zerfetzen.

Carl taumelt zurück und stößt mich fast um. »Was ist das?«, brüllt er.

Ich starre in die Alligatoraugen, die mich fixieren, und ein Wort steigt mir in die Kehle. Ich bringe es nur flüsternd über die Lippen.

»Hobgoblin.«