Ich weiß nicht, wie lange ich jetzt schon durch den Wald tappe, jedenfalls sind die Erdnuss-Schalen fast aufgebraucht. Alle paar Schritte habe ich welche fallen lassen – ich fand es ziemlich schlau von mir, auf die Art den Weg zu markieren, damit ich mich im Land von Mordecai Mathews nicht verlaufe. Knabberzwiebeln wären auch gegangen, aber vielleicht hätten dann Eichhörnchen oder Hirsche sie gefressen. Tiere mögen nämlich genauso gern Zwiebelringe wie Menschen, das weiß ich, weil Tucker sie so lecker findet, dabei kriegt er immer so schlimme Blähungen, wenn er sie frisst.
Ich versuche zu verdrängen, wie dunkel es überall um das Taschenlampenlicht ist, und schaue nicht nach rechts oder links. Direkt neben mir kann ein Hobgoblin laufen, ohne dass ich das Geringste mitkriege. Aber ich will auch gar nichts mitkriegen. Tucker meldet sich jetzt in regelmäßigen Abständen, er scheint zu wissen, dass ich komme, und führt mich mit seinem tierischen GPS zu sich. Bestimmt wäre er ein großartiger Polizeihund geworden. Vielleicht könnte er auch im Fernsehen auftreten. Eine ganze Serie könnten sie mit ihm machen. Aber ich weiß, dass mich Tucker nie verlassen würde, auch nicht für das Funkeln und Glitzern einer Filmstar-Karriere in Hollywood.
Vor mir knackt ein Ast und ich erstarre.
»Tucker?«
Wieder jault er. Diesmal von irgendwo rechts. Ich passe meine Richtung an und gehe weiter. Dabei gebe ich mir alle Mühe, nicht daran zu denken, dass es nicht rechts von mir geknackt hat, sondern geradeaus. Nur irgendein Tier, sage ich mir.
Ich bin bei den letzten Erdnuss-Schalen, als ich Tucker vor mir laut hecheln höre. Dann entdecke ich auf einer kleinen Lichtung seinen Umriss, in Mondlicht getaucht, und breche vor lauter Erleichterung fast in Tränen aus. Ich lasse die leere Tüte fallen und renne den Rest vom Weg. Tucker sitzt mitten in einem Lichtkreis aus Mondschein, was aussieht, als ob ihn gleich ein Alien-Raumschiff nach oben beamen wollte. Zur Sicherheit schaue ich sogar in den Himmel. Kein Raumschiff da. Einerseits möchte ich ihn in den Arm nehmen, andererseits bin ich jetzt, wo ich weiß, dass er okay ist und auch keine Gefahr droht, dass ihn Aliens entführen, auf einmal furchtbar wütend auf ihn.
Ich stemme die Hände in die Hüften wie immer, wenn ich mit ihm schimpfe, was nicht besonders oft vorkommt. »Warum bist du weggelaufen?«
Ich lasse meine Stimme so schroff klingen, wie ich nur kann. Er antwortet nicht. Tut er natürlich nie, aber das hält mich nicht davon ab, ihn Sachen zu fragen.
»Willst du, dass wir uns beide hier draußen verlaufen? Dass wir bei lebendigem Leib gefressen werden? Oder von Aliens entführt?«
Er schließt den Mund und legt den Kopf schief, als könnte er nicht verstehen, warum ich so sauer auf ihn bin. In diesem Moment fällt mir auf, dass alle Naturgeräusche verstummt sind. Es ist vollkommen still, eine Konzertpause anscheinend. Ich schaue mich um, will mich vergewissern, dass wir allein sind – mein eigener Satz über das Gefressenwerden macht mir zu schaffen. Da sehe ich es. Da begreife ich endlich. Da mache ich mir fast noch mal in die Hose, vor lauter Aufregung diesmal, denn Tucker, ganz ehrlich, ist der schlauste Hund in der Geschichte der Hunde.
Langsam drehe ich mich und betrachte alles genau, um sicherzugehen, dass ich nicht träume. Ich stehe mitten auf einer Lichtung, die ungefähr so groß wie mein Zimmer ist, auf dem Boden ein knisternder Teppich aus trockenem Laub. Ich schaue nach oben. Zwischen den Baumwipfeln klafft eine Lücke, es sieht aus, als hätte der Wald ein Loch. Der Mond scheint zu uns herunter, durch sein sanftes Licht wirkt der Ort wie eine Oase mitten im Wald.
Eine Oase ist ein Ort in der Wüste, wo es Wasser und Palmen gibt. Man kann sich dort niederlassen, Kokosnussmilch trinken und für eine Weile vergessen, dass man trotzdem noch in der Wüste festsitzt.
Tucker geht mit den Vorderpfoten ein Stück nach vorne und streckt sich in Zeitlupe, bis sein Bauch den Boden streift. Und da ist er. Gleich hinter ihm und genau im Mittelpunkt der Lichtung – ein verwitterter alter Baumstumpf, der mir bis an die Hüften reicht. Genau wie in der Geschichte.
Ich will hingehen, aber meine Beine sind wie aus Pudding. Ich lasse die Taschenlampe fallen. Eine kleine Windbö huscht um mich her, wie als Aufforderung. Nach einer Weile umrunde ich Tucker mit ein paar unsicheren Schritten und gehe zu dem Baumstumpf. Sein Durchmesser ist ungefähr wie der von einem Essteller, und es ist eine Höhlung darin, sodass er oben fast wie eine große Müslischale aus Holz aussieht. Ich fahre mit den Fingern über den Rand, die abgestorbene Rinde kratzt an meiner Haut.
Ein vertrauter Geruch kitzelt mich in der Nase, und als ich aufschaue, sehe ich, dass die Lichtung von Geißblattsträuchern umgeben ist. Der Duft ist stark, und ich schmecke den süßen Nektar in den Blüten fast auf der Zunge. Etwas brummt an meinem Ohr und ich ducke mich weg. Kurz flackert so was wie ein winzig kleines blaues Weihnachtslicht auf, aber als ich den Kopf in die Richtung drehe, ist es schon wieder weg. Tucker beobachtet mich mit großen Augen und schief gelegtem Kopf. Diesen Blick sehe ich in letzter Zeit oft, und ich weiß, was er bedeutet: Mein Mensch ist ein Fall für die Klapse.
»Du hast es gefunden, Tuck«, sage ich mit einem breiten Grinsen. »Braver Junge.« Ich beuge mich vor und kratze ihn am Kopf. Als Antwort schlägt er fest mit dem Schwanz auf den Boden.
Ich starre in die Höhlung im Baumstumpf, als ob sich darin gleich eine Art Geheimtür öffnen würde. Ich stelle mir vor, wie mein Körper schrumpft. Wie ich in ein Loch falle und in einer Art Wunderland der Flüsterer lande, wo ich Mama begegne, die bei Kuchen und Eis mit einem seltsamen Kerl im Zylinder zusammensitzt. Schön wär’s.
Riley.
Genau wie letztes Mal sind ihre Stimmen zugleich in meinem Ohr und woanders. Sie sind überall – sie schweben auf einem fliegenden Teppich aus Blättern, Wind und Geißblattduft durch die Baumwipfel. Die blauen Weihnachtslichter schwirren um mich herum, leuchten kurz auf und verblassen so schnell wieder, dass ich nicht sicher sein kann, ob das nicht nur solche komischen Punkte sind, wie man sie kriegt, wenn man fest die Augen zukneift. Ich bemühe mich, sie auf keinen Fall direkt anzusehen, damit ich nicht für immer bei ihnen bleiben muss wie der Junge in der Geschichte, aber ich weiß, die Flüsterer sind da. Diese Chance werde ich nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Vorsichtig schiebe ich die Hand in die Hosentasche, als ob jede plötzliche Bewegung sie verscheuchen oder mich aus diesem Traum wecken könnte, aus dem ich nicht aufwachen will. Ich ziehe das Schweizer-Armeemesser heraus und lege es in meine hohle Hand. Dann halte ich es über den Baumstumpf und schaue in die Bäume. Ich weiß nicht, ob sie mir von dort aus zuschauen, aber irgendwie fühlt sich das richtig an.
»Ich habe euch das hier gebracht«, sage ich in einer Lautstärke, die gut zu hören ist, aber nicht respektlos wirkt. »Es gehört meinem Opa. Er wird sehr wütend sein, dass ich es genommen habe, aber das macht mir nichts aus. Ihr sollt es haben, als Opfergabe.«
Keine Antwort. Nur wieder mein geflüsterter Name.
»Wisst ihr, wo meine Mama ist?« Meine Stimme klingt zittrig. »Ich muss sie finden. Ich glaube, dass sie in Not ist.«
Wieder hüllt mich ein warmer, nach Geißblatt duftender Windhauch ein, wie eine angenehm riechende Decke direkt aus dem Trockner. Ich weiß, dass sie mich hören. Sie verstehen mich. Der Windhauch legt sich. Tucker kommt wieder auf die Beine und beobachtet mich. Der Blick in seinen Augen macht mir klar, dass er in diesem Moment alles dafür geben würde, meine Sprache zu sprechen, damit er mir helfen kann. Dabei verstehe ich ohne Probleme, was er mir mit seinem Starren mitteilen will. Er findet, dass ich das falsch mache.
Ich lege Opas Messer in den Baumstumpf und trete einen Schritt zurück. Dann halte ich inne und überlege mir sorgfältig, was ich sagen will. »Mein Herzenswunsch ist es, Mama zu finden.«
Augenblicke vergehen. Der Wind legt sich. Die leisen Stimmen sind nicht mehr zu hören, und es schwirren auch keine seltsamen blauen Weihnachtslichter mehr um meine Augenwinkel herum. Dies ist einer der Momente, in denen ich glaube, ich hätte mir das alles nur eingebildet – die Flüsterer, den Hobgoblin und auch dass Dylan Mathews als Superheld aufgetaucht ist und uns gerettet hat. Vielleicht war das alles ein Traum. Vielleicht wache ich gleich zu Hause in meinem vollgepinkelten Bett auf.
Nein. Das hier muss real sein. Wenn es das nämlich nicht ist, heißt das –
In der Dunkelheit knackt ein Zweig, dicht bei der Lichtung, und ich reiße den Kopf herum. Ich schaue dorthin, wo das Geräusch hergekommen ist, und warte, dass Mama erscheint. Kaum zu glauben, wie simpel das gewesen ist. Wie konnte ich bloß zweifeln? Die Flüsterer sind real. Sie haben mir meinen Herzenswunsch erfüllt. Ich betrachte die dunklen Türen im Wald und frage mich, durch welche sie wohl kommen wird.
Tucker stellt die Ohren auf, das Fell auf seinem Rücken sträubt sich – nie ein gutes Zeichen. Er weicht zurück und knurrt. Sein bedrohliches Knurren, nicht das wie beim Spielen. Ich beuge mich vor, hebe die Taschenlampe auf und richte sie auf die Dunkelheit direkt vor uns. Das Schattenwesen bewegt sich vorwärts, gleich wird es die Grenze zwischen Walddunkel und Mondlichtboden überschreiten. Aber es ist nicht Mama. Dafür ist das Wesen viel zu groß. Zu hochgewachsen. Zu massig. Zu haarig. Zu … hobgoblinmäßig.
Ein schriller Schrei löst sich aus meinem Mund. Er zerreißt den Nachthimmel und lässt den Hobgoblin erstarren. Das Wesen macht allen Ernstes einen Schritt zurück, als hätte es Angst vor mir. Tucker knurrt und duckt sich, er will angreifen. Aber ich habe Angst, dass im Kampf mit einem Hobgoblin nicht mal Tucker eine Chance hätte.
Ich reiße an seinem Halsband, ziehe ihn in die entgegengesetzte Richtung. Dabei gerate ich ins Stolpern, aber ich fange mich schnell wieder. Mit Tuckers Halsband in der einen Hand und der Taschenlampe in der anderen flüchte ich rückwärts aus der Lichtung. Im Wald drehe ich mich um und suche den Boden nach leeren Erdnuss-Schalen ab. Zum Glück landet der schwankende Lichtstrahl irgendwann auf der Plastiktüte und dann zuerst auf einem Häuflein mit zwei Schalen, dann einem mit drei. So schnell ich kann, folge ich dem Weg, den sie markieren. Tucker und ich rennen, und ich tue alles, um nicht hinzufallen. Ich sehe mich nicht um, ich will gar nicht wissen, ob der Hobgoblin uns verfolgt. Bestimmt hätte er uns dann sowieso schon längst eingeholt. Mein Herz hämmert in der Brust, als ob es einen Morse-Code-Notruf an die Polizei schicken wollte. Hoffentlich kommt der Ruf bei Frank an. Lieber den dämlichsten Kripobeamten der Welt als gar keinen.
Die Erdnuss-Schalen zeigen uns den Weg zurück ins Sichere, und je weiter wir von der Lichtung wegkommen, desto einfacher ist es zu rennen. Keine Ahnung, ob das eben Mordecai Mathews war oder einer von seinen Hobgoblin-Freunden, aber ich werde auf keinen Fall langsam machen, nur um das rauszukriegen. Mit der einen Hand umklammere ich die Taschenlampe, mit der anderen Tuckers Halsband, damit er nicht auf die Idee kommt, zurückzulaufen und den Hobgoblin anzugreifen. Tucker kann sich gegen jeden behaupten, egal ob Mensch oder Tier, aber das hier ist eine ganz andere Nummer. Dieses Wesen ist finster. Es ist böse. Es frisst kleine Jungs wie Peetie Munn und verschleppt mir nichts, dir nichts schlafende Mütter aus dem Wohnzimmer.
Ich renne und renne.