18   Das F -Wort

Wir haben es geschafft, wir sind zurück. Tucker marschiert gleich zum Bach, um zu trinken, während ich auf den umgestürzten Baumstamm sinke, um zu verschnaufen, und den Kopf zwischen den Knien hängen lasse. Die Morgendämmerung taucht das Lager in ein seltsames Zwielicht. Gary, Carl und Dylan sind am Aufwachen. Anscheinend haben sie überhaupt nicht mitgekriegt, dass ich weg war. Als ich hochschaue, stehen sie zu dritt vor mir – mit knittrigen Gesichtern, schief gelegten Köpfen und schlafblinzelnden Augen, in denen lauter Fragen stehen.

Keuchend erzähle ich, wie Tucker mitten in der Nacht auf einmal weg war. Ich erzähle von den Erdnuss-Schalen und der Lichtung. Ich erzähle, wie ich meinen Namen gehört und die blauen Lichter gesehen habe. Und ich erzähle auch, dass ich Opas Taschenmesser in dem verwitterten Baumstumpf gelassen habe, als Opfergabe für die Flüsterer. Erst als ich kurz innehalte, um einen tiefen Atemzug zu tun, merke ich, wie schnell ich rede und wie verrückt sich meine Geschichte anhören muss.

Die anderen glauben mir nicht.

Das weiß ich genau, sie starren mich nämlich an wie einen Irren, der eine Zwangsjacke braucht.

Eine Zwangsjacke zieht man nicht an, weil einem kalt ist. Das ist etwas, das die Arme von Leuten festhält, die krank im Kopf sind und toben wie irr, so richtig mit Schaum vor dem Mund.

Wie in Ich fahre mir über den Mund und bin froh, dass da kein Schaum ist, also brauche ich im Moment anscheinend doch noch keine Zwangsjacke.

Ich beschließe, meine Erzählung besser an dieser Stelle abzubrechen, vor meiner zweiten Begegnung mit dem Hobgoblin. Wenn ich ihnen davon erzähle, gehen sie nämlich nie noch mal mit mir zu der Lichtung, um alles bei Tageslicht anzuschauen.

Wir warten, bis die Sonne hell am Himmel steht, und überqueren nach einem schnellen Würstchen-Frühstück den Bach an der gleichen Stelle wie ich vor ein paar Stunden. Dann folgen wir dem Pfad, den ich mit den Erdnuss-Schalen markiert habe. Dylan geht vor, die Flinte hängt so selbstverständlich über seiner Schulter, als ob er damit auf die Welt gekommen wäre. Ich gehe hinter ihm, betrachte seinen wohlgeformten Oberkörper und die breiten Schultern und wie tief seine Jeans auf den schmalen Hüften hängt. Im Stillen bitte ich Gott um Verzeihung dafür, dass ich Dylan auf diese Art anstarre. Das soll man nämlich tun, wenn man unreine Gedanken hat, sagt der Prediger in der North Creek Church of God. Irgendwie finde ich das seltsam, denn die Gedanken, die mein anderes Problem mich denken lässt, fühlen sich überhaupt nicht unrein an. Aber mein Kopf weiß es besser. In der Schule ist es genau wie in der Kirche: Mein Kopf hat dort mehr gelernt als mein Herz. Ist ja auch irgendwie logisch, Köpfe sind eben schlauer als Herzen. Sie sind schließlich … na ja, Gehirne halt.

Gary und Carl gehen hinter mir, und wie üblich streiten sie sich. Carl ist immer noch total durch den Wind wegen unserer ersten Mordecai-Mathews-Begegnung gestern Nacht und will unbedingt nach Hause. Soll er doch gehen.

Tucker ist ganz hinten. Er bewegt sich langsam und schnauft ziemlich viel. Er wollte auch nichts von dem Trockenfutter fressen, das ich für ihn dabeihabe. Ich musste mich erst über ihn stellen und ihn praktisch dazu zwingen. So wie er mich zwischen den Bissen angeschaut hat, war klar, dass er das Futter nur geschluckt hat, weil er nicht ungehorsam sein wollte. In letzter Zeit ist das die einzige Art, ihn zum Fressen zu bewegen. Vielleicht fürchtet sich Tucker ja davor, jetzt bei Tageslicht wieder in das Land von Mordecai Mathews zurückzukehren. Das kann ich verstehen. Dabei fühle ich mich im Augenblick doch ziemlich sicher, wie ich so hinter Dylan, seinen breiten Schultern und seinem Gewehr herlaufe.

Ich weiß nicht, wie lange wir gehen, aber die Füße tun mir weh, und in meinen Lungen sind statt Luft lauter Steine, so fühlt es sich jedenfalls an. Ich staune, wie Gary das schafft: Man könnte denken, dass er schier stirbt bei dem vielen Gewicht, das er mit sich rumschleppt, aber er hat schon immer viel mehr Energie gehabt, als man bei seiner Jumbo-Größe erwartet.

Obwohl unsere Füße beim Trampeln durch raschelnde Blätter und trockene Zweige ziemlich viel Krach machen, schrillt der Name so laut in meinen Ohren wie dieser grelle Feueralarm in der Schule. Es muss Carl sein, der ihn ausspricht. Kenny. Wie in Kenny aus Kentucky. Mein Gesicht wird sofort feuerrot, und ich wage nicht, mich umzudrehen. Ich halte den Mund, schaue nach vorne und lausche.

»Mama hat gesagt, Tante Sadie kommt nächsten Monat wieder zu Besuch. Kenny kommt auch mit«, sagt Carl.

»Verdammt!«, sagt Gary. »Ich hasse diesen Kerl.«

»Zu mir ist der immer nett«, widerspricht Carl.

»Weil du ein kleines Kind bist. Alle sind nett zu kleinen Kindern.«

»Du nicht«, schießt Carl zurück.

Gary gibt darauf keine Antwort. Ich bekomme kaum Luft. Kenny aus Kentucky kommt. Nächsten Monat schon.

»Jedenfalls schläft der nicht noch mal bei mir im Zimmer«, sagt Gary zu Carl, aber laut genug, dass ihn die ganze Welt hören kann. »Er kann ja bei dir schlafen oder auf der Couch.«

Ich kann nicht fassen, dass sie über Kenny aus Kentucky reden, und das vor Dylan.

»Wer ist Kenny?«, fragt Dylan.

Er schaut über die Schulter zurück und sieht mich an. Wieso fragt Dylan ausgerechnet mich nach Kenny? Ich rede nie über ihn. Ich zucke mit den Achseln und tue so, als ob ich den Namen noch nie gehört hätte. Daraufhin meldet sich Gary.

»Der neue Stiefsohn von Tante Sadie«, erklärt er. »Die ist nach Kentucky gezogen, und da hat sie dann Kennys Dad geheiratet. Der ist Mexikaner.«

»Hast du was gegen Mexikaner?«, fragt Dylan. Ich tue, als ob ich unsichtbar wäre. Mit diesem Gespräch will ich nichts zu tun haben.

»Ist mir scheißegal, dass er Mexikaner ist, aber Kenny kann einen echt nerven«, sagt Gary. »Der tut, als wäre er was Besseres. Sein Dad ist reich oder so, jedenfalls hat er immer die dollsten Klamotten an.«

Dylan gluckst ein bisschen, während er ein paar Zweige aus dem Weg schiebt. Irgendwie kommt es mir so vor, als würde er genauso sehr über mich lachen wie über Kenny aus Kentucky. »Was heißt denn doll?«

Gary sagt: »Na ja, du weißt schon, der erklärt dir dauernd, wo seine Sachen her sind und wie teuer sie waren. Irgendwie tussig, der Typ.«

Tussig? Hitze steigt mir in den Kopf.

Gary macht weiter. »Und er tut immer, als ob wir die hinterletzten Landeier wären.«

»Anscheinend machen ihm seine Besuche hier auch nicht viel Spaß«, sagt Dylan.

»Stimmt, der hasst es, bei uns zu sein.« Gary kann nicht aufhören, über Kenny zu reden. »Kommt ständig damit an, dass unser Haus viel kleiner ist als ihres. Der ist einfach unverschämt. Und bloß weil wir gleich alt sind, bilden sich unsere Eltern ein, wir müssten auf Anhieb beste Freunde sein. Dabei war Kenny letztes Mal mehr bei Riley als bei uns, und das war super so. Der Werkzeugschuppen von deinem Dad, der hat’s ihm echt angetan, stimmt’s, Alter?«

Auf einmal wird mir schlecht, richtig schlecht. Meine Ohren brennen wie Feuer. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich mich fühle wie kurz vorm Herzinfarkt.

Ich drehe mich um, gucke Gary böse an und schaffe es nicht, meinen Tonfall so in den Griff zu kriegen, dass er zu einem kleinen Waldspaziergang unter Freunden passt. »Warum hältst du nicht endlich dein großes Maul, du Fettsack?«

Ich brülle fast, meine Stimme hallt laut durch den Wald. Alle bleiben stehen – sogar Tucker, der den Kopf schief legt und mir seinen Was-sollte-das-denn-Kumpel-Blick zuwirft. Gary starrt mich mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund an. Ich habe ihm noch nie gesagt, er soll den Mund halten, und das F-Wort habe ich schon gar nicht benutzt, niemals. Ich hab ihm noch nicht mal gesagt, dass er besser mehr Salat und weniger Knabberzwiebeln essen soll. Ich senke den Kopf und schaue wieder nach vorne.

Dylan steht da und sieht mich mit ewig weit hochgezogenen Augenbrauen an. »Alles okay mit dir? Du bist furchtbar rot im Gesicht.«

»Mir geht’s gut!« Das blaffe ich eher, als dass ich es sage, und mein Gesicht wird gleich noch heißer. Wie kann ich es wagen, in diesem Ton mit dem größten Superhelden von allen zu reden?

Ich betrachte meine Füße und das Laub und die Erde, sehe alles andere an als Dylans zerschlagenes Gesicht, seine geschwollene Lippe und seine Augen.

Als ich wieder hochgucke, starrt er mich immer noch an. Ich fühle mich wie ein komplettes Arschloch, dass ich ihn so angefahren habe, und frage mich, ob sich Danny wohl immer so fühlt. Oder Frank, wenn er mal wieder an einem Fall scheitert. Ich schäme mich furchtbar und bin zugleich superwütend. Beides würde ich gerne tief in mir vergraben, aber das geht irgendwie nicht. Und mich packt das überwältigende Bedürfnis, alles Gary in die Schuhe zu schieben.

»Aber der Fettsack vertreibt mit seinem Gequatsche doch die Flüsterer.« Da ist es schon wieder, das F-Wort. Was ist verdammt noch mal mit mir los? Ich bin ja wie vom Teufel besessen. Und wer weiß, vielleicht bin ich das wirklich.

Ich will Gary ansehen, schaffe es aber nicht. Als ich ihm endlich in die Augen schaue, sehe ich, dass sie ganz glasig sind, und sein Gesicht ist dunkelrot angelaufen. Er betrachtet mich lange und wirkt so verletzt, dass es kaum zum Aushalten ist.

»Diese verdammten Flüsterer gibt’s doch gar nicht«, sagt Gary mit harter Stimme. Sein Blick und seine Worte machen mich total fertig. Klar, er will mir auch wehtun, das verdiene ich ja. Aber er geht zu weit. Die Flüsterer sind meine einzige Hoffnung, Mama wiederzufinden. Gary weiß das. Wenn er sagt, dass es sie nicht gibt, sagt er damit auch, dass Mama nie mehr zurückkommen wird.

»Wir tun doch alle bloß so, damit’s dir besser geht«, sagt er.

Dylan, Carl und Tucker beobachten uns. Ich bin so wütend, dass ich nicht antworten kann.

»Keiner glaubt dir«, sagt Gary. »Nicht mal Dylan.«

Das haut mir den Atem aus der Lunge. Tränen schießen mir in die Augen, aber ich halte sie zurück. Ich spüre Dylan hinter mir, aber er bleibt still. Er sagt nicht, dass Gary ein Lügenmaul ist oder dass er die Klappe halten soll. Ohne Tucker an meiner Seite fühle ich mich vollkommen allein auf der Welt.

Abrupt dreht sich Gary um und läuft zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. »Komm, Carl. Wir gehen nach Hause.«

Carl geht ihm hinterher, ohne mich auch nur anzusehen. Tucker sitzt hechelnd da und betrachtet mich, anscheinend wartet er ab, was ich als Nächstes tun werde. Ich bringe es nicht über mich, mich umzudrehen und Dylan anzuschauen. Und mir bestätigen zu lassen, was Gary eben gesagt hat. Ein ewig langer Moment vergeht, bevor er von sich aus was sagt.

»Wir gehen vielleicht besser mit den beiden, sonst verlaufen die sich am Ende noch«, höre ich hinter mir seine Stimme. »Ich muss jetzt sowieso bald mal weiter.«

Da drehe ich mich endlich um und sehe ihm in die Augen, aber sie verraten nichts. Sie widersprechen dem, was Gary gesagt hat, nicht, aber sie bestätigen es auch nicht. Dylan sieht mich einfach nur an, mit seinem verfärbten Gesicht, der geschwollenen Oberlippe und den sieben Sommersprossen auf der Nase. Dann schiebt er sich an mir vorbei und geht Gary und Carl hinterher. Das ist sie, die Antwort, auf die ich gewartet habe. Keiner glaubt mir. Schon gar nicht mein ganz persönlicher Superheld.

Tucker macht ein paar Schritte, und eine Sekunde lang bilde ich mir ein, dass er mich auch verlässt. Aber er geht nur zu einem Baum und würgt in drei üblen Kotzschüben sein Frühstück wieder hoch.

Hinterher sieht er so aus, wie ich mich fühle.