19   Kenny aus Kentucky

Ich laufe den anderen nicht nach, sondern stehe nur da und schaue zu, wie sie im Dickicht verschwinden. Sie sehen sich auch nicht um. Anscheinend ist ihnen egal, ob ich mitkomme oder nicht. Nur einer hat mich nicht verlassen: Tucker. Nach seinem Kotzanfall sitzt er nur da und schaut mich an. Wahrscheinlich will er wissen, wie es jetzt weitergeht. Aber ich habe echt keinen Plan. Für wen hält er mich? Kommissar Chase Cooper, oder was?

Ich kann nicht mehr klar denken. Ich bin furchtbar wütend auf Gary und fühle mich zugleich furchtbar schlecht, weil ich das F-Wort gesagt habe. Zwei Mal! Aber Garys Gerede ist mir echt an die Nieren gegangen.

Mama sagt, das ist kein medizinischer Ausdruck, auch wenn es so klingt. Dabei könnte es schon einer sein. Wenn der dämlichste Arzt der Welt an jemand rumoperiert und dabei versehentlich die Nieren erwischt, ist das bestimmt ziemlich schlimm. Frank wäre jedenfalls imstande, so einen Mist zu machen, falls er mal bei der Polizei aufhört. Aber eigentlich ist was anderes gemeint. Wenn jemand was sagt, das einen furchtbar wütend macht, weil ein kleiner Teil davon wahr ist und dazu auch noch irgendwie peinlich. Und wenn es einen irgendwie fertigmacht.

Wie in Was Gary über Kenny aus Kentucky gesagt hat, ist mir an die Nieren gegangen, weil das alles stimmt und mir ganz furchtbar peinlich ist.

Papas Werkzeugschuppen hat Kenny wirklich gefallen, aber nicht wegen den Sachen, die Papa dort hat, sondern weil es da schön ruhig und abgeschieden ist, besonders tagsüber, wenn Papa arbeitet. Ich glaube, Papa mochte Kenny nicht besonders. Der Junge hat doch Zucker im Tank, hat er mal gesagt, und ich glaube nicht, dass damit der Wassermelonen-Bubblegum gemeint war, den Kenny andauernd kaut.

Wahrscheinlich hat Gary auch recht, wenn er sagt, dass Kenny irgendwie tussig ist, aber mich hat das nicht gestört. Ich fand ihn lustig und interessant – total anders als Gary, Carl und die anderen in der Schule. Mir hat auch gefallen, wie er aussieht. Der Farbton seiner Haut, ein schönes helles Braun. Seine dichten dunklen Haare, die in manierlich geformten Wellen um seinen Kopf sitzen. Seine feine Kleidung, immer frisch gebügelt und ohne Flecken. Seine großen runden Augen, die gucken, als ob er am liebsten alles aufessen will, was er sieht, besonders mich. Und seine Lippen, die so rot sind, dass sie aussehen wie mit Lippenstift angemalt. Wahrscheinlich liegt das nur an dem vielen Wassermelonen-Bubblegum. Der lässt Kenny auch so gut riechen – wie einen menschengroßen Lolli, den man unbedingt abschlecken will.

Als Kenny letzten Sommer eine Woche zu Besuch bei Gary und seiner Familie war, wollte er seine Zeit anscheinend lieber mit mir verbringen als mit seinen neuen Stiefcousins vom Land. Das fühlte sich gut an. Jemand Neuen zum Spielen zu haben war eine schöne Abwechslung – jemanden, der andere Sachen weiß als die, die man uns hier in Buckingham in der Schule beibringt. Jemanden, der Wörter in einer ganz anderen Sprache kennt. Jemanden, der nicht nur über den Busen und den Hintern von Rebecca Johnson redet. Jemanden, der keine Eichhörnchen abknallt. Und jemanden, der endlich mal zugibt, dass Kommissar Chase Cooper in Sondereinsatzkommando Chicago verdammt gut aussieht. Mir gefällt dieser Typ jedenfalls so gut, dass ich nachts manchmal von ihm träume, und dann brauche ich neue Bettwäsche, aber nicht wegen meinem Problem, sondern aus anderen Gründen.

Kenny hat immer darüber geredet, dass er Kommissar Chase Cooper später mal heiraten will. Er hat das einfach laut und offen gesagt, ohne sich darum zu kümmern, ob Gott ihn hört. Ich wusste nicht mal, dass das überhaupt geht – dass ein Typ einen Typen heiratet. Vielleicht ist das ja nur in Kentucky erlaubt. Aber Kenny kannte sich mit solchen Sachen aus. Darum ist es eigentlich komisch, dass ich so überrascht war, als mich Kenny in Papas Werkzeugschuppen geküsst hat.

Es hat geregnet, das weiß ich noch.

Ich mag das Geräusch von Regen, der auf das Blechdach von Papas Werkzeugschuppen prasselt. Das macht so viel Krach wie tausend Feuerwerkskörper auf einmal. Wenn es richtig fest regnet, lege ich mich manchmal auf den Boden vom Schuppen und lausche, sonst nichts. Aber heute liege ich nicht. Heute bin ich mit Garys neuem Stiefcousin da, Kenny aus Kentucky. Der schlimme Regen draußen ist wie ein Mantel, der uns einhüllt und uns das Gefühl gibt, ganz allein auf der Welt zu sein. Das fühlt sich kuschlig an, aber auch ein bisschen gefährlich.

Kenny steht dicht bei mir – viel, viel näher, als Gary das jemals getan hat, und das hat nichts mit Garys dickem Bauch zu tun. Er starrt die ganze Zeit in meine Augen, als wollte er irgendwas rauskriegen. Und anscheinend gelingt ihm das, denn auf einmal spuckt er seinen Kaugummi aus – einfach so auf den Boden – und legt seinen Mund auf meinen, alles innerhalb von Sekunden.

Mein anderes Problem schaltet den Superturbo ein, und ich erstarre. Ich weiß nicht, was ich machen soll, also stehe ich nur mit geschlossenen Augen da und presse die Lippen zusammen. Aber das passt Kenny nicht. Er schiebt seine Zunge in meinen Mund und fuhrwerkt darin herum, wie wenn er die Küche putzt oder so.

Ich habe noch nie irgendwen mit der Zunge geküsst. Wenn Danny mir erzählt hat, dass er das mit Mädchen macht, fand ich die Vorstellung immer eklig. Aber mit Kenny ist es kein bisschen eklig. Ein bisschen nass und schlabberig, aber seine Lippen sind wunderbar weich, und er riecht und schmeckt nach Wassermelone. Er legt die Hände auf meine Arme, die seitlich an meinem Körper kleben wie festgewachsen. Ich fasse Kenny nicht an, denn das würde mich zum Komplizen machen.

Ein Komplize ist einer, der mitmacht, wenn ein anderer was Falsches oder Illegales tut. Durch das Mitmachen ist er genauso schuldig ist wie der, der angefangen hat.

Wie in Ich werd mich auf gar keinen Fall zum Komplizen machen bei diesem Geküsse, das Kenny aus Kentucky da veranstaltet.

Aber ich tue auch nichts, damit er aufhört. Falls ich mal in den Zeugenstand muss, mit Auf-die-Bibel-Schwören und so, werde ich zugeben müssen, dass es mir gefällt. Sehr sogar. Bis zu dem Moment, als ich die Augen aufschlage und Mama in der Tür stehen sehe. Sie ist klatschnass und guckt schockiert oder vielleicht auch angeekelt. Ich weiß nicht, ob das eine oder das andere. Wahrscheinlich beides.

Danach haben sich die Tage wie Wochen in die Länge gezogen, aber irgendwann waren sie doch vorbei. Kenny ist zurück nach Kentucky gegangen, und Mama war mir gegenüber auf einmal anders. Über das, was im Schuppen passiert ist, hat sie nichts gesagt, und ich habe jeden Abend gebetet, dass das so bleibt. Ich wäre gestorben, wenn sie das getan hätte. Ich war sehr reumütig wegen dem Kuss, und ich glaube, Gott hat mir verziehen. Aber das hat nicht viel genützt – dass Mama auf einmal so komisch zu mir war, war viel schlimmer.

Schuld daran ist natürlich Kenny. Wahrscheinlich hat er schon viele Jungs geküsst, denn er wusste ja ziemlich gut, wie das geht. Es war so, wie wenn Kommissar Chase Cooper Bezirksstaatsanwältin Amanda Ramirez küsst – die sind bei jeder Gelegenheit in einer Art Abstellkammer in der Polizeistation verschwunden. Aber jetzt nicht mehr, weil Amanda Ramirez am Ende der dritten Staffel von einem Messermörder aufgeschlitzt worden ist.

Ich habe nur ein paarmal versucht, Jungs zu küssen, und da war ich noch klein und wusste es nicht besser. Es hat sich für mich ganz natürlich angefühlt, also habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Wie dieses eine Mal, als ich diese Teufelsbrut Gene geküsst habe, hinter dem Garderobenschrank in der Grundschule.

Nach dem Tag in Papas Werkzeugschuppen mit Kenny aus Kentucky ist Mama immer seltsamer geworden, als wäre sie ganz weit weg. Wir haben nicht mehr so viel zusammen gemacht, vor allem, nachdem sie diesen Job auf Zeit im Regionalkrankenhaus von Upton gekriegt hat. Die Arbeitszeiten waren ziemlich unregelmäßig. Manchmal war sie eine Woche lang jeden Tag drei oder vier Stunden dort, aber dann haben sie erst zwei, drei Wochen später wieder angerufen, dass sie kommen soll. Wenn sie von der Arbeit heimkam, war sie immer furchtbar müde und ist gleich ins Bett gegangen. Papa hat das gar nicht gefallen mit diesem Job im Krankenhaus, er hat gesagt, das wäre nur vorübergehend, bis alles besser würde. Ich glaube, er hatte zu der Zeit selbst nicht so viele Aufträge, jedenfalls war er viel mehr zu Hause als sonst.

Manchmal musste Mama auch Nachtschicht arbeiten, dann haben Danny und ich bei Oma und Opa übernachtet, weil Papa an den Tagen auch erst morgens nach Hause gekommen ist. Ich hoffe nur, er hat sich nicht in irgendwelchen Bars mit liederlichen Frauenzimmern rumgetrieben, während Mama so hart gearbeitet hat, um die Familie über Wasser zu halten. Oma und Opa haben mir schon zu der Zeit mehr Geld zugesteckt als sonst. Ich habe versucht, es Mama zu geben, damit sie nicht mehr so viel im Krankenhaus arbeiten muss. Das wollte sie aber nicht, obwohl Papa und sie sich sehr gesorgt haben wegen dem Stapel von Rechnungen auf dem Küchentisch, der immer höher wurde – sie haben immer geflüstert, wenn sie darüber gesprochen haben, aber ich habe sie doch gehört.

Mama und ich sind samstags auch nicht mehr zu Walmart gefahren. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass die Leute sehen, wie wir das Geld von der Fürsorge auf den Kopf hauen. Dabei weiß ich gar nicht, ob wir wirklich was von der Fürsorge gekriegt haben. Aber bei den vielen Sorgen, die sich Mama und Papa gemacht haben, würde mich das nicht wundern. Irgendwann wurde es so schlimm, dass sie uns in der North Creek Church of God auf die Liste mit Leuten gesetzt haben, für die an Sonntagen extra alle beten. Wir standen da monatelang drauf.

Ich glaube, die Geldsorgen waren wirklich schlimm für Mama, jedenfalls habe ich sie in dieser Zeit öfter dabei überrascht, wie sie allein im Schlafzimmer geweint hat. Wenn ich sie gefragt habe, was los ist, hat sie schnell aufgehört und mich angestrahlt. Sie hat es nicht mal mehr geschafft, mir abends das Lied vorzusingen, ohne dass ihr vor lauter Weinen die Stimme weggeblieben ist. Also hat sie irgendwann ganz aufgehört mit dem Singen. Mir ist klar, dass ihre Tränen auch ziemlich viel mit mir zu tun hatten. Mit dem, wobei sie mich beobachtet hat, mit Kenny aus Kentucky im Schuppen.

Und jetzt ist sie weg, und das ist allein meine Schuld. Seit dem Tag letzten Sommer in Papas Werkzeugschuppen, an dem Mama mein anderes Problem mitgekriegt hat, ist alles zum Teufel gegangen.

Gott straft mich. Genau wie es Schwester Grimes, das Klatschmaul, vorhergesagt hat.