An dem Tag essen wir schon früh zu Abend – nur wir drei am Küchentisch. Seit Mama verschwunden ist, benutzen wir das Esszimmer nicht mehr. Früher haben wir jeden Abend dort gegessen. Jetzt bleibt der Raum dunkel und leer, wie ein Grab oder Schrein. Ich glaube kaum, dass wir da noch mal reingehen, bevor Mama gesund nach Hause kommt und wir wieder als Familie beisammensitzen. Dann können wir essen, reden und lachen wie früher. Papa erzählt wieder blöde Witze, Mama fragt uns, wie es in der Schule war, und mein Bruder ist nicht mehr gemein zu mir. Aber jetzt ist das Esszimmer nur eine dunkle Ecke, in der die Erinnerungen an Mama einstauben.
Still sitzen wir da, keiner sagt was. Danny schlingt seinen Kartoffelbrei runter, als ob es das letzte Essen wäre, das er je im Leben kriegt, und Papa starrt auf seinen Teller, wie wenn er aus Teeblättern lesen wollte. Alle paar Minuten schiebt er ein paar Bissen mit der Gabel herum, mehr passiert nicht. Papa ist nicht immer so gewesen, erst seit Mama entführt worden ist. Ich glaube, er weiß nicht, wie er überhaupt leben soll ohne Mama, die uns alle zusammenhält. Dafür war sie zuständig, nicht er.
Bevor Mama verschwunden ist, hat Papa immer viel gelacht. Und er hat mir und Danny gern Angst eingejagt oder uns auf den Boden gedrückt und uns durchgekitzelt, bis wir uns fast in die Hosen gepinkelt haben. Mit Mama hat er das auch manchmal gemacht, sie hat dann gekreischt und gequiekt und gelacht wie eine Verrückte. Aber wenn ich jetzt zu Papa rüberschaue, sehe ich bloß die kahle Stelle oben auf seinem Kopf. Ich glaube, er erträgt unseren Anblick nicht mehr und schaut darum immer nach unten. Vor allem mich will er nicht sehen. Und ich weiß auch, warum: Weil ich mich nicht erinnere, was an dem Tag passiert ist. Und weil ich Mama so ähnlich sehe. Und weil sie und ich am gleichen Tag Geburtstag haben und irgendwie auch gleich heißen. Und dann ist da auch noch mein Problem.
Oder er gibt mir die Schuld und kann mich darum nicht mehr angucken. Vielleicht denkt er, ich hätte sie irgendwie retten können. Hätte Hilfe holen können. Die Nummer von dem vornehmen Wagen aufschreiben, der an dem Tag vor dem Haus geparkt hat. Oder die Haustür abschließen, als ich nach draußen gegangen bin. Aber Mama war ja da, also gab es keinen Grund abzuschließen, oder? Wie hätte ich wissen sollen, dass ihr was Schlimmes passiert? Sie ist einfach spurlos verschwunden – eben war sie noch im Wohnzimmer, dann war sie weg. Aus dem Grund gehen wir auch nicht mehr ins Wohnzimmer. Es kommt einem vor wie ein Tatort, den keiner betreten will, falls noch irgendwo Indizien sind, die bisher übersehen wurden, Fasern im Teppich oder so. Mich wundert sowieso, dass Frank die Tür nicht mit Polizei-Absperrband blockiert hat. Vielleicht sollte er das. Aber was weiß ich schon? Kommissar Chase Cooper wüsste genau, was zu tun ist.
Weil keiner redet oder hochguckt, blinzele ich in der Küche herum und tue so, als ob ich essen würde. Ich finde Mama in jeder Ecke und jedem Winkel. Da sind die Geschirrtücher am Griff vom Backofen, auf die in verschlungenen roten Buchstaben ein Spruch eingestickt ist: Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen. Ich war dabei, als sie die Tücher gefunden hat, bei Big Lots in Upton. Die haben ihr so gut gefallen, dass sie gleich zwei Sets gekauft hat. Aber so was kostet bei Big Lots auch nicht viel, drei Dollar vielleicht. Und die kitschige Keksdose auf dem Küchentresen, die hat sie im Heilsarmee-Laden gefunden. Da sind zwei Kinder mit riesengroßen Köpfen und Triefaugen drauf, ein Junge und ein Mädchen, die mit dem Rücken zueinander auf einem Baumstumpf sitzen.
Habt euch lieb.
Mama mag Sachen, auf denen schöne Sprüche stehen. Sie sagt: Kann schließlich nichts schaden, jedes Mal an etwas Schönes zu denken, wenn du dir einen Keks nimmst, oder?
Mama backt furchtbar gern Kekse. Sie macht welche für mich, damit ich sie meinen Lehrern in die Schule mitnehmen kann, und manchmal auch zum Verkaufen bei Mr Killen im Laden, um Geld für die Kirche zusammenzukriegen. Letztes Jahr an Weihnachten hat sie sogar eine Riesenladung für die Leute im Gefängnis bei Upton gebacken. Als Keksbäckerin ist sie super, aber als sie mal versucht hat, Brombeermarmelade zu kochen, wie in der Geschichte von den Flüsterern, hat das überhaupt nicht geklappt. Die Marmelade war so schlimm, dass wir beim Essen die ganze Zeit lachen mussten – wir haben immer nur ein winziges bisschen Marmelade auf den Toast getan, der mir außerdem auch noch angebrannt war. Ein andermal wollte mir Mama beibringen, wie man Biscuits mit Soße macht, aber ich habe mich dabei an der Hand verbrannt, also haben wir den Kochunterricht wieder bleiben lassen.
Jetzt darf ich bloß noch Fischstäbchen und Kroketten im Herd warm machen. Diese Fertig-Fischstäbchen sind eklig, trotzdem haben wir in den letzten vier Monaten ziemlich oft welche gegessen. Kroketten finde ich okay. Aber heute Abend hat Oma für uns gekocht, obwohl Papa ihr immer sagt, dass sie das nicht mehr tun muss.
Oma findet es schrecklich, dass wir so oft Fischstäbchen mit Kroketten essen. Ich frage mich, was Mama jetzt wohl isst. Ob sie überhaupt was bekommt. Was ist, wenn die Entführer ihr nicht immerhin so viel zu essen geben, dass sie überleben kann, bis die Polizei sie findet?
»Frank meint, es gibt keine neuen Spuren in dem Fall«, sage ich, weil die Stille am Tisch so schrecklich ist. Der Satz bleibt wie eine Fluse in der Luft hängen.
Papa schaut vom Teller auf und starrt mich an, als würde er sich fragen, wer ich überhaupt bin. Danny hört auf zu kauen und wirft mir einen finsteren Blick zu. Er hasst es, wenn über Mamas Fall gesprochen wird. Sogar Tucker, der unter dem Tisch liegt, ächzt angespannt und scheint zu finden, dass ich besser den Mund gehalten hätte. Dabei vermisst er Mama auch. Seit sie weg ist, ist er nicht mehr der Alte, aber der Tierarzt findet nicht raus, was ihm fehlt. Ich glaube, er ist einfach deprimiert.
»Iss endlich deine Erbsen und dann geh mit Tucker nach draußen«, sagt Papa und lässt den Kopf wieder Richtung Teller sinken.
Ich glaube, damit hat Papa in den letzten drei Tagen ganze zwei Dutzend Wörter zu mir gesagt, der Abend hat also echt viel Ausbeute gebracht. Ich esse die Erbsen einzeln und mit den Fingern. Das ärgert ihn natürlich. Wenn Mama da wäre, würde sie mir ihren typischen Blick von der Seite zuwerfen. Ist sie aber nicht. Und Papa schimpft nicht. Er schaut nicht mal hoch, sondern malt mit der Gabel Kringel in den Kartoffelbrei. Wenn Danny oder ich das täten, würde er uns anpflaumen und sagen, wir sollen nicht mit Essen spielen.
Früher hat mich Papa gerngehabt. Er ist sogar extra mit mir mitgefahren, als ich zum allerersten Mal auf einer Achterbahn war, weil er wollte, dass es dieselbe Bahn ist wie bei seiner ersten Fahrt als Kind – nämlich die Swamp-Fox-Bahn im Freizeitpark von Myrtle Beach. Das ist so ein altmodisches Ding aus Holz, das beim Hochfahren laut klackert. Die neuen Achterbahnen klackern nicht mehr, und Papa sagt, seitdem ist es nicht mehr dasselbe. Ich hatte furchtbare Angst und habe die ganze Fahrt geschrien wie am Spieß, aber das hat Papa nicht gestört. Er hat bloß gelacht wie verrückt und seine Hände die ganze Zeit hoch in die Luft gestreckt.
Als ich sechs war, haben wir Ferien in Florida gemacht, und Papa ist mit uns zu einer Krokodilfarm gefahren. Er hat mich hochgehoben, damit ich diese großen, grässlichen Kerle besser sehen kann. Dann dachte er sich, es wäre doch witzig, so zu tun, als ob er mich über den Zaun werfen wollte, als Appetithappen für die Alligatoren. Ein Riesenvieh hat uns entdeckt und ist langsam auf uns zugekrochen, aber Papa hat mich immer weiter hin und her geschwungen und so getan, als ob er mich reinwerfen will.
Eins, zwei …
Bei drei hätte ich mir in die Hosen gemacht, aber so weit ist er nicht gegangen, anscheinend wollte er mich doch nicht an die Krokodile verfüttern. Trotzdem habe ich gebrüllt wie am Spieß. Das hat Papa nichts ausgemacht, er hat bloß gelacht. Aber bis heute mag ich Alligatoren nicht mal im Fernsehen sehen. Trotzdem hat es irgendwie Spaß gemacht. Papa hat Spaß gemacht. Damit ist es vorbei.
Dannys Handy auf dem Tisch vibriert, und Papa sieht ihn streng an. Beim Essen soll er es eigentlich ausmachen. Danny schnappt sich das Ding und legt es in seinen Schoß. Wahrscheinlich irgendein Mädchen aus der Schule, das ihn anruft. Danny mag nämlich jetzt Mädchen. Igitt.
»Entschuldigung«, sagt er, ohne Papa anzusehen.
Papa guckt brummig, dann wird sein Gesicht weich. Danny schreit er nie an. Mich hätte er ausgeschimpft, aber Danny ist eben ein Papakind, so wie ich ein Mamakind bin. Ich habe sowieso noch kein Handy. Das ist in Ordnung, ich hätte nämlich keine Lust auf Anrufe von Mädchen.
Papa steht auf und geht zum Fenster bei der Spüle. Während er es aufmacht, murmelt er: »Furchtbar stickig hier drin.«
Wow. Achtundzwanzig Wörter in drei Tagen. Aber die letzten vier muss ich mir mit Danny teilen.
»Was bedeutet das, Papa?«, frage ich, obwohl mir das ziemlich klar ist. Ich will nur, dass er mich bemerkt.
»Was denn?«, grunzt er zurück.
»Stickig.«
Er schaut mich über die Schulter an, mit leerem Blick. »Das bedeutet heiß und drückend.«
Ich wage mich noch weiter vor – vielleicht schaffe ich es ja, die Stimmung aufzulockern. »Verwend es in einem Satz, Papa.«
Er kneift die Augen zusammen und sieht mich an, als ob er nicht wüsste, wie ich heiße oder warum ich überhaupt da bin. »Was?«
»Verwend das Wort stickig in einem Satz«, wiederhole ich hoffnungsvoll.
»Hab ich doch eben.« Er schaut aus dem Fenster und gibt mir mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass ich gehen soll.
Danny schlingt weiter sein Essen runter und grunzt zustimmend. Er isst wie ein Schwein und steht immer auf der Seite von Papa. Sowieso macht Danny Papa alles nach, also mag er mich jetzt auch nicht mehr. Bevor Mama verschwunden ist, hat er mit mir gespielt. Jetzt tut er, als ob ich gar nicht existiere. Er redet fast nie mit mir, sondern bleibt die ganze Zeit in seinem Zimmer hinter der geschlossenen Tür und macht wer weiß was. Oder er trifft sich mit seinen neuen Freunden aus der Highschool in Upton. Obwohl er bloß drei Jahre älter ist, behandelt er mich wie ein Baby.
Tucker spürt anscheinend, wie angespannt die Stimmung ist, jedenfalls lässt er einen langen, fiesen Furz los. Es klingt wie ein Ballon, aus dem jemand die Luft rauslässt. Danny sieht mich mit einem breiten Grinsen an, an seinen Zähnen kleben Kartoffelbrei und Soße. Normalerweise grinst mich Danny nie mehr an, und nett lächeln tut er schon gar nicht, aber Fürze findet er wahnsinnig komisch. Besonders Hundefürze. Ich kann nicht anders als zurückgrinsen, aber erst mal nur ein bisschen. Wir warten beide gespannt auf Papas Reaktion. Sie kann genauso gut in die eine wie in die andere Richtung ausfallen. Die Sekunden ticken langsam vorbei, so wie früher beim Gottesdienst in der North Creek Church of God, als wir noch in die Kirche gegangen sind.
Ich wage einen Blick auf Papa, der immer noch an der Spüle steht. Seine Schultern beben ein bisschen. Lacht er oder weint er? Schwer zu sagen. Als er uns das Gesicht zudreht, sehe ich, dass er beides tut. Er lacht leise, aber seine Augen sind feucht. Das Lachen überrascht mich, denn seit vier Monaten habe ich nicht mehr erlebt, dass er die Lippen auch nur zu einem kleinen Lächeln verzieht. Seine Reaktion bringt Leben ins Zimmer. Wir wissen jetzt endlich, dass es okay ist. Dass wir die Erlaubnis haben, mit ihm mitzulachen, und das tun wir auch. Wir lachen laut. Zum ersten Mal seit Mama nicht mehr da ist, wird gelacht in diesem Haus. Ein großartiger Klang, der in der Küche widerhallt und dann zum Fenster rausweht. Tucker kommt unter dem Tisch vor, er will diesen seltenen frohen Moment mit uns erleben. Aber nach einer Weile hört Papa auf zu lachen. Sein Lächeln verschwindet nicht ganz, aber es wird matt. Und seine Augen sind immer noch feucht.
Ein Lufthauch trägt den starken Duft von Geißblatt durchs offene Fenster und streift mein Gesicht. Mit geschlossenen Augen atme ich ihn tief ein. Fast ist es, als ob Mama hier wäre, als ob sie uns lachen gehört hätte und schnell gekommen wäre, weil sie wissen will, was wir da treiben. Mama liebt den Geruch von Geißblatt. Sie schimpft jedes Mal mit Papa, wenn er die Sträucher zurückschneidet. Das Zeug wächst wie verrückt überall ums Haus herum. Mama hat mir beigebracht, wie man die Blüten unten abknipst und den süßen Nektar aussaugt. Sie nennt das Natur-Nascherei. Jedes Mal wenn ich auch nur ein bisschen Geißblatt rieche, muss ich an sie denken und frage mich, ob ich sie wohl jemals wiedersehen werde. Jetzt kommt es mir so vor, als ob sie mich von dort, wo man sie gefangen hält, ruft und mir sagt, dass ich kommen und sie retten soll. Die Polizei ist komplett unbrauchbar, also bin ich vielleicht ihre einzige Hoffnung.
»Bring diesen Pupsköter nach draußen, Riley«, sagt Papa. Von seinem Lächeln ist nichts mehr übrig.
Wow. Er hat meinen Namen ausgesprochen. Und dabei nicht geschimpft oder wütend geklungen oder so. Er hat einfach ganz normal meinen Namen gesagt. So wie er den von Danny auch sagen würde. Ich springe vom Stuhl, mit einem zufriedenen kleinen Ruck in mir drin, vielleicht sogar mit ein bisschen Stolz, jedenfalls pocht irgendwas in mir, als ich Tucker zur Küchentür führe.
Ich werfe einen Blick über die Schulter und lächle. »Mach ich, Papa.«
Aber er sieht mich nicht. Er hat sich schon wieder zur Spüle umgedreht, kehrt uns mit zuckenden Schultern den Rücken zu. Keine Ahnung, ob er wieder lacht oder doch weint. Ich will es lieber gar nicht wissen, also schnappe ich Tucker am Halsband und laufe aus der Tür nach draußen.