Tucker liegt schlummernd an der Tür, als wir aus der Hütte kommen. Er sieht gleich, dass mit mir alles in Ordnung ist, darum versucht er nicht, Mordecai in Stücke zu reißen.
Außerdem ist er für solche Aktionen anscheinend sowieso viel zu müde. Er knurrt nur ein bisschen und beschnüffelt Mordecai vorsichtig. Was er da riecht, behagt ihm wohl gar nicht, er weicht nämlich zurück. Auf einmal wirkt er so, wie ich ihn noch überhaupt nie erlebt habe, nämlich hasenherzig.
Hasenherzig ist, wenn einer sich anstellt wie ein Hase, wenn er also keine Eier in der Hose hat oder sich so benimmt.
Wie in Tucker ist ja schon lange kastriert und hat sowieso keine Eier mehr, aber trotzdem ist er bis jetzt noch nie hasenherzig gewesen.
Doch auch ohne Eier schiebt sich Tucker jetzt zwischen Mordecai und mich, und zu dritt gehen wir Richtung Norden, weg von der Hütte und tiefer in den Wald, als ich jemals gewesen bin.
Mordecais Beine sind viel länger als meine, und Tucker hat gleich vier Rottie-Schäferhund-Beine, also muss ich mich sehr anstrengen, um mit ihnen mitzuhalten. Mein Körper erinnert mich bei jedem Schritt daran, dass ich seit eineinhalb Tagen kaum mehr geschlafen habe. Das ist ein Rekord für mich, erst recht ohne Sondereinsatzkommando-Chicago-Marathon und das Koffein im Mountain Dew, das ich dazu sonst literweise trinke. Ich spähe hoch zum Himmel. Es muss Nachmittag sein, aber ich könnte nicht sagen, ob die Mittagessenszeit eben erst vorbei ist oder ob es schon fast Zeit fürs Abendbrot wird. Meinem Magen ist das egal, Hauptsache Essen. Ich wäre schon froh, wenn ich hier irgendwo eine Tüte extrascharfe Knabberzwiebeln fände. Was ziemlich unwahrscheinlich ist, aber ohne Hoffnung geht es ja nicht.
Mordecai summt beim Laufen vor sich hin. Dass Hobgoblins singen können, hätte ich nie gedacht. Kurz überlege ich, ob das alles nur Verstellung ist. Vielleicht tut er ja bloß so harmlos, mit seinem Gesumme und überhaupt, damit er mich leichter tief in den Wald locken kann, um dann wer weiß was zu tun, statt mich zu den Flüsterern zu führen. Er könnte mich, ohne dass ich es mitkriege, zu einer großen Hobgoblin-Versammlung bringen. Hoffentlich findet Tucker seine Eier wieder, falls irgendwas in der Art passiert. Aber eigentlich hatte ich schon das Gefühl, dass Mordecai die Wahrheit gesagt hat, als er meinte, er hätte nie jemandem was getan. Auch wenn er dabei geschrien und die Faust auf den Tisch geknallt hat. Und Mama hat ihm auch geglaubt, zumindest behauptet er das. Sicher weiß ich es nicht. Um am Leben zu bleiben, kann ich nichts anderes tun, als wachsam zu sein und die Strategie von Kommissar Chase Cooper anzuwenden, das mit der menschlichen Komponente.
»Was summen Sie da?«, frage ich unschuldig und süß wie ein kleines Kind.
»Billy Joel«, grunzt er über die Schulter zurück.
Zufällig weiß ich, dass Billy Joel nicht der Name von einem Lied ist, sondern der von einem Sänger. Mama liebt nämlich die Musik von Billy Joel. Sie sagt, früher hat Papa ihr andauernd »Just the Way You Are« vorgesungen, das war ihr Lied als Paar. Ich frage Mordecai nicht, was genau von Billy Joel er summt, sondern versuche es anders.
»Tut mir leid, dass ich dachte, Sie hätten Mama was getan und Peetie.« Ich spreche ein bisschen lauter, damit mich Mordecai hört, obwohl das trockene Laub unter unseren Schuhsohlen beim Drauftreten so viel Krach macht.
Er reagiert nicht, sondern summt bloß vor sich hin und läuft weiter, als ob ich nicht da wäre.
»Gestern Nacht haben Sie uns furchtbar erschreckt«, sage ich, diesmal noch ein bisschen lauter.
Mordecai wirft mir über die Schulter weg einen Blick zu, antwortet aber nicht. Er geht einfach weiter und hört auch nicht auf zu summen.
»Warum haben Sie das gemacht?«, frage ich, aber ganz freundlich. Als ob wir zwei ganz normale Typen wären, die an einem schönen Nachmittag durch den Wald spazieren und ein bisschen quatschen. Und nicht ein Hobgoblin und sein Opfer, das durch Bewegung noch ein bisschen zarter gemacht werden soll, damit es nachher besser schmeckt.
»Ich wollte, dass ihr heimgeht oder wenigstens bis zum Waldrand«, grunzt er über die Schulter zurück. »Ist hier nachts nicht sicher. Gibt Luchse und Koyoten und so.«
Ich warte einen Augenblick, bevor ich die nächste Frage stelle.
»Waren Sie das neulich abends am Waldrand? Haben Sie mich beobachtet?«
Er dreht sich nicht zu mir um, aber er nickt. Also war er das Schattenmonster. Warum er das gemacht hat, frage ich nicht. Ich will ihm glauben. Ich will glauben, dass er nur auf einen dummen kleinen Jungen aufpassen wollte, der drauf und dran war, sich im Dunkeln zu weit in den Wald vorzuwagen.
Tucker trottet nach links, schnüffelt und hockt sich zum Kacken hin. Als Mordecai das sieht, bleibt er stehen, wohl damit ich mich ausruhen kann, während Tucker sein Geschäft erledigt. Er wischt sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn, holt eine Flasche Wasser aus seinem Stoffbeutel und stürzt alles auf einmal runter, ohne mir was anzubieten. Das kommt mir unhöflich vor, aber dann zieht er noch eine Wasserflasche raus und wirft sie mir zu. Sie knallt gegen meine Brust und fällt auf den Boden, bevor mein Hirn kapiert, dass ich sie auffangen soll. Ich bin in Sport nicht besonders gut. Das ist Dannys Ding. Ich hebe die Flasche auf und nicke ihm vor dem Trinken kurz zu, um Danke zu sagen.
»Wann hast du sie das letzte Mal gesehn, deine Mama?«, fragt er.
Ich fahre mir mit dem Handrücken über den Mund. »Vor ungefähr vier Monaten, im Wohnzimmer. Sie hat sich da ausgeruht, auf dem Sofa. Dann ist sie verschwunden.«
Er sieht mich an und nickt ein bisschen. Tucker kommt wieder angetrottet, er hechelt ganz schlimm. Als er mein Wasser sieht, leckt er sich die Lefzen. Mordecai kommt zu mir, geht in die Knie und formt seine Hände zu einer Schüssel. Das ist wirklich nett von ihm. Ich schütte Wasser rein und Tucker schlürft gleich gierig.
»Weißt du sonst noch was über den Tag?«, fragt Mordecai.
Ich zucke mit den Achseln und schütte den letzten Rest Wasser in seine Hände. »Nicht viel. Ich hab draußen gespielt, mit Gary und Carl. Und da waren zwei verdächtige Typen, die haben in einem schicken weißen Wagen in der Auffahrt bei unserem Haus gestanden. Das ist es so ziemlich.«
Nachdem Tucker alles ausgetrunken hat, tut er etwas, das an Verrat grenzt. Er leckt Mordecais Kopf ab, nur ein bisschen und nur an der Seite, aber trotzdem. Und Mordecai krault Tucker den Rücken. Ich glaube, er lächelt ihn sogar an. Wegen dem buschigen Bart kann ich das nicht genau sagen, aber es ist für alle Leute schwer, nicht zu lächeln, wenn sie Tucker zusehen – anscheinend sogar für einen wohl zu Unrecht verdächtigten Hobgoblin.
»Zwei Typen in ’nem schicken weißen Wagen, aha«, murmelt er und schaut dabei immer weiter Tucker an. »Sonst noch wer?«
Ich habe noch nie darüber nachgedacht, wer sonst an dem Tag noch im Haus war. Aber jetzt, wo mein Hirn halb wach ist und halb schläft, fällt mir doch was ein.
»Schwester Grimes«, sage ich. Diese Erinnerung überrascht mich. »In der Küche war Schwester Grimes.« Heilige Scheiße. Das muss ich unbedingt Frank erzählen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.
Mordecai legt den Kopf schief. »Schwester Grimes?«
»Das ist so ein Klatschmaul aus der North Creek Church of God«, sage ich und sehe ihm direkt in die Augen, die jetzt gar nicht mehr starr und angsteinflößend wirken.
»Becky Grimes?«
Ich nicke. »Sie hat Mama gedroht, bei diesem Kirchenfest ein paar Monate vorher.«
»Gedroht?« Mordecai guckt schnell wieder von mir weg zu Tucker und krault ihn am Kopf. Das wirkt irgendwie zwielichtig. »Was hat sie denn gesagt?«
Wahrscheinlich sollte ich besser behaupten, dass ich mich nicht erinnern kann, sonst bezichtige ich mich womöglich noch selbst.
Eine Selbstbezichtigung ist, wenn man aus Versehen etwas Dummes sagt, das einen mit einem Verbrechen in Verbindung bringt, und dann hat man verloren.
Aber ich weiß es jetzt wieder. Als wäre es erst gestern passiert. Ich höre in meinem Kopf, wie sie es sagt – genau die Worte, die sie benutzt hat, als ich mit Lily, der Tochter vom Prediger, beim Kirchenfest Verstecken gespielt habe. Schwester Grimes hatte keine Ahnung, dass ich unter dem Tisch mit den Nachspeisen war. Sie hat es einfach so dahingesagt, zu der Frau vom Prediger.
»Das wird Carolyn umbringen, wenn sie begreift, dass ihr Junge komisch ist.«
Ich wusste genau, dass sie über mich redet. Sie hat mich schon immer mit hochgezogenen Augenbrauen angeschaut, wenn ich bei Kirchenfesten lieber mit Lily gespielt habe statt mit den anderen Jungs, aber Lilys Puppensammlung hat mich eben mehr interessiert als irgendwelche Ballspiele. Und garantiert hat Gene seiner Mutter alles über den verrückten Serienküsser in der Grundschule von Buckingham erzählt, da bin ich sicher.
»Ich weiß nicht«, lüge ich und gebe ihm die leere Wasserflasche zurück. »Ich kann mich nicht mehr erinnern. Sollten wir nicht weiter? Ist doch schon ziemlich spät, oder?«
Mordecai kneift seine haarigen Augen zusammen, als ob er wüsste, dass ich lüge, aber er fragt nicht weiter. Er richtet sich auf, sieht kurz zum Himmel hoch und deutet dann vor sich. »Da lang. Ist nicht mehr weit.«
Er führt Tucker und mich noch eine Weile weiter und summt dabei wieder irgendwas von Billy Joel. Die Melodie kommt mir vertraut vor. Mama kannte alle Billy-Joel-Lieder und hat sie oft gesungen. Garantiert wüsste ich, welches es ist, wenn er richtig mit Text singen würde, aber ich werde den Teufel tun und ihn bitten. Wir laufen und laufen und laufen. Fünfzehn Minuten vielleicht oder auch fünfzig. Verdammt, ich habe keine Ahnung. Wir müssen schnell machen. Wahrscheinlich ist das meine letzte Chance, die Flüsterer zu finden und Mama zu retten. Wie es aussieht, geht die Sonne schon bald unter.
Wir laufen weiter. Und weiter. Meine Beine tun weh und mein Magen knurrt. Tucker schleppt sich immer langsamer neben mir her. Endlich hat Mordecai Erbarmen mit uns und bleibt stehen.
»Weiter kann ich dich nicht bringen.« Er greift in seinen Stoffbeutel, holt noch eine Flasche Wasser raus und gibt sie mir.
Ich schaue hoch in sein haariges Gesicht. »Warum? Haben Sie etwa Angst vor den Flüsterern?«
Er schnaubt auf eine Art, die wie ein Kichern klingt. »Deine Flüsterer, die schrecken mich nicht. Aber der Biberdamm ist nah beim Waldrand. Ist besser, wenn ich ein Stück wegbleibe von der Welt da draußen. Die wollen mich nicht hier im Wald, und mal ehrlich, so wie die sich gegenseitig behandeln, will ich die auch nicht.« Er zeigt jetzt mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, die er meint. »Geh immer weiter da lang. Ist nicht weit zum Biberdamm. Und geh danach immer weiter in die Richtung, dann findest du nach Hause.« Er senkt den Kopf und starrt den Boden an oder vielleicht auch Tucker. Genau kann ich das nicht erkennen. »Ich bleib hier hinten, aber ich behalt dich im Auge, bis du raus bist aus dem Wald. Soll dir ja nichts passieren.«
Mit großen Augen schaue ich ihn an und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich denke an die traurige, heruntergekommene Hütte, in der er ganz alleine lebt. Und daran, wie die Leute seit Jahren über ihn reden, an die grässlichen Sachen, die sie ihm vorwerfen. Mir fällt wieder ein, wie er mir in die Augen geguckt und gesagt hat, er hätte nie irgendwem was getan, und dass ich es ihm geglaubt habe. Und wie er Mama gekannt hat und sie die Einzige war, die nett zu ihm gewesen ist. Aber ich glaube, das kümmert Mordecai alles nicht mehr. Jetzt ist ihm nur eins wichtig: Er will mir helfen, Mama zu finden. Er will einem kleinen Jungen helfen, der sich im Wald verlaufen hat – er tut also genau das Gegenteil von dem, was alle Welt denkt, das er täte. Das Gegenteil von dem, was ein Hobgoblin täte.
»Wenn Sie Dylan noch mal sehen, sagen Sie ihm, dass ich okay bin, ja?«, bitte ich ihn, weil mir sonst nichts einfällt.
Er wirft einen Blick auf mich, und sein Bart verzieht sich zu einem einzigen Grinsen. »Und dass ich dich nicht gefressen hab, was?«
Ich lächle ihn an. »Genau. Danke dafür.«
Sonst gibt es nichts mehr zu sagen, also nicke ich kurz, lächle noch mal und stoße Tucker an, damit er sich Richtung Biberdamm in Bewegung setzt. Ich schaue nicht zurück, bis Mordecai laut meinen Namen ruft. Da bleibe ich stehen und sehe mich zu ihm um. »Bestimmt vermisst dich deine Mama genauso sehr wie du sie. Geh und find sie.«
Auf einmal wird meine Kehle eng, meine Augen jucken und ich bringe kein Wort mehr heraus. Wobei ich auch nicht wüsste, was ich sagen könnte. Außerdem habe ich riesigen Hunger und bin so müde, dass ich auf der Stelle zusammensinken und losheulen könnte. Mama sagt, manchmal ist man so müde und erschöpft, dass man einfach eine Runde weinen und alles Schlimme rausspülen muss. Aber dafür habe ich keine Zeit, also winke ich Mordecai zum Abschied nur und marschiere mit Tucker zusammen los, um die Flüsterer zu finden. Die Flüsterer und Mama.