Später an diesem Tag stehen wir alle zusammen still unter der alten Eiche hinterm Haus – ich, Papa, Opa, Oma und Danny. Als ich am Morgen nach Hause gekommen bin, war ich dermaßen müde, dass ich gleich nach dem Duschen ins Bett gesunken bin und fast den gesamten Tag verschlafen habe. Reingepinkelt habe ich nicht. Anscheinend bin ich geheilt von meinem Problem. Papa hat mich irgendwann geweckt, er meinte, es wäre jetzt Zeit. Ich habe die Mutter von Gary angerufen und ihn und Carl eingeladen, aber die beiden sind nicht gekommen. Meine Freundschaft mit Gary habe ich wohl komplett ruiniert.
Die Beerdigungen von Hunden sind wahrscheinlich meistens schlecht besucht. Jedenfalls ist das hier nichts im Vergleich zu der Beerdigung von Mama in der North Creek Church of God. Die Kirche war brechend voll an dem Tag, mit Menschen und mit Blumen. Jeder Platz war besetzt, sogar hinten und seitlich neben den Bänken standen Leute. Alle waren da, kommt mir vor, nicht nur aus Buckingham, sondern auch aus Upton, um sich von ihr zu verabschieden. Gary und Carl kamen mit ihren Eltern. Mr und Mrs Killen waren auch da. Und die gesamte Kirchengemeinde, wirklich jeder war da, wie am Ostersonntag. Ich habe auch ein paar von meinen Lehrern entdeckt und Miss Betty. Auch Mamas Freundinnen vom Schönheitswettbewerb waren da und die Bekannte, die Sandy heißt und die wir bei Walmart getroffen haben, sogar ein paar von den Krankenschwestern aus dem Krebszentrum in Upton. Auch arme Familien, denen Mama mal geholfen hat, und Angehörige von Gefangenen, mit denen sie sich bei ihren Besuchen angefreundet hat. Sogar Dylan Mathews und sein Vater sind gekommen, sie standen ganz hinten in der Kirche, still wie Statuen.
Ich habe vorher noch nie so viele Blumen auf einem Fleck gesehen, lauter bunte Gestecke, die den Altar fast verdeckt haben. Rosen vor allem, rote Rosen. Alle wussten, wie gern Mama rote Rosen mag. Der Kirchenchor hat »It Is Well with My Soul« gesungen, Mamas Lieblingslied. Dann hat der Prediger über Mamas christliche Tugenden und ihre Mildtätigkeit gegenüber den Notleidenden und Eingekerkerten gesprochen und auch über ihre außergewöhnliche Schönheit, äußerlich wie innerlich. Außerdem sagte er, Jesus allein wüsste, warum er sie in solch jungen Jahren zu sich in den Himmel gerufen hätte. Sie hätte noch so viel Leben vor sich gehabt, und jetzt stünden zwei Kinder ohne Mutter und ein junger Mann ohne die Liebe seines Lebens da. Aber anscheinend war das für ihn doch irgendwie normal. Nach dem Warum zu fragen, steht uns nicht zu, hat er gesagt, für uns gilt es, auf Gott zu vertrauen. Dabei fand ich es schon immer blöd, wenn man keine Warum-Fragen stellen soll. Warum ist mein liebstes Fragewort überhaupt. Vielleicht hört Gott darum meine Gebete nicht. Weil ich ihm andauernd Warum-Fragen stelle.
Ich habe in der allerersten Reihe gesessen, ganz nah beim Sarg, das weiß ich noch, zwischen Papa und Oma. Ihr Kummer war so schlimm, dass ich kaum Luft bekommen habe. Oma hat die ganze Zeit laut geschluchzt und meine Hand so fest gedrückt, dass ich fast Angst hatte, sie könnte abbrechen. Papa war ganz still und zurückgezogen, er hat leise in seine Hände geweint und am ganzen Körper gezittert. Es war schrecklich. Und noch schrecklicher war es später auf dem Friedhof hinter der Kirche. Als der Sarg runter in die Erde gelassen wurde, hat Oma so laut geheult und geschrien wie ein sterbendes Tier. Ich habe an dem Tag nicht geweint, für meine Tränen war kein Platz. Stattdessen habe ich immer zwischen Oma und Papa hin- und hergeschaut und mit der linken Hand Mamas Ring umklammert, den ich tief in der Tasche meiner Anzugjacke versteckt hatte. Es war zu spät, um ihn zurück in den Sarg zu legen, das war mir klar, und ich konnte auch keinem erzählen, dass ich ihn mir am Tag vorher genommen hatte, während der Totenwache bei uns zu Hause. So war das nämlich in Wirklichkeit. Und da haben sich mein Herz und mein Hirn wohl zusammengetan und beschlossen, dass ich das Weinen, Heulen, Schreien nicht mehr aushalte, und mir eine andere Geschichte erzählt. Eine Geschichte mit Hoffnung. Sie wollten mir bestimmt nicht schaden, mein Herz und mein Hirn. Sie haben nur auf mich aufgepasst, also verzeihe ich ihnen.
Papa wirft die letzte Schaufel Erde auf Tuckers Grab und klopft sie behutsam fest. Wir sind alle still, und ich frage mich, ob nicht jemand etwas sagen sollte. Oder ein Lied singen. Wenn Mama da wäre, würde sie das tun, aber keiner von uns anderen kann so gut singen wie sie. Außerdem weiß ich keine Kirchenlieder für Hunde. Dabei muss es welche geben, schließlich sagen die Leute doch immer, dass alle Hunde in den Himmel kommen. Ich glaube, Hunde sind automatisch Christen, vom Tag ihrer Geburt an, bis sie sterben, also haben sie ein garantiertes Himmelfahrts-Ticket. Ohne blöde Regeln wie die, die sie uns in der North Creek Church of God eintrichtern, weil nämlich Hunde keine Sünden begehen können. Sie können überhaupt nur eins: andere lieb haben. Sie vergeben und vergessen schnell, sind einem nie lange böse, und wenn sie müde sind, legen sie sich hin und schlafen. Wir sollten alle mehr wie Hunde sein. Ich weiß, dass ich nie so großartig sein werde wie Tucker, aber ich will versuchen, seinem Vorbild nachzueifern. Vielleicht lege ich mich bei Mrs Turner im Unterricht auch mal auf den Boden und schlafe eine Runde, wenn ich müde werde. Allerdings macht sie mich dann bestimmt fertig, auf ihre toughe Cassandra-Bailey-Art.
Opa hat den Arm um Oma gelegt. Die beiden lächeln, mit Tränen in den Augen. Danny lässt den Kopf hängen, ich kann nicht erkennen, ob er weint oder nicht. Und ich? Ich habe keine Tränen mehr. Ich bin leer geweint. Ich fühle mich bloß irgendwie taub, genau wie bei Mamas Beerdigung vor vier Monaten.
Papa guckt traurig, aber als er mit dem Schaufeln fertig ist, stellt er sich neben mich und legt mir seinen Arm um die Schultern. Als Dylan mich am Morgen nach Hause gebracht hat, war er so froh, mich zu sehen, dass er fast weinen musste. Er hat auch nicht geschimpft, weil ich ihn angelogen und gesagt habe, ich würde bei Gary übernachten. Sondern mich nur in den Arm genommen und ganz fest gedrückt, genau wie früher, bevor Mama gestorben ist. Das war sonderbar und schön, und vertraut war es auch, alles zugleich.
Jetzt sieht er mich an, sein Blick ist so sanft wie seit sehr langer Zeit nicht mehr. »Möchtest du vielleicht etwas sagen, mein Junge?«
Mein Junge. So hat er mich schon ewig nicht mehr genannt.
Ich trete vor und stelle mich an Tuckers Grab. Papa hat ein Holzkreuz für ihn gemacht und seinen Namen reingeschnitzt. Wir haben ihn neben Kann-nicht und Wenn-doch-nur begraben, was ziemlich gut passt, ich glaube nämlich, selbst wenn Tucker Menschensprache gekonnt hätte, hätte er die beiden Ausdrücke nie benützt. Er konnte alles und brauchte keine Ausreden.
Ich mache den Mund auf, um zu sprechen, klappe ihn aber wieder zu, als ich zwei vertraute Gestalten ums Haus kommen sehe. Sie nähern sich langsam, richtig respektvoll irgendwie, und stellen sich neben Danny. Gary nickt mir zu, und Carl senkt den Kopf wie beim Beten. Ich lächle Gary ein bisschen an, aber ganz vorsichtig, weil ich ihn nicht verschrecken will, bevor ich nicht Gelegenheit hatte, mich bei ihm zu entschuldigen. Ich nicke zurück und danke ihm im Stillen dafür, dass er gekommen ist.
Dann räuspere ich mich und fange noch mal an. »Genau wie Mama hat mir Tucker eine Menge beigebracht. Er hat sich nie wegen Sachen gesorgt, die gestern waren oder morgen sein werden, sondern immer das Beste gemacht aus dem, was jetzt ist, und hatte nie Angst, sich voll da reinzustürzen. Er hat immer das Gute in Leuten gesehen, egal was die anderen geredet haben.« Ich schaue Gary an. »Er hat seine Freunde nie enttäuscht und war nie gemein zu ihnen. Er hat alle lieb gehabt, ohne Vorbehalt, genau wie Mama. Ich will lernen, mehr wie Tucker zu sein. Und wie Mama.«
Ich trete zurück. Ich weiß, meine Rede war ein bisschen kurz und Tucker hätte was Besseres verdient, aber ich habe es so gut gemacht, wie ich kann. Ich denke mal, das weiß er. Gary lächelt mich ein bisschen an. Danny nimmt eine Handvoll Erde und wirft sie aufs Grab. Jetzt sehe ich seine Augen. Sie sind feucht, und er schnieft auch ein bisschen. Gary und Carl machen es wie Danny, sie nehmen ein bisschen Erde in die Hand und werfen sie aufs Grab. Das mache ich auch.
Opa spricht ein Abschlussgebet, muss es aber früher zu Ende bringen, weil seine Stimme zittrig wird. Ich bin immer noch nicht sicher, ob Gott zuhört, obwohl ich es gerne glauben würde. Ich möchte mir gern vorstellen, dass er gut aufpasst auf Mama und Tucker da oben im Himmel. Dass er ihnen zeigt, wo alles ist, ihnen eine kleine Einführung gibt und keinen Wutanfall kriegt, falls Tucker mal auf die Straßen aus Gold kackt. Tucker hasst es, wenn ihm so was passiert.
Nach dem Amen drückt Papa meine Schulter, dann läuft er zum Schuppen und bringt die Schaufel weg. Ich gehe rüber zu Gary.
»Hey«, sage ich. Wie lahm.
»Yo«, antwortet Gary.
»Danke fürs Kommen«, sage ich. Noch viel lahmer.
Er nickt nur und sieht nach unten. Carl starrt mich finster an. Anscheinend hat es ihm genauso wenig gefallen wie mir, dass ich seinen großen Bruder mies behandelt habe.
»Hör mal, Kumpel«, sage ich. »Was ich da im Wald gesagt habe, tut mir sehr, sehr leid, wirklich furchtbar leid.«
Gary sieht mich an. »Mir auch.«
Ich lächle ihn an. »Und danke.«
»Für was?« Er verzieht das Gesicht.
»Dass du mir geholfen hast, sie zu finden.«
Gary zuckt mit den Achseln. »Ich hab doch gar nichts gemacht.«
»Ich weiß, dass du das mit den Flüsterern nicht geglaubt hast und dass wir Mama finden können, schon gar nicht«, sage ich. »Aber du hast trotzdem mitgespielt. Wegen mir. Danke dafür.«
Gary starrt mich eine Weile an und tut dann etwas, womit ich nicht rechne. Er zieht mich an sich und umarmt mich. So richtig fest. Das ist komisch und schön zugleich.
»Schon okay, Alter«, sagt er und grinst so breit, wie nur Gary grinsen kann. »Wir sehen uns im Bus.«
Ich bringe Gary und Carl bis zu dem geschotterten Fahrweg vor unserem Haus, und die beiden machen sich auf den Heimweg. Ein alter Pick-up kommt angerumpelt, er wirbelt Staub und Dreck auf. Eine Hand im Fenster winkt Gary und Carl im Vorbeifahren zu. Sie winken zurück. Als der Pick-up auf meiner Höhe ist, bleibt er stehen. Es ist ein altmodischer blauer Ford, mit seltsamen Rundungen und solchen Dingern an der Seite, auf denen man stehen kann. Hinter dem Steuer sitzt Dylan, in einem schlichten weißen T-Shirt und mit der Peterbilt-Kappe auf dem Kopf. Er wirkt wieder total erwachsen. Ich weiß genau, dass er frühestens in einem Jahr legal mit einem Lernführerschein fahren darf, er ist nämlich im gleichen Alter wie Danny. Aber die Regeln aus der Stadt kümmern keinen, solange er nur hier draußen in der Pampa rumkurvt.
Ich gehe zu dem Wagen, und er lächelt mich durch das offene Fenster an, während er den rumpelnden Motor abstellt. Der hustet und keucht erst noch ein bisschen, dann geht er aus.
»Hey«, sage ich. Lahm, Teil 2.
»Hey, Riley«, sagt er.
Sein Gesicht sieht inzwischen besser aus, aber man erkennt immer noch, dass er was abgekriegt hat. Ich frage mich, ob das, was sein Vater getan hat, jemals verheilt oder ob es für immer ein Teil von Dylan bleiben wird.
»Alles okay mit dir?«
Ich nicke ganz schnell, keine Ahnung, warum.
»Cool«, sagt er.
Dylan Mathews hat gesagt, er findet mich cool. So in etwa jedenfalls.
»Eben haben wir Tucker beerdigt«, sage ich so locker wie in einem Gespräch übers Wetter. »Oma hat seinen Lieblingskuchen gemacht. Angel Food Cake. Willst du welchen?«
Ich halte die Luft an. Hoffentlich denkt er nicht, dass das ein Date sein soll oder so. Dylan ist zu alt für mich, das weiß ich. Und wahrscheinlich küsst er auch lieber Mädchen als Jungs. Das verstehe ich zwar nicht, aber ich habe ja auch noch nie ein Mädchen geküsst. Wie kann ich das also beurteilen?
Dylan legt die Hand aufs Lenkrad und guckt erst geradeaus, dann wirft er einen Blick in den Rückspiegel und sieht wieder mich an.
»Geht nicht«, sagt er. »Ich muss los.«
Anscheinend sieht er mir an, wie enttäuscht ich bin.
»Aber danke«, ergänzt er mit einem Lächeln. »Ist auch mein Lieblingskuchen.«
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und spähe in die Fahrerkabine wie ein neugieriges Klatschmaul. Auf dem Beifahrersitz liegt Dylans Rucksack. Und eine große Reisetasche.
»Wo willst du hin?«
Dylan guckt wieder durch die Windschutzscheibe nach vorne. »Nicht weit weg, ich wohn nur mal ein Weilchen bei meiner Tante.«
Jetzt sieht er wieder mich an. Das kommt mir so vor, als ob er gewusst hätte, dass mir das nicht gefallen wird, und als hätte er mich nicht anschauen wollen in dem Moment, in dem er es mir sagt.
»Ich bin dann nicht mehr im Bus«, sagt er. »Aber in der Schule sehen wir uns trotzdem.«
Das ist eine riesige Erleichterung, und ich entspanne mich wieder. Da höre ich, wie irgendwo hinter mir laut mein Name gerufen wird. Als ich mich umdrehe, sehe ich meinen Bruder neben dem Haus stehen.
»Oma sagt, du sollst reinkommen, der Kuchen steht auf dem Tisch«, brüllt er. Er hat echt keine Manieren.
Dylan winkt Danny, und Danny winkt zurück. Wahrscheinlich kennen sie sich aus einem anderen Leben – als die beiden noch in eine Klasse gegangen sind und Danny noch nicht so ein grässlicher Highschool-Typ war.
»Lass dir den Kuchen schmecken und iss für mich mit«, sagt Dylan wieder mal ganz erwachsen, bevor er den Motor anlässt. »Und sag Tucker auf Wiedersehen von mir.«
Bevor er losfährt, reicht er mir noch einen Zettel durchs Fenster. Verwirrt nehme ich ihn. Dabei bin ich mir sicher, dass das kein Liebesbrief sein kann oder so.
Ich werfe einen Blick auf den Zettel und lese schnell das lange Wort, das Dylan aufgeschrieben hat.
»Schlag’s nach«, sagt er grinsend. Dann winkt er noch mal kurz und fährt langsam weiter.
Ich winke zurück und schaue ihm hinterher, bis der Pick-up am Ende der Schotterstraße nach rechts abbiegt und bald nicht mehr zu sehen ist. Als ich mich umdrehe und merke, wie Danny auf mich zugelaufen kommt, schäme ich mich ein bisschen, dass ich Dylan so lange hinterhergeschaut habe. Schnell stopfe ich den Zettel in meine Hosentasche.
»Jetzt mach schon«, sagt er in seinem genervten Danny-Tonfall. »Alle warten auf dich, und ich will jetzt endlich Kuchen.«
Schnaubend gehe ich an ihm vorbei. Mir passt nicht, dass er in mein Treffen mit Dylan geplatzt ist.
»He, warte.« Er fasst mich an der Schulter.
Ich bleibe stehen und drehe mich ihm zu. »Was denn?« Das kommt raus wie eine ganz normale Frage. Ich kann eben nicht so gut schnauzen wie Danny. Er ist wohl ein Naturtalent.
Er zieht etwas aus der hinteren Tasche seiner Jeans. »Ich wollte dir das hier geben.«
»Hä?« Das ist auch wieder lahm, aber aus Dannys Mund ergibt der Satz einfach keinen Sinn.
Er hält mir etwas hin und ich nehme es. Als ich draufschaue, fangen meine Augen wieder an zu kribbeln. Vielleicht sind doch noch Tränen übrig, vielleicht gibt es noch ein bisschen Seele zum Rausweinen. Es ist ein Foto von Mama auf dem Rücksitz von einem weißen Mustang-Cabrio mit offenem Verdeck, aufgenommen beim Weihnachtsumzug, an dem sie als Siegerin beim Mrs-Upton-Schönheitswettbewerb natürlich dabei war. Ich starre das Bild an, betrachte das strahlende Lächeln, mit dem sie Richtung Gehweg schaut und mir winkt. Sie sieht wie eine echte Königin aus.
»Das Bild hat dir doch schon immer gefallen, stimmt’s?«, sagt Danny und späht über meine Schulter.
Ich drehe mich zu ihm, mit einem Gefühlsmix, von dem mir ganz schwindlig wird. Dass er so einfühlsam sein kann, ist wie ein Schock. Und ich bin ihm so unglaublich dankbar, dass ich schon fast Angst bekomme, wohin das führen wird.
»Ich hab mitgekriegt, dass du sie gefunden hast«, sagt er. »Die Fotoalben. Ich wollte sie mir nicht unter den Nagel reißen. Ich hab nur … keine Ahnung. Du hast sie doch immer gehabt. Ich glaube, ich wollte sie einfach mal ein bisschen für mich.«
Ich starre ihn an, als wüsste ich nicht, wer er ist. Mir ist klar, dass ich jetzt etwas sagen sollte wie Wow, Danny. Vielen, vielen Dank. Du bist der beste Bruder auf der Welt.
Aber schon bei der Vorstellung kommt es mir hoch. Also frage ich stattdessen: »Wie hast du gemerkt, dass ich die Alben gefunden habe?«
Er verdreht die Augen. »Du hast sie nicht richtig zurückgelegt. Ich weiß auch, dass du ihren Ring hast. Ich hab ihn neulich in deiner Schublade gefunden. Mir war klar, dass du da irgendwas versteckst, und ich war stinksauer, weil du in meinem Zimmer rumgeschnüffelt hast.«
Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich kapiere, was er da sagt, aber dann kommt es in meinem Hirn an. »Du warst das«, sage ich. Und nicht die Flüsterer. Aber den Teil behalte ich für mich.
Er macht eine Kopfbewegung, um zu sagen, dass wir endlich reingehen sollen. »Keine Sorge, ich hab Papa nichts von dem Ring erzählt.«
Ich laufe mit ihm los, schaue dabei aber immer das Foto an, statt auf den Weg zu achten, und komme darum dauernd ins Stolpern. Danny geht ein paar Schritte vor mir, so wie er das schon mein ganzes Leben lang getan hat.
»Du kannst sie dir immer angucken, wenn du willst«, sagt er. »Nur klopf erst an und schleich dich nicht rein, wenn ich weg bin.«
Ich starre seinen Hinterkopf an, und für diesen einen Moment verschlägt es mir komplett die Sprache.
Vielleicht ist Danny doch nicht der schlimmste Bruder in der Geschichte der Brüder.