26   Allüren

Ein paar Tage später sitze ich wieder bei Frank auf der Couch, die immer noch nach Erdnussflips müffelt. Hoffentlich ist das mein letzter Besuch. Frank tippt die ganze Zeit auf seinem iPad rum, und ich betrachte das dreieckige Namensschild auf seinem Schreibtisch, der immer noch chaotisch und unprofessionell aussieht.

Dr. Frank Harvey

Frank hat also doch keine Allüren, wie sich herausstellt, jedenfalls nicht die, alle drei Namen zu benutzen – der dritte Name war nämlich gar keiner. Wobei Oma vielleicht sagen würde, dass jemand, der seinen Doktortitel gleich auf zwei Schilder schreibt, eins an der Tür und eins auf dem Tisch, eben doch Allüren hat.

Ich werfe einen Blick auf die eingerahmten Urkunden, die an der Wand hinter ihm hängen. Sie stammen von der Universität von South Carolina, und auf beiden steht in großen, geschwungenen Buchstaben das Wort Kinderpsychologie. Die eine beweist, dass er an der Uni war, die andere, dass er wirklich seinen Doktor gemacht hat.

»Sehr interessant«, sagt Frank nach einer Weile und hält den Zettel hoch, den Dylan mir vorm Wegfahren in die Hand gedrückt hat. Darauf steht in Superhelden-Handschrift: Blaue-Geister-Glühwürmchen. »Wie es aussieht, hat dein Freund Dylan vollkommen recht.«

Mein Freund Dylan. Das klingt wirklich gut.

Frank dreht das iPad zu mir, damit ich reinschauen kann. Er hat einen Artikel über die Glühwürmchen gefunden. Es sind auch Bilder dabei, die diese Wesen in Nahaufnahme zeigen, wie sie leuchten in ihrem schönen Feenblau.

»Ich wusste nicht, dass es so viele verschiedene Arten von Glühwürmchen gibt.« Frank dreht das iPad wieder zu sich. »Die hier leuchten blau und lange am Stück, statt weiß oder grün zu blinken wie normale Glühwürmchen.«

Ich lege den Kopf schief und sehe ihn an. »Die sind aber nicht unnormal. Bloß anders.«

»Natürlich.« Frank schiebt das iPad weg und lässt die Hände auf seinen dicken Bauch sinken. »Also, lass uns alles noch ein letztes Mal durchgehen, Riley.«

Ich schaffe es, nicht die Augen zu verdrehen, aber die Vorstellung, es zu tun, ist fast genauso gut.

»Mama war krank«, sage ich. »Sie ist an Krebs gestorben, genau wie Tucker.«

Mit einem Nicken fordert Frank mich zum Weiterreden auf.

Ich seufze ein bisschen, aber nicht schlimm respektlos. »Zur Totenwache ist sie aufgebahrt worden, bei uns zu Hause im Wohnzimmer. Das schöne Sofa haben sie extra rausgeräumt und stattdessen den Sarg hingestellt. Die zwei Männer, die draußen in dem großen weißen Wagen gewartet haben, waren vom Bestattungsinstitut.«

»Und wo warst du während der Aufbahrung, Riley?«

Ich fummle an meinen Schuhbändeln und rutsche auf der Couch herum. »Draußen, zum Spielen mit Gary und Carl.«

Frank legt den Kopf schief. »Anscheinend ist dir da irgendwas unangenehm, Riley. Was denn?«

In diesem Moment kann ich Frank überhaupt nicht leiden. Aber je schneller ich das hier durchziehe, desto eher komme ich raus.

»Ich hätte drinnen bei Mama sein sollen, nicht draußen zum Spielen. Aber da waren so viele Leute im Haus. Die meisten haben laut geredet und gelacht, und es gab alles Mögliche zu essen, wie bei einer Party. Ich musste da raus. Ich glaube, Papa, Danny, Oma und Opa waren die Einzigen, denen es wirklich was ausgemacht hat, dass Mama weg ist. Außerdem war Schwester Grimes da.«

»Und die war dir unangenehm.«

»Sie hat gesagt, Mama würde sterben wegen mir.«

Mit einem tiefen Seufzer beugt sich Frank vor, die Ellbogen auf den Knien. Er lächelt, aber diesmal sieht das nicht so angesteckt aus wie bei Mr Potato Head. Es wirkt beinahe … echt.

»Mrs Grimes hat gedankenlos etwas Schreckliches gesagt, und es ist schlimm, dass du das zufällig mit angehört hast. Aber sie ist nicht daran schuld, dass deine Mutter Krebs bekommen hat, und du bist es auch nicht. Manchmal passieren guten Menschen schlimme Dinge. Okay?«

Ich nicke. Frank ist gar nicht übel. Aber er sollte sich wirklich darauf beschränken, mit verrückten Kindern zu reden, und nie in die Strafverfolgung wechseln.

»Irgendwann bist du zurück ins Haus gegangen«, sagt er.

Ich nicke wieder. »Ich wollte Mama ein letztes Mal anschauen.«

»Und wie hat sie für dich ausgesehen, Riley?«

Darüber muss ich erst nachdenken. »Eigentlich fast wie sonst, aber irgendwie auch nicht. Friedlich, fand ich. Ich wollte sie anfassen und sehen, ob sie wirklich tot ist und nicht einfach nur schläft.«

»Und was hast du da gemacht?«

Ich starre Frank eine Minute lang an, weil ich mich immer noch schuldig fühle.

»Ich hab die Decke von ihrer Hand weggeschoben und sie angefasst.« Mir ist klar, was Frank als Nächstes fragen wird, also mache ich alleine weiter und erzähle es ihm. »Ihre Haut war ganz kalt. Irgendwie hart und wie Wachs. Mir hat nicht gefallen, wie sie sich anfühlt. Aber dann habe ich ihren Ehering gesehen.«

Ich warte ein bisschen, vielleicht lässt mich Frank ja ein Stück überspringen. Das tut er aber nicht, er will den ganzen Kuchen.

»Mama hat mich oft mit ihrem Ehering spielen lassen, einfach zum Spaß. Da dachte ich, es wäre doch schön, irgendwas von ihr zu haben, und dass es ihr bestimmt nichts ausmachen würde. Bei der Beerdigung hat der Prediger gesagt, dass Mama schon nicht mehr in ihrem Körper gewesen ist. Und ich dachte, es kriegt sowieso niemand mit.«

»Kannst du dich erinnern, wie du den Ring genommen hast?«

Ich nicke. »Die meisten Leute waren draußen in den anderen Zimmern und auf der Veranda. Ein paar auch im Wohnzimmer, aber die haben mich nicht groß beachtet, sondern mit Papa und Danny geredet. Also hab ich ihr den Ring vom Finger gestreift, ihn in die Hosentasche gesteckt und die Decke wieder über ihre Hand gezogen. Keiner hat mich gesehen.«

Frank nickt und strahlt mich an, als ob ich gerade Erster in einem Buchstabierwettbewerb geworden wäre. Ich könnte bei so was bestimmt auch gewinnen, ich kenne schließlich eine Menge Wörter, dafür hat Mama gesorgt.

»Das ist gut, Riley«, sagt er. »Sehr gut. Was ist dann passiert?«

»Ich bin wieder raus zu Gary und Carl. Ein bisschen später sind die Männer vom Beerdigungsinstitut gekommen und haben Mamas Sarg zur Vordertür rausgerollt, und dann haben sie ihn in diese große weiße Limousine – «

Frank zieht eine Augenbraue hoch.

» – in den Leichenwagen geschoben.«

Ein Leichenwagen ist ein großes weißes Fahrzeug für tote Leute. Manchmal sind die Dinger aber auch schwarz.

Wie in Ich wette, die Fahrer von Leichenwagen kriegen nie Trinkgeld von ihren Fahrgästen.

Frank grinst mich an. Ich weiß nicht, ob er stolz ist, weil ich mich richtig an alles erinnere oder weil er sich einbildet, er hätte mich höchstpersönlich geheilt.

»Und jetzt noch das Letzte, Riley«, sagt er. »Was ist mit den Flüsterern?«

»Was soll mit ihnen sein?«, frage ich.

Frank lehnt sich in seinen Stuhl zurück. »Können wir uns darauf einigen, dass du eine stark ausgeprägte Fantasie hast? Das ist wohlgemerkt nicht Schlechtes. Aber glaubst du immer noch, dass du ihre Stimmen gehört hast?«

Ich schüttle den Kopf und sage: »Nein, das ist nur so eine Geschichte, die mir Mama immer erzählt hat.« Und es stimmt ja, ich dachte wirklich, die Blaue-Geister-Glühwürmchen wären Flüsterer. Aber dass ich die Stimmen nicht gehört habe, werde ich niemals glauben. Irgendwas habe ich jedenfalls gehört. Vielleicht Mama, die mich ruft. Vielleicht wollte sie mich zu ihrem Grab führen, damit ich mich wieder an alles erinnere und es mir besser geht und auch damit Papa und Danny langsam wieder besser mit dem Leben zurechtkommen. Klar ist nur, dass ich ganz sicher etwas gehört habe. Aber das muss Frank nicht wissen. Niemand muss das wissen.

»So ähnlich wie die Geschichte, die du dir selbst erzählt hast«, sagt Frank. »In deiner Geschichte war deine Mutter noch am Leben, und es hat eine Chance gegeben, dass sie wieder nach Hause kommt. Was du erlebt hast, nennt man eine traumatische Trauerreaktion. Du und deine Mutter, ihr wart euch extrem nah. Ihr Tod trifft dich darum besonders schwer.«

Ich denke nach über das, was er gesagt hat. »Ist das auch der Grund, wieso ich ins Bett gemacht habe?«

Frank nickt. »Das ist anzunehmen, ja.«

»Und jetzt bin ich geheilt?«, frage ich, obwohl ich mich vorher gar nicht krank gefühlt habe.

Frank lacht und schüttelt den Kopf. »Es ist nie darum gegangen, dass du geheilt werden musst, Riley. Du musstest nur einen Weg zurück in die Realität finden und akzeptieren, was passiert ist, statt dich in einer alternativen Geschichte einzurichten. Verstehst du, was das bedeutet?«

Ich nicke. Und das tue ich jetzt wirklich. Mein Hirn und mein Herz haben sich in den letzten Monaten wahnsinnig ins Zeug gelegt, um mich zu beschützen.

»Gut.« Frank wirft einen Blick auf die Wanduhr. »Damit ist unsere Zeit für heute vorbei.«

Ich kann gar nicht schnell genug von seiner Erdnussflip-Couch aufspringen und bin schon fast an der Tür, als mich Frank noch mal zurückruft. Ich bleibe stehen und schaue über die Schulter zurück.

»Ein- oder zweimal werden wir uns noch treffen«, sagt er. »Nur zur Sicherheit. Aber ich bin überzeugt, dass alles restlos in Ordnung kommt mit dir.«

Statt die Augen zu verdrehen, lächle ich ihn an und mache, dass ich wegkomme.

Außer Papa wartet draußen niemand mehr. Als ich komme, steht er auf. Er sieht wahnsinnig erschöpft aus. Daran bin bestimmt ich schuld. Er hat sich furchtbare Sorgen gemacht, als Dylan ihm gesagt hat, dass ich alleine draußen im Wald rumstolpere, da bin ich sicher. Aber er sieht nicht wütend aus. Er lächelt sogar ein bisschen. Ich laufe auf ihn zu, und er geht vor mir in die Knie, genau wie Dylan an Mamas Grab.

Fragend hebt er die Augenbrauen. »Wie ist es gewesen?«

»Ich habe Frank alles erzählt«, sage ich. »So wie es in Wirklichkeit passiert ist.«

Ich dachte nicht, dass ich weinen würde, aber dann erwischt es mich doch. Ein paar Tränen laufen mir aus den Augenwinkeln, vielleicht auch, weil ich so viel Angst habe vor dem, was ich gleich tun werde. Ich stecke die Hand in meine rechte Hosentasche und ziehe den Plastikbeutel mit Mamas Ehering raus. Papa starrt ihn mit leerem Blick an, sein Lächeln verschwindet.

»Tut mir leid, Papa«, sage ich. »Ich hab ihn mir am Tag von der Totenwache genommen. Ich wollte nur – «

Er legt seine Hand auf meine mit dem Beutel darin und bremst mich mit einem ernsten Blick. Ich weiß nicht, ob er wütend ist oder traurig oder ob er mich vielleicht gleich zur richtigen Polizei bringt.

»Ich wusste, dass du ihn genommen hast«, sagt er.

Ich brauche einen Augenblick, bis mein Hirn kapiert, was meine Ohren gehört haben, aber als es bei mir ankommt, falle ich beinahe in Ohnmacht.

Ein Hauch von einem Lächeln kehrt zurück in sein Gesicht. »Ich hab’s gesehen.«

Ich starre ihn an und weiß nicht, was ich sagen soll. Papa hat die ganze Zeit gewusst, dass ich den Ring habe. »Und du bist nicht wütend?«

Sein Blick wird weich. »Zuerst schon. Ich war sogar sehr wütend. Aber das lag nur an meiner eigenen Trauer. Dann ist mir ziemlich schnell klar geworden, dass deine Mama gewollt hätte, dass du ihn hast. Und nachdem du jetzt schon so lange gut auf ihn aufpasst, kannst du das ja vielleicht auch weiter für mich tun?«

Es ist, als ob das Gewicht der ganzen Welt von meinen Schultern genommen worden wäre. Ich strahle ihn an und stopfe den Plastikbeutel zurück in meine Hosentasche, um Papa zu zeigen, dass der Ring bei mir wirklich sicher ist.

»Tut mir leid, dass ich euch alle so traurig gemacht habe mit meinem Verrücktsein.«

Papas Lachen klingt wie ein Husten, und er senkt den Kopf. »Nenn dich doch nicht verrückt, mein Junge.«

»Wie würdest du das denn nennen?«

Als er mich wieder ansieht, stehen Tränen in seinen Augen. »Einmalig. Besonders. Außergewöhnlich.«

Er zieht mich an sich und drückt mich so fest, dass ich kaum noch Luft kriege. »Ich habe solche Angst um dich gehabt.«

Ich schlinge die Arme um ihn und lege den Kopf auf seine Schulter, vergrabe mein Gesicht in der Kuhle an seinem Hals, genau wie ich es bei Tucker gemacht habe an Mamas Grab. Nur dass Papa eindeutig besser riecht.

Da stehen wir in Dr. Franks spärlich eingerichtetem Wartezimmer und halten uns ganz lange fest. Aber irgendwann lässt mich Papa dann doch los und sieht mich an.

»Du weißt schon, dass diese Wörter Synonyme sind«, sage ich.

Papa guckt verwirrt.

»Einmalig. Besonders. Außergewöhnlich. Die bedeuten alle so ziemlich das Gleiche.«

»Ach so, stimmt«, sagt er mit einem breiten Grinsen. Er guckt so froh wie der Papa von früher. »Gibt’s eigentlich auch Kalender für solche Synonyme

Wir kichern ein bisschen, und er knufft mich in die Seite.

»Du kannst mir bestimmt mit meinem Wortschatz helfen«, meint er. Dann sieht er mich lange schweigend an, und nach einer Weile sagt er: »Ich darf dich nie wieder verlieren. Ich kann das nicht aushalten.«

Ich will nicht, dass ihm wieder die Tränen kommen, also gucke ich streng und sage: »Es gibt kein Können und Nicht-Können, nur Wollen und Nicht-Wollen!«

Da muss er lachen. Er richtet sich wieder auf und fährt mit den Fingern durch seine dichten gewellten Haare.

»Es tut mir so leid, mein Junge. Ich hätte mehr Geduld mit dir haben sollen.« Er legt mir die Hand auf den Kopf, genau wie ich das immer bei Tucker gemacht habe. »Ich war nicht so für dich und Danny da, wie ihr das gebraucht hättet.« Dann zieht er mich gleich noch mal an seine Brust und umarmt mich, auch diesmal ganz fest, beugt sich zu mir runter und flüstert in mein Ohr: »Und es gibt nichts, was du vor mir verstecken musst. Du bist großartig, so wie du bist.«

Kurz bin ich in Panik und habe Angst, die ganze Pisse, die in den letzten Nächten nicht in meinem Bett gelandet ist, schießt auf einmal aus mir raus wie das Wasser aus den kaputten Feuerhydranten in Sondereinsatzkommando Chicago. Mama muss ihm von Kenny aus Kentucky erzählt haben. Natürlich hat sie das. Die beiden haben sich immer alles erzählt. Papa weiß also von meinem anderen Problem. Aber das macht nichts. Er hat mich trotzdem lieb.

Mit der Hand auf meiner Schulter führt Papa mich zur Tür. »Und wie steht’s mit dem Abendessen? Fischstäbchen und Kroketten? Oder willst du lieber Omas Brathähnchen?«

Ich verdrehe die Augen, aber nicht respektlos. Er kennt die Antwort doch sowieso. Omas Brathähnchen ist nämlich der Hammer, das weiß jeder hier in der Gegend.

Papa grinst. »Na gut, also Fischstäbchen.«

»Papa«, wimmere ich.

Er lacht. »Ich mach doch bloß Spaß, Button.«

Da grinse ich auch, so doll, dass es sich anfühlt, als ob es mir gleich das Gesicht zerreißt. Zum ersten Mal überhaupt hat Papa mich Button genannt.