Später am Abend stehe ich in der Dämmerung hinterm Haus und mustere den Maisfeld-Chor. Die Sonne geht gerade unter, der Geruch von Geißblatt weht heran, die Sänger wiegen ihre schlaksigen Pflanzenleiber und warten auf ihren Einsatz. Um uns herum werden die Instrumente der Natursinfonie gestimmt, damit alles für den großen Auftritt bereit ist.
Ich schaue zum Waldrand und muss lächeln. Klar, jetzt erwarte ich nicht mehr, die Flüsterer zu hören, aber ich werde auf jeden Fall weiter auf jedes Flüstern im Wind lauschen. Ob Mama jetzt im Wind ist oder eins höher im Himmel bei Jesus und Tucker – ich weiß, dass sie auf mich schaut und mit ihrem Lächeln immer bei mir ist. Und Papa, Danny, Oma, Opa und sogar mir – uns wird es gut gehen. Mama hat sich ihr Leben lang um Leute gekümmert, da gibt es keinen Grund zu glauben, dass sie jetzt damit aufhört.
Es ist Zeit für die große Vorstellung. Ich habe den wichtigsten Solo-Part, also drehe ich mich zum Haus um. Die leere Verandaschaukel schwingt leise im Abendwind hin und her, genau wie beim letzten Mal, als ich mit Mama dort gesessen habe, an einem Abend wie diesem. Ich weiß es noch so genau, als ob es erst gestern passiert wäre.
»Lass uns reden über das im Schuppen«, sagt Mama.
Ich erstarre. Sogar mein Atem friert ein. Nie hätte ich gedacht, dass Mama darüber sprechen will. Ich will es nicht, das weiß ich sicher.
Nervös schaue ich sie an. »Kannst du mir das verzeihen?«
Sie wird ganz grau, und auf einmal stehen Tränen in ihren Augen.
»Mein Schatz«, sagt sie kopfschüttelnd. »Da gibt’s nichts zu verzeihen. Ich war bloß überrascht.«
Jetzt kann ich wieder ein bisschen besser atmen. »Und hast du mich trotzdem noch lieb?«
Sie seufzt und lockert ihre Schultern. »Button, weißt du, was das Wort vorbehaltlos bedeutet?«
Das weiß ich schon irgendwie, aber ich höre ihre Erklärungen so gern, also schüttle ich den Kopf, als ob ich keine Ahnung hätte. Mama kneift die Augen gegen die untergehende Sonne zusammen. Sie hat keine Haare mehr und versucht auch gar nicht, das zu verbergen. Ihr kahler Kopf ist ein Ehrenzeichen, sagt sie. Ich finde, sie sieht wie eine Schönheitskönigin aus, ob mit oder ohne Haare.
»Es bedeutet, dass es keine Regeln oder Grenzen gibt und auch keine Erwartungen, egal was ist.« Sie lächelt mich an. »Verstehst du?«
Ich nicke. »Verwend es in einem Satz, Mama.«
»Das geht leicht.« Sie nimmt mich in den Arm und zieht mich zu sich. »Meine Liebe für dich ist vorbehaltlos, Button.«
»Egal was ist?«, frage ich.
»Egal was ist.« Sie lächelt immer noch und nickt. Ein Mal nur, wie ein Punkt. Ende der Geschichte.
Mir wird ganz warm innendrin. Dann beginnt sie das Lied zu summen – das Schlaflied, das sie mir jeden Abend vorgesungen hat, wenn die Geschichte von den Flüsterern zu Ende war.
Die Erinnerung ist wie ein Auftakt für mein Solo, also räuspere ich mich, trete einen Schritt vor und singe die erste Strophe – so laut ich kann, damit sie mich hört, egal wo sie sein mag.
Schlaf gut, mein Schatz, der Abend ist da,
lass ruhig alles ziehn, was dich plagt.
Tränen kribbeln in meinen Augen und alles verschwimmt.
Wenn du wach wirst, bin ich hier bei dir,
wieg dich sanft in die Traumwelt zurück.
Denk du an mich, so hoch in den Sternen,
selbst wenn du in fernste Fernen entschwebst.
Ein Schluchzen schüttelt mich und stiehlt mir die Stimme. Auf einmal bezweifle ich, ob ich das überhaupt schaffe. Doch dann weht mir ein kräftiger Wind ins Gesicht und nimmt mich in die Arme, als ob Mama da wäre. Ich schließe die Augen und sauge den süßen Geißblattduft ein. Sie steht jetzt neben mir, genau wie früher, als wir zusammen den Maisfeld-Chor dirigiert haben. Ihre Haare sind wieder lang und lockig, ihr Gesicht hat eine rosige Farbe. Sie ist so jung und schön wie an dem Tag vom Weihnachtsumzug vor vielen Jahren. Dass sie da ist, gibt mir Kraft und ich finde meine Stimme wieder.
Was du mir bedeutest, das wirst du, so hoff ich, verstehn.
Die Sinfonie der Natur stimmt mit ein, genau an der richtigen Stelle. Mama und ich, wir drehen uns um und schauen die Maisfeld-Sänger an. Dann heben wir die Hände und geben ihnen den Einsatz für die nächste Strophe. Der Wind macht, dass sich die Chorsänger im Takt hin und her wiegen. Ihre Stimmen klingen großartig, besonders meine Tenöre und Bässe.
Schlaf gut, mein Schatz, die Zeit ist da,
im Mondlicht zu segeln auf magischem Meer.
Und falls Wellen wild wüten um dich her –
wenn du wach wirst, bist du sicher bei mir.
Ich gebe Mama den Einsatz für ihr Solo in der letzten Strophe, und als Begleitmusik schwillt die Sinfonie der Natur an. Ich stehe da und lausche, wie ihr Gesang in den dämmrigen Himmel steigt. Das klingt wie ein Flüstern von tausend Stimmen im Wind.
Und jetzt, mein Schatz, ist der Abschied da,
doch ich versprech dir, du bist nicht allein.
Ob durch Regen und Wind oder stürmische Nacht –
meine Stimme ist da und bringt dich nach Haus.
Dann ebbt das warme Geißblattwehen ab, streift ein letztes Mal meine Wangen und kitzelt mich in der Nase.
Schlaf gut, Button.
Ich kann nicht sicher sein, ob ich wirklich Mamas Stimme höre. Vielleicht denken sich mein Hirn und mein Herz auch nur wieder was aus. Aber ohne Hoffnung geht es nicht, oder?
Also flüstere ich zurück: »Schlaf gut, Mama.«