7   Mein ganz persönlicher Superheld

In der Pause stehe ich da und starre über den staubigen Schulhof, die Hände tief in den Hosentaschen. Von den vielen trampelnden Schülerfüßen ist der Rasen komplett ruiniert, und die Schulbehörde findet es unnötig, für die armen Schüler vom Land extra Büsche anzupflanzen. In den Pausen stehen die immer gleichen Grüppchen auf den immer gleichen Grasbüscheln. Manche schlendern aber auch so lässig herum wie die New Yorker im Central Park.

Wir Sechstklässler sind ein unorganisierter Haufen, wir wandern mal hierher, mal dorthin und gehören nirgends dazu. Anders als die aus den höheren Klassen haben wir uns noch nicht nach Hautfarben aufgeteilt – aber da werden Gary und ich auch später auf keinen Fall mitmachen. Unsere Klassenstufe ist auf der Schwelle: Irgendwie passt es nicht mehr, in der Pause rumzurennen und zu spielen wie in der Grundschule, aber bloß dastehen und reden, wie es an der Middle School anscheinend üblich ist, kommt uns auch komisch vor. Die Siebt- und Achtklässler können das perfekt. Mich erinnert das an etwas, das ich aus dem Fernsehen kenne: Im Gefängnishof musst du lernen, wo dein Platz ist – du musst wissen, mit welchen Leuten du am besten abhängst, wem du lieber aus dem Weg gehst und wem du auf gar keinen Fall in die Augen gucken darfst.

Ich entdecke Gary an der Wand von einem Pavillon. Sein Bauch steht weit vor, so als ob er auf die Art unseren persönlichen Treffpunkt vor Eindringlingen schützen will. Ich gehe zu ihm, und weil ich nicht weiß, wie ich in einem normalen Pausenhofgespräch so ganz nebenbei auf magische Wesen zu sprechen kommen soll, springe ich ohne Vorrede ins kalte Wasser.

»Hast du schon mal von den Flüsterern gehört?«

Er reißt den Blick von Rebecca Johnson los, die mit ein paar Freundinnen auf der andern Seite vom Schulhof steht, und legt den Kopf schief. »Von was?«

»Den Flüsterern«, antworte ich. »Kennst du die Geschichte?«

Gary schüttelt den Kopf. »Sorry, Alter, ich hab null Ahnung, was du da redest. Und was haben die Flüsterdinger mit dem Campen am Wochenende zu tun? Ich kann Hotdogs und Brötchen mitbringen. Du kaufst Knabberzeug und Getränke. Ich versuch, Carl loszuwerden, aber du kennst ja meine Mutter.«

Gary wird mich für verrückt halten. Das tun sowieso schon alle. Und wer weiß, vielleicht haben sie recht.

»Da gibt’s so eine Geschichte. Meine Mama hat sie mir immer erzählt«, sage ich.

Als ich Mama erwähne, lässt Gary den Kopf sinken. Das tun hier in der Schule fast alle, wenn die Rede auf sie kommt oder wenn ich von den Ermittlungen erzähle. Angefangen hat das ziemlich bald nach der Entführung mit einer Präsentation in Sozialkunde bei Miss Diaz. Da habe ich über Mamas Fall gesprochen, über die Fortschritte bei der Suche nach ihr, oder besser gesagt darüber, dass es keine Fortschritte gibt. Die ganze Klasse hat mich staunend angesehen. Die haben mir aus der Hand gefressen – man hätte hören können, wie eine Stecknadel fällt. Miss Diaz war so beeindruckt, dass sie extra Papa angerufen und es ihm erzählt hat. Der fand das allerdings überhaupt nicht toll. Frank auch nicht.

Wahrscheinlich habe ich irgendeine Polizeiregel gebrochen, dass man nicht öffentlich über einen Fall sprechen darf oder so. Frank hat jedenfalls später gesagt, ich soll meine Theorien über das, was mit Mama passiert ist, besser nur mit ihm und meiner Familie besprechen. Er meinte, alles andere könnte den Fortschritt gefährden. Das wirkte sehr förmlich und behördenmäßig. Als würde sich Frank wirklich reinhängen, um Mama zu finden, und als hätte ich beinahe alles verpfuscht. Aber ein echtes polizeiliches Redeverbot war es wohl nicht. Ich bezweifle, dass Frank überhaupt so viel zu bestimmen hat. Außerdem bin ich der wichtigste Zeuge, also kann ich sagen, was ich will, auch wenn Frank das nicht passt. Wahrscheinlich hält das die Polizei sogar auf Trab.

Ich erzähle Gary die Flüsterer-Geschichte in komprimierter Form.

Komprimiert bedeutet, dass du bei einer Geschichte Sachen weglässt, weil sich dein bester Freund nicht so gut konzentrieren kann und Geschichten von normaler Länge deshalb schwierig für ihn sind.

Als das Wort in meinem Kalender aufgetaucht ist, das muss im März gewesen sein, und Mama wollte, dass ich es in einem Satz verwende, habe ich gesagt: »Omas Lieblingsspruch ist Komm bring mir meine Pillen.« Und zwar so schnell und nuschelig, dass es klang wie Komprimier-meine-Pillen. Ich fand den Witz ziemlich gut und Mama hat laut losgelacht.

So wie Gary das Gesicht verzieht, kann ich erkennen, dass er mir nicht richtig zuhört. Kein Wunder, ich kann längst nicht so gut erzählen wie Mama.

»Warte mal, dann sind die also wie magische Vögel oder fliegende Feen oder so was in der Art?«, fragt er, als ich fertig bin.

»Ich weiß nicht genau, was sie sind«, gebe ich zu. »Aber ich glaube, sie können mir helfen, meine Mama zu finden.«

Gary guckt mich schräg an und senkt wieder den Kopf. »Wie lang ist das jetzt her? Vier Monate? Und du denkst immer noch, sie kommt zurück, Alter?«

Bevor ich antworten kann, erscheint das abscheulichste menschliche Wesen in der Geschichte abscheulicher menschlicher Wesen, einfach so aus dem Nichts wie durch Zauberei. Anders kann man das nicht beschreiben, wenn plötzlich der Voldemort dieser Schule vor einem auftaucht. Anscheinend haben sich Gene Grimes und seine mutierten Kraftprotz-Freunde – die andern zwei heißen Chad Wells und Jack Toomey – hinter dem Pavillon rumgetrieben. Damit sie rauchen können, nehme ich an. Und uns belauschen.

»Was redest du da für Zeug? Deine Mami finden, was für ein Mist.« Gene klingt höhnisch, wie die meisten Siebtklässler, wenn sie mit uns Sechstklässlern reden. »Und was war das mit den Vögeln oder Feen?«

Gene, Chad und Jack kichern wie gestört und boxen sich zum Spaß gegenseitig auf die Arme. Schwachköpfe! Danny würde gut zu denen passen. Gary verdreht die Augen, sagt aber nichts. Gene ist fast einen halben Meter größer als wir beide und macht Kraftsport, das wissen hier in der Schule alle. Seine Arme haben einen richtigen Bizeps, und den führt er andauernd vor. Sogar an gar nicht besonders heißen Tagen wie heute rollt er die Ärmel von seinem Polohemd bis zu den Schultern hoch. Bei Chad und Jack sieht man auch den Bizeps oder jedenfalls etwas, was in die Richtung geht. Angeblich trinken die drei jeden Tag nach der Schule Bier und rauchen Zigaretten, also landen sie sowieso mal in der Hölle, da können sie dann bis in alle Ewigkeit trainieren. Zumindest behauptet das der Prediger in der North Creek Church of God – dass alle in die Hölle kommen, die trinken und Unzucht treiben. Wenn sie nicht reumütig sind, ist die Hölle ihr sicheres Schicksal.

Reumütig sein bedeutet, dass du dich superschlecht fühlst wegen etwas, das du getan hast, und Jesus hoch und heilig versprichst, so was nie mehr wieder zu machen, obwohl du weißt, dass du es wahrscheinlich doch wieder tun wirst.

So wie in Reumütig sein passt nicht zu Gene Grimes, also gleich ab in die Hölle mit ihm.

»Deine Mami ist weg, du Stinkzwerg«, sagt Gene und rotzt vor mir auf den Boden. »Und mit Feen treiben’s nur schwule Vögel.«

Er pikt mir mit dem Zeigefinger in die Brust, damit ich es auch ja kapiere. Natürlich weiß ich, was er meint, und werde sofort rot. Es geht wieder um mein anderes Problem, heute schon zum zweiten Mal. Vielleicht hat mir ja heute Morgen beim Aussteigen aus dem Bus einer ein Schild an den Rücken gepinnt.

»Die Polizei sucht sie immer noch«, erkläre ich leise.

Gene flucht und kommt so nah an mein Gesicht, dass mir sein ekliger Atem in die Nase steigt. Ja, er hat eindeutig geraucht. »Warum erzählst du der Kripo dann nicht einfach, wo sie ist, du kleiner Spinner?«

Ich kriege kaum noch Luft und presse die Zähne so fest zusammen, dass sie fast abbrechen. Ich weiß nicht, ob vor Wut oder weil ich so geschockt bin, wahrscheinlich beides. Schon klar, Frank verdächtigt mich irgendwie, das merkt man gleich. Und Papa wohl auch. Aber die Leute in der Schule – glauben die etwa auch, dass ich was mit Mamas Verschwinden zu tun habe?

Gene labert weiter, sagt lauter wilde und abgedrehte Sachen, was mit Mama sein könnte und warum ich schuld bin. Er benimmt sich wie Kommissar Chase Cooper persönlich, aber ich höre ihm nicht zu. Stattdessen aktiviere ich meinen Charlie-Brown-Übersetzer.

… wah waah wah wah, waah wah waah …

Gene hört nicht auf zu schwafeln. Mir fallen nur zwei Sachen ein, mit denen ich ihn stoppen könnte: wenn ich ihm eine reinhaue oder auf ihn draufkotze. Ich habe mich noch nie im Leben geprügelt, also braucht sich Gene in der Hinsicht keine Sorgen zu machen. Aber gekotzt habe ich schon oft, da bin ich sozusagen Profi. Ich schaue Gary an, ob der nicht was tun kann, aber er steht bloß rum, mal wieder mit gesenktem Kopf. Anscheinend hofft er, dass nur ich Genes Irrsinn abkriege. Vielen Dank auch, Kumpel.

»Lass ihn in Ruhe.« Auf einmal ist da eine Stimme hinter Gene – laut, klar und tief. Sie klingt kein bisschen wie der Lehrer bei Charlie Brown, eher wie Jesus oder Superman.

Ich spähe über Genes Schulter und bin auf einen Schlag voll Hoffnung und wahnsinnig erleichtert. Dazu flattert es auch noch in meinem Bauch – aber nicht wie kurz vorm Kotzen. Gene macht einen Schritt zurück, dreht sich um und erblickt Dylan Mathews. Die beiden sind ungefähr gleich groß, aber anders als Gene hat sich Dylan seine Muskeln ehrlich verdient – er schuftet auf der Farm seiner Familie und kümmert sich um das Maisfeld hinter unserm Haus. Er trägt eine rote Peterbilt-Kappe, ausgeblichene Jeans mit zerschlissenen Knien und ein blaues T-Shirt mit dem Captain-America-Schild. Nicht unbedingt Superman, aber kernig und robust – mein ganz persönlicher Superheld. Ich werde knallrot, weil sich mein anderes Problem immer gleich meldet, wenn Dylan in der Nähe ist.

Gene feuert einen bösen Blick auf Dylan ab, aber das ist auch schon alles. Dylan ist in der Achten. In der Nahrungskette an unserer Schule steht er ganz oben. Gene kennt seinen Platz. Und mit Dylan Mathews legt sich keiner an. Zu geheimnisvoll und unberechenbar. Er wurde mal ein Schuljahr zurückgestuft, also ist er älter als alle anderen. Anscheinend hat er nicht mal Freunde, jedenfalls ist er immer allein.

Gene sieht mich an, sammelt Schleim im Mund und spuckt mir vor die Füße. »Du bist echt krank im Kopf, Kleiner.«

Gene und seine Kraftprotz-Mutanten machen sich davon und lassen mich und meinen feigen Freund mit Superheld Dylan Mathews stehen.

»Danke«, stottere ich. Meine Stimme klingt viel höher als sonst, ein bisschen wie die von Lois Lane oder so.

Ich räuspere mich. Dylan sagt nichts. Er steht bloß da und sieht mich an, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht verstehe. Ob er das Zeug glaubt, das Gene über mich verbreitet? Vielleicht erzählt der ja allen irgendwelchen Mist, seit ich in der Grundschule hinter der Garderobe versucht habe, ihn zu küssen – da war ich in der ersten Klasse und er in der zweiten. Ich habe gehofft, Gene hätte das vergessen, aber anscheinend erinnert er sich doch.

»Um was ging’s denn da?«, fragt Dylan irgendwann leise. Er steckt die Hände in die Hosentaschen und schiebt seine abgewetzten Jeans runter Richtung Hüften. Seine langen Arme sind sonnengebräunt und haben lauter wohlgeformte Dellen und Hügel. Und ich weiß, dass bei ihm nicht nur das Gesicht, der Hals und die Arme braun sind wie bei anderen Landarbeitern, ich habe ihn nämlich schon ohne Hemd auf dem Maisfeld arbeiten sehen. Ich versuche, ihn nicht jedes Mal von meinem Zimmerfenster aus anzuglotzen, wenn er mit dem Traktor draußen rumfährt, aber ich kann es nicht lassen. Also bin ich reumütig. Sehr reumütig.

»Gene hat mitgekriegt, dass Riley seine Mama finden will«, springt Gary ein, als ich nichts sage.

Die beiden tauschen einen Blick, der mir gar nicht gefällt. Dylan findet es vielleicht schon komisch, dass ich immer noch hoffe, die Polizei könnte Mama finden, das kann sein. Außer mir glaubt keiner in der Stadt mehr daran. Nicht mal die Zeitungen bringen noch was über den Fall. Aber Gary ist mein bester Freund, also ist das Verrat.

»Hör nicht auf Gene«, sagt Dylan zu mir und wirft einen Blick über die Schulter zurück auf den Schulhof. Wahrscheinlich will er sichergehen, dass kein anderer Achtklässler mitkriegt, wie er mit uns Winzlingen aus der Sechsten redet. »Der ist bloß ein charakterloser Fiesling.«

»Hey, Dyl«, sagt Gary. Aus irgendeinem Grund macht ihn das Reden mit Dylan lange nicht so verlegen wie mich. Er traut sich sogar, seinen Namen abzukürzen. »Kennst du die Geschichte von den Flüsterern?«

Noch ein Verrat.

»Das ist bloß so eine Gute-Nacht-Geschichte, die mir meine Mutter früher erzählt hat«, werfe ich ein, um Garys großmäulige Erklärung runterzuspielen. Ich kann nicht fassen, dass er mich ausgerechnet vor Dylan derart blamiert. »Du weißt schon, bevor sie …«

Verschwunden ist mag ich eigentlich nicht sagen, schließlich hat sie sich nicht einfach in Luft aufgelöst. Sie ist verschleppt worden. Entführt. Gekidnappt. Das weiß ich sicher. Ich kann es nicht beweisen, aber mein Bauchgefühl ist eindeutig. Da war was mit diesem verdächtigen Wagen, der an dem Tag bei unserer Zufahrt stand, und mit den zwielichtigen Typen da drin, die die ganze Zeit das Haus beobachtet haben. Trotzdem stehen die von der Polizei mit leeren Händen da – keine Spuren, keine Verdächtigen, keine Lösegeldforderung, kein Anruf. Und ich weiß auch, was manche Leute denken: dass Mama von selbst gegangen ist, weil sie wegwollte. Die verstehen nicht, dass sie mir das niemals antun würde. Das ist ganz unmöglich. Nicht mal nachdem dieser Kerl aus Kentucky aufgetaucht ist und alles ruiniert hat.

»Ja, die kenn ich«, rettet mich Dylan. »Die Geschichte von den Flüsterern. Die hat mir meine Oma immer erzählt.«

Ich stehe da und starre ihn an. Jetzt weiß ich erst recht nicht, was ich sagen soll. Ich habe immer geglaubt, dass außer meiner Familie keiner die Geschichte kennt. Weil Mama sie von Oma hat und die sie wieder von ihrer Mutter gehört hat, dachte ich, das wäre nur so ein Familiending.

Wie Dylan mich anschaut, macht mich nervös. Als ob er durch meine Augen hindurch in mein Hirn gucken könnte, als ob er von allen Geheimnissen wüsste, die ich tief in mir drin verstecke.

Dass ich ins Bett mache.

Dass ich mich nicht die Bohne für Rebecca Johnsons wundersam anschwellenden Busen interessiere.

Dass ich Mamas Ring habe.

Dass ich ihn durch mein Zimmerfenster beobachte, wenn er ohne Hemd draußen auf dem Maisfeld arbeitet.

Auf einmal habe ich Angst, ich könnte ihm auf sein Captain-America-Shirt kotzen.

»Glaubst du, dass es sie wirklich gibt?«, quieke ich, zum Glück ohne Kotzen.

Aber bevor Dylan antworten kann, läutet die Pausenklingel.