Meine Mutter ist an Krebs gestorben, im Alter von sechsundzwanzig Jahren. Ich war damals fünf. Ich habe nicht recht verstanden, was da passiert, und die Erwachsenen waren so tief in ihre eigene Trauer abgetaucht, dass sie nicht einmal über meine Mutter reden konnten – und schon gar nicht konnten sie mir vermitteln, warum sie nicht mehr da war. Erst als ich selbst schon in meinen Vierzigern war, habe ich den Mut aufgebracht, meinen Vater zu fragen, was für eine Art Krebs sie überhaupt hatte. Nach Mamas Tod zog er sich emotional vollkommen zurück, und mein Bruder und ich mussten uns alleine in einem Leben ohne sie zurechtfinden. Fotos von ihr wurden abgehängt, weil der Anblick für die Erwachsenen kaum zu ertragen war. Familienalben verschwanden. Ihre Kleider und persönlichen Gegenstände wurden weggegeben. Als mein Vater ein paar Jahre später wieder heiratete, mussten mein Bruder und ich die fremde Frau in unserem Haus Mama nennen. Es war, als hätte es meine Mutter nie gegeben. Ich war ein Mamakind ohne Mama – ich hatte keinen Kompass mehr. Das plötzliche Abgeschnittensein von ihr und meinen Erinnerungen war verheerend.
Meine Kindheitstrauer über den Verlust meiner Mutter äußerte sich nicht so heftig wie bei Riley, aber auch ich habe mich in eine Fantasiewelt geflüchtet. Weil ich sonst nichts über sie zu hören bekam und die anderen Familienmitglieder ihre Erinnerungen nicht mit mir teilten, dachte ich mir Geschichten über sie aus. Eine Erinnerung war die an meine Mutter als Schönheitskönigin, wie sie beim Weihnachtsumzug als frisch gekrönte »Mrs Georgetown« in einem offenen Cabrio durch die Stadt gefahren wurde. Ihr Name stand auf dem Auto. Sie trug einen weißen Hut und weiße Handschuhe, und ihr Kleid war mit einer roten Ansteckblume geschmückt. Sie war wunderschön, eine Art Jackie Kennedy aus South Carolina. Jahrelang habe ich mich lebhaft daran erinnert, wie ich damals am Straßenrand stand und sie mir vom Rücksitz des Cabrios aus zuwinkte. Wie ich gestrahlt habe vor Stolz auf meine Mutter, Mrs Georgetown aus South Carolina, und wie wild ich zurückgewinkt habe. Diese Erinnerung war sehr tröstlich für mich.
Jahre später tauchte ein altes Familienfoto von diesem Tag auf. Ich weiß nicht mehr, auf welchem Weg, jedenfalls war ich schon erwachsen, als das Bild in meinen Besitz kam. Als ich es sah, wurde mir klar, dass meine Erinnerung an diesen Tag reine Einbildung war. Ich hatte die verblichene alte Farbfotografie im Sinn gehabt, nicht das Ereignis selbst. Denn unten am Rand des Fotos stand in der Handschrift meines Vaters Miss-Georgetown-Kandidatin und ein Datum, das drei Jahre vor meiner Geburt lag.
Mama hatte also nur kandidiert, und es war nicht um Mrs, sondern um Miss Georgetown gegangen. Und vor allem: Ich war definitiv nicht dabei gewesen. Ich weiß nicht mal mit Sicherheit, ob es wirklich ein Weihnachtsumzug war.
Wenn ein Elternteil oder eine andere geliebte Person stirbt, egal ob durch einen Unfall oder nach langer Krankheit, kann das zu einer traumatischen Trauerreaktion führen. Manchmal wirkt sich das so aus, dass ein Kind sich eine alternative Geschichte zurechtlegt – eine, in der es die Hoffnung gibt, dass die geliebte Person wieder zurückkommt, so wie bei Riley in diesem Buch. Um es in seinen einfachen Worten auszudrücken: Der Kopf und das Herz erfinden eine andere Geschichte, um einen zu beschützen. Und genau wie Riley denke ich auch in meinem Fall, die beiden haben es nicht böse gemeint, als sie sich aus verblichenen Fotografien Erinnerungen für mich zurechtgereimt haben. Sie haben nur auf mich aufgepasst. Also verzeihe ich ihnen.