Es gab einmal einen Jungen, der das Flüstern hörte. Wenn die Sonne gegen Ende des Tages träge in die Baumwipfel sank und die Abenddämmerungden Wald hinterm Haus wie durch Magie zum Leben erweckte, dann vernahm er es. Die Stimmen flüsterten so sanft, dass man sie auch mit dem Wind verwechseln konnte oder mit den ersten Tropfen eines Sommerregens. Doch nach und nach wurden sie lauter, und bald war der Junge überzeugt, dass sie seinen Namen riefen. Also folgte er ihnen. Die Flüsterstimmen führten ihn zu einer Lichtung tief im Wald. In der Mitte war ein verwitterter alter Baumstumpf, auf dem Boden lag trockenes Laub wie ein knisternder brauner Teppich. Der Junge stellte sich neben den Baumstumpf, wartete und lauschte. Auch wenn er die Flüsterwesen nicht sehen konnte, wusste er doch, sie waren da. Ihre feinen Stimmen hüllten ihn ein, kitzelten seine Ohren und füllten jeden Winkel des schattendunklen Waldes.
Nach einer Weile geduldigen Wartens bemerkte der Junge, dass die wirren Wisperlaute allmählich Sinn ergaben. Die Flüsterer hatten viel zu erzählen. Sie wussten alles – kannten sämtliche Geheimnisse des Universums. Sie erzählten dem Jungen, welche Farbe der Mond hat, aus der Nähe betrachtet, und wie viel Fläche der Erdkugel von Ozeanen bedeckt ist. Sie sagten ihm sogar, wie lange er leben würde – 26 332 Tage. Das gefiel dem Jungen, denn es klang nach einer ziemlich langen Zeit. Aber während ihm die Wesen immer weiter kluge Dinge ins Ohr flüsterten, zeigten sie sich dem Jungen doch nie. Nur aus den Augenwinkeln heraus nahm er die blassblauen Lichter wahr, die um ihn herumhuschten. Er wollte die Flüsterer so gerne sehen, wollte unbedingt herausfinden, wie sie waren. Groß oder winzig? Dünn oder dick oder haarig? Bestanden sie aus Haut und Fleisch und Knochen wie er selbst oder vielleicht aus Baumrinde oder Blättern oder Erde? Vielleicht auch aus etwas ganz anderem?
Die Flüsterer sagten dem Jungen, wenn er bereit wäre, ihnen Opfergaben zu bringen, würden sie seine Herzenswünsche erfüllen. Der Junge wusste nicht recht, was mit Opfergaben gemeint war, und er wünschte sich sowieso nicht viel. Jedenfalls kaum etwas, das man Herzenswunsch nennen konnte. Vielleicht ein paar neue Turnschuhe, damit die anderen in der Schule aufhörten, ihn wegen seiner alten, abgetragenen zu ärgern. Vielleicht auch eine bessere Arbeit für seinen Vater, damit er weniger Geldsorgen hätte. Außerdem wünschte der Junge sich sehr, seine Mutter wieder einmal lächeln zu sehen, was sie in letzter Zeit kaum noch tat. Aber nichts auf der Welt wünschte er sich sehnlicher, als die Flüsterer mit eigenen Augen zu sehen.
Als seine Mutter eines Tages wieder einmal ihre ganz besondere Brombeermarmelade kochte, fragte der Junge sie, was denn eine Opfergabe sei. Sie überlegte einen Moment und antwortete dann, das sei so etwas wie ein Geschenk, mit dem man jemandem seinen Respekt zeigt. Der Junge betrachtete das Werk seiner Mutter, das auf dem Küchentisch stand. Alle liebten diese Brombeermarmelade. Wenn die Mutter sie auf einem Bauernmarkt in der Umgebung feilbot, waren am Ende des Tages immer alle Gläser ausverkauft. Und auch der Junge selbst konnte nie genug davon bekommen, für ihn war es die beste Marmelade der Welt. Bestimmt wäre das eine gute Opfergabe für die Flüsterer. Als seine Mutter die Küche verließ, nahm der Junge eins der Gläser und versteckte es unter seinem Bett.
Am nächsten Abend ging er bei Sonnenuntergang wieder auf die Lichtung im Wald, das Marmeladenglas unterm Arm, und stellte es den Flüsterern auf den verwitterten Baumstumpf. Zufrieden mit seiner Opfergabe sagte der Junge laut auf, was er sich wünschte, und lief dann schnell nach Hause, denn er wollte die Wesen auf keinen Fall verscheuchen.
Als sein Vater an dem Abend nach Hause kam, hatte er bessere Laune als sonst, und die Sorgenfalten in seinem Gesicht waren verschwunden. Er erzählte seiner Familie, er sei befördert worden, und am nächsten Tag solle die Mutter mit dem Jungen einkaufen gehen und ihm neue Kleidung für die Schule besorgen, auch neue Schuhe. Diese Neuigkeit ließ die Mutter lächeln. Der Junge war verblüfft: Für nur ein Glas Marmelade waren ihm gleich drei Herzenswünsche erfüllt worden. Bestimmt würden sich ihm die Flüsterer zeigen, wenn er ihnen eine Opfergabe brachte, die noch viel besser war als die Brombeermarmelade seiner Mutter. Und er wusste auch schon, was er ihnen geben würde.
Als der Junge am nächsten Tag vom Einkaufen mit seiner Mutter zurück war, stahl er sich bei Sonnenuntergang aus dem Haus und brachte seine neuen Turnschuhe zur Lichtung im Wald, noch in der Schuhschachtel und dazu in Seidenpapier gehüllt, damit sie nicht schmutzig oder abgewetzt würden. Nie zuvor hatte er schönere Schuhe besessen. Bei so einer guten Opfergabe, da war er sicher, würden sich die Flüsterer ganz bestimmt zeigen.
Als er sich dem verwitterten Baumstumpf näherte, sah er gleich, dass die Brombeermarmelade verschwunden war. Das überraschte den Jungen nicht. Bestimmt hatte die Marmelade seiner Mutter den Flüsterern genauso gut geschmeckt wie allen anderen auch. Er stellte die Schuhschachtel auf den Baumstumpf, trat ein paar Schritte zurück und wartete. Er wartete lange. Er wartete so lange, bis er zu zweifeln begann, ob seine Opfergabe gut genug für die Flüsterer war.
Doch irgendwann kitzelte ihn etwas im Nacken, wie ein leiser Atemhauch auf der Haut. Er hörte seinen Namen, und die Stimmen fragten ihn nach seinem Wunsch. Der Junge erstarrte. So nah waren die Flüsterer noch nie an ihn herangekommen. Offenbar war ihnen seine Opfergabe doch gut genug. Er war aufgeregt, zugleich fürchtete er, sie mit einer Bewegung zu verscheuchen, darum schloss er die Augen und stand ganz still da.
»Ich wünsche mir, euch zu sehen«, sagte der Junge, nun selbst im Flüsterton. »Ich möchte wissen, wie ihr ausseht. Das ist mein Herzenswunsch.«
Zuerst bekam er keine Antwort, die er verstehen konnte, da war nur ein vages, wirres Durcheinander vieler Stimmen – die Wesen schienen eher miteinander zu sprechen als mit ihm. Dann fügten sich die rätselhaften Laute langsam zu Wörtern zusammen.
»Wenn wir uns dir zeigen, kannst du nie mehr von uns fort«, sagten die Flüsterer im warmen Sommerwind, ihre samtigen Stimmen waren wie ein Streicheln in den Ohren des Jungen. »Dann musst du für immer bei uns im Wald bleiben, denn du weißt dann alles, was es zu wissen gibt, und diese Last kann in deiner Welt niemand tragen.«
Der Junge schluckte. Er schloss die Augen noch fester und stand ganz still, während ihm der Schweiß den Hals hinabströmte. Die Worte der Flüsterer ließen ihn von Kopf bis Fuß erzittern.
»Bist du sicher, dass du das willst?«, fragten die Flüsterer. »Uns sehen? Bei uns bleiben und selbst ein Flüstern im Wind werden?«
Der Junge war beunruhigt. Er dachte an alles, was er vermissen würde, wenn er bei den Wesen im Wald bliebe. Er könnte dann nie mehr auf seinem Fahrrad fahren oder mit Freunden im Teich schwimmen gehen. Er würde seine Eltern nie mehr wiedersehen. Nur um die Flüsterer ein Mal anzuschauen, schien ihm das ein schrecklich hoher Preis. Außerdem hatte er ihnen doch schon seine nagelneuen Turnschuhe hingestellt, und die waren schöner als alles, was er jemals besessen hatte. Reichte das nicht?
»Nein«, flüsterten die Stimmen, die seine Gedanken gelesen hatten. »Das reicht nicht. Wenn du uns siehst, musst du einer von uns werden. Und du wirst alles wissen, was es zu wissen gibt. Alles hören. Alles sehen. Aber deine Seele ist die einzige Opfergabe, die wir dafür annehmen.«
Der Junge kniff die Augen fest zu, denn er fürchtete, aus Versehen doch eines der Wesen zu erblicken, und dann hätte er keine Wahl mehr. Erst einmal musste er nachdenken. Er fragte sich, was es sonst noch zu wissen gab. Durch die Flüsterer wusste er, welche Farbe der Mond hat, aus der Nähe betrachtet, wie viel Fläche der Erdkugel von Ozeanen bedeckt ist und wie lange er leben würde – 26 332 Tage. Er wusste, er hatte ein Zuhause, in das er zurückkehren konnte. Er wusste, dass seine Eltern ihn lieb hatten und hart arbeiteten, damit es der Familie gut ging. Und dass die anderen in der Schule ihn jetzt, wo er nagelneue Turnschuhe hatte, weniger ärgern würden.
Der Junge wusste auch, dass es bald dunkel würde. Wenn er zu lange wartete, würde er vielleicht nie mehr aus dem Wald hinausfinden. Was würden die Flüsterer dann wohl mit ihm tun? Tastend streckte er die Arme aus, bis er die Schuhschachtel auf dem Baumstumpf fand. Er schnappte sie, drehte sich um und lief, so schnell er konnte, die Schachtel eng an die Brust gepresst und mit geschlossenen Augen. Er stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf. Immer wieder stieß er gegen Bäume. Zweige schlugen ihm ins Gesicht und gegen den Oberkörper, doch er rannte blindlings weiter.
Erst als er ein gutes Stück weit entfernt war und die feinen Stimmen hinter ihm längst nicht mehr zu hören waren, wagte der Junge, die Augen zu öffnen. Sogar da achtete er noch darauf, sich bloß nicht umzusehen, sondern blickte starr geradeaus, bis er den Waldrand erreicht hatte. Dann rannte er den ganzen Weg heimwärts und sah sich kein einziges Mal um, nicht einmal, als er sein Zuhause sicher erreicht hatte.
Danach hörte der Junge das Flüstern nie mehr, doch das kümmerte ihn nicht. Seine Herzenswünsche waren erfüllt. Er hatte seine Mutter. Und seinen Vater. Und seine Freunde. Und seine nagelneuen Turnschuhe. Außerdem wusste er, welche Farbe der Mond hat, aus der Nähe betrachtet, wie viel Fläche der Erdkugel von Ozeanen bedeckt ist und wie lange er leben würde – 26 332 Tage. Er kannte nicht sämtliche Geheimnisse des Universums und würde sie wohl niemals kennen, doch was er wusste, das genügte ihm.
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Das war Mamas Lieblingsgeschichte. Sie hat sie mir jeden Abend erzählt, bis zu dem Tag, an dem sie verschwunden ist. Da habe ich das Flüstern auf einmal selbst gehört.
Und bin ihm gefolgt.