»Mama kommt erst morgen? Wieso sagst du uns das nicht eher?«, fragte Helen.
Doro blieb stehen und musterte Helen: »Was macht es aus? Haben wir Schwestern den Abend für uns.«
»Was macht es aus? Ich ertrinke in Arbeit. Hätte ich das gewusst, wäre ich heute Abend gefahren.«
Yella wünschte sich sehnlichst auf ihr heimisches Sofa. Es hatte schon einen Grund, warum die Floristin in ihrer Straße immer drei, fünf oder sieben Blumen verkaufte. »Gerade Zahlen bringen Unglück«, behauptete sie. Die Thalberg-Schwestern waren zu viert noch instabiler als zu dritt. Während Helen sich aufregte, wollte Yella gar nicht erst darüber nachdenken, dass sie die Veranstaltung im Kindergarten umsonst verpasst hatte.
»Die Welt wird sich auch weiterdrehen, wenn Helen Thalberg mal einen Tag freinimmt«, sagte Doro provozierend und ohne jeden Anflug von schlechtem Gewissen. »Relax.«
»Mir geht es großartig. Aber ich bestimme gerne selber über meine Zeit«, sagte Helen.
»Mein Leben ist ein einziges Chaos«, sagte Doro. »Ich kann heute nicht noch mehr Vorwürfe vertragen. Ich hatte einen Horrortag. Bin froh, dass ich überhaupt hier bin.«
Amelie, die gerade von draußen kam, zerfloss sofort in Mitleid: »Komm erst mal an«, sagte sie.
»Können wir nicht einfach gemütlich zusammensitzen und essen? Ich sterbe vor Hunger«, sagte Doro.
»Ich setze die Ravioli auf«, antwortete Helen. »Alles andere ist fertig.«
Doro stand auf, schlüpfte aus ihren Pumps und wedelte mit einer Plastiktüte, die offenbar von der Snackbar De klomp stammte. »Nicht nötig. Ich habe schon gekocht«, rief sie.
Sie breitete ein großes Stück Alufolie auf dem Tisch aus.
»Keine Teller, genau wie früher.«
Doro kippte die Häppchen auf den Tisch: »Patatjes met mayo, kaassoufflée, bitterballen, frikandel, vlammetjes, loempias«, sagte sie.
Der Geruch heißen Fetts füllte den Wohnraum. Neben Pommes mit dicker Mayonnaise lagen mit heißem Käse gefüllte Teigtaschen, knusprige Bällchen mit undefinierbar weicher Fleischfüllung, Minifrühlingsrollen mit süß-scharfer Dip-S0ße in zwei Varianten mit und ohne Fleisch. Yella griff begeistert nach der frikandel, eine Köstlichkeit, die mit deutschen Frikadellen nichts zu tun hatte. Sie hatten die längliche Form von Wurst, ohne dass man wirklich nachvollziehen konnte, woraus sie gemacht wurden, und schmeckten nach Kindheit.
»Alles frittiert. Ich habe mich einmal durchs Sortiment gekauft«, sagte Doro glücklich, tunkte einen bitterbal in Senf und verbrannte sich wie üblich den Mund an der glühend heißen Füllung.
»Ihr glaubt gar nicht, wie sehr ich das vermisst habe. Einmal so richtig ungesund essen«, sagte Doro.
Amelie standen vor Rührung Tränen in den Augen, als sie Huhn am Spieß entdeckte. »Kip-Saté mit Erdnusssoße. So was esse ich schon seit Jahren nicht mehr.«
Helen blickte unentschlossen auf die bereitstehenden Ravioli. Yella zog ihre Schwester zum Tisch.
»Die essen wir morgen«, sagte sie. »Macht doch nichts.«
Seufzend stellte Helen wenigstens Salat und Teller auf den Tisch.
Doro reckte ihre Bierdose in Helens Richtung.
»Ist doch viel schöner ohne unsere Männer. Wann waren wir vier Schwestern zum letzten Mal ohne Anhang zusammen?«, rief sie.
Alle redeten durcheinander. Die Themen wechselten in hohem Tempo und deckten alles ab von Alice im Wunderland zu Ludwigs Rückenproblemen, zusammengekrachten Tischen, Yellas Sandkastenerfahrungen, Amelies Männern und Lucys Schuldramen. Während Helen schweigend zuhörte, nahmen die Schwestern jedes Familienmitglied durch, bis sie unweigerlich bei David landeten.
»Und? Wie weit ist er mit seinem zweiten Roman?«, fragte Doro.
»Er kommt voran«, sagte Yella leichthin.
»Ich freue mich so auf die Geschichte. Vielleicht kommen wir vor«, sagte Amelie.
Doro verlor schon wieder das Interesse, doch Helen ließ Yella nicht mit vagen Aussagen durchkommen.
»Machst du dir manchmal Sorgen, ob das Opus jemals fertig wird?«, fragte sie freiheraus.
»Nein«, sagte Yella. »Ich sehe ja, mit welcher Leidenschaft er daran arbeitet.«
Dabei war sie sich selbst nicht sicher, ob das Wort Leidenchaft wirklich zutraf. David benahm sich eher wie ein Spielsüchtiger im Casino, der hoffte, die Verluste mit einem perfekten Wurf umzudrehen. Er hatte bereits so viele Jahre in den Roman investiert, dass Aufgeben keine Option mehr war. Er konnte sich nicht eingestehen, möglicherweise aufs falsche Pferd gesetzt zu haben und auf einem Projekt herumzukauen, das er nicht zu Ende bringen konnte.
»Das Happy End ist in Sicht«, wiederholte Yella das Familienmantra, an das sie selbst gerne glauben wollte.
In Helens Augen las sie, dass sie nicht überzeugend geklungen hatte. Ihre Schwester brauchte ihre Einwände nicht auszusprechen. Yella ahnte, was sie wirklich dachte: »Hast du das nicht neulich schon erzählt? Und vor zwei Jahren?«
Sie fühlte sich nicht berufen, über Davids Schreibprozess, den er weitgehend für sich behielt, Auskünfte zu erteilen. Etwas anderes als eine optimistische Prognose fühlte sich für Yella an wie Verrat. Schließlich beobachtete sie jeden Tag, wie hart er an seinem Text arbeitete. Sie beschützte David, wo sie nur konnte: vor den Anforderungen des Alltags, vor allzu lauten und fordernden Kindern, vor Ablenkungen, vor Nachfragen von Freunden und der Kritik der Familie. Helens skeptischer Blick verwandelte Yella automatisch in Davids Pressesprecherin, die versuchte, alles, was sich hinter ihrer Haustür abspielte, so positiv wie möglich nach außen zu verkaufen. Seit ein paar Monaten machte die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit Überstunden.
»Im Theater hat die Hälfte unserer Autoren ein Burn-out«, sagte Doro.
»Er hat kein Burn-out, er bearbeitet ein historisches Thema«, sagte Yella. »Die Recherche frisst unendlich viel Zeit.«
Sie klang wohl zu genervt, denn Doro hakte sofort ein: »Ärger im Berliner Paradies?«
Alle Augen waren plötzlich auf Yella gerichtet, als ob sie verpflichtet wäre, Rede und Antwort zu stehen. Die Fragen, die ihre Schwestern auf sie abfeuerten, spukten seit Monaten immer heftiger in ihrem eigenen Kopf herum. Was, wenn der Text nie fertig wurde? Was, wenn seine Versprechen für immer in der Luft hingen? Normalerweise war die Pressesprecherin sehr effektiv, angesichts Doros ätzender Kommentare und Helens kritischem Blick schwieg sie hartnäckig.
»Alles bestens«, sagte sie.
»Mama hat mir von eurem Abendessen erzählt«, sagte Doro.
Yella sank in sich zusammen. Die familiären Buschtrommeln funktionierten einwandfrei.
»Was hat sie denn erzählt?«, fragte Yella so beiläufig wie möglich.
Doro antwortete nicht. Stattdessen tunkte sie hingebungsvoll Pommes in die dicke Mayonnaise, die es so nur in Holland gab.
»Irgendetwas muss sie doch erzählt haben, sonst würdest du nicht nach dem Besuch in Köln fragen«, insistierte Yella.
»Sie hat mich gefragt, was ich davon halte, wenn sie länger nach Berlin fährt, um dir ein bisschen unter die Arme zu greifen.«
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Yella entgeistert.
»Ich glaube, Mama macht sich einfach Sorgen«, mischte Amelie sich ein.
Yella schüttelte sich: »Bei ihrem letzten Besuch hat sie meinen Küchenschrank umorganisiert und Davids Wäscheschublade nach Marie Kondō umgeräumt.«
Ganz offensichtlich hielt ihre Mutter es für ein Zeichen von Überforderung, Socken nicht aufrecht und nach den Farben des Regenbogens anzuordnen, sondern in zwei Ikea-Pappkartons zu werfen. Ihr eigenes System funktionierte perfekt: links die vollständigen Paare, rechts die Einzelstücke, die noch auf einen passenden Partner warteten. Das Letzte, was sie sich wünschte, war, ein paar Wochen mit ihrer Mutter zu verbringen, die ihr mit gut gemeinten Ratschlägen zur Seite stand.
»Keine Angst, ich habe dich in allem verteidigt«, wiegelte Doro ab. »Ich habe gesagt, dass du immer ein bisschen Chaos um dich herum brauchst.«
Yella stöhnte tief auf.
»Komm, wir schicken Henriette ein Familienfoto«, rief Doro.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche.
»Vielleicht kannst du mir dann gleich das Geld überweisen«, sagte Amelie. »Ich bin ein bisschen knapp bei Kasse.«
»Wie viel?«, fragte Doro.
»80 Euro«, sagte Amelie.
Doro hörte auf zu essen: »Vierzig, maximal, eher weniger.«
»Auf der Rechnung stehen achtzig«, gab Amelie kleinlaut zur Antwort.
»Sie versucht dich abzuzocken«, sagte Doro. »Welcher Idiot bezahlt 80 Euro für ein Taxi?«
Amelie zuckte hilflos die Schulter. »Ich bin dieser Idiot. Weil du mich darum gebeten hast abzurechnen.«
»So ein Schwachsinn«, sagte Doro. »Als ob ich 80 Euro für ein Taxi bezahlen würde. Da muss man doch nur ein bisschen nachdenken, um drauf zu kommen, dass das Wucher ist.«
»Mir kommt der Betrag angemessen vor, bei der Entfernung«, sagte Helen.
»Ich mache den Abwasch«, sagte Yella und sprang auf.
»Ich helfe dir«, rief Amelie, froh über die Gelegenheit, der Diskussion zu entkommen.
Das Klappern des Geschirrs übertönte kaum das Streitgespräch, das im Hintergrund weitertobte. Doro konnte sich gar nicht beruhigen darüber, dass Amelie wirklich 80 Euro von ihr haben wollte.
»Sie hat Stress«, entschuldigte Amelie ihre große Schwester. »Die beruhigt sich schon wieder.«
»Deine Geduld hätte ich gerne«, sagte Yella.
»Ruf die Taxifahrerin an, die hat dich über den Tisch gezogen«, forderte Doro ihre jüngere Schwester auf.
»Es ist halb elf«, verteidigte Amelie sich schwach.
»Na und? Um halb elf kann man noch anrufen. Vor allem, wenn man betrogen worden ist«, befand Doro.
Amelie seufzte. Sie griff nach ihrem Telefon, das ununterbrochen piepste.
»Fünfhundertachtundsechzig Likes in ein paar Stunden«, sagte sie verblüfft. »Und lauter Kommentare. Ich werde ständig gefragt, wo man so eine orangefarbene Jacke bekommt mit You’ll never walk alone.«
Sie unterbrach sich und erbleichte sichtlich.
»Was ist?«, fragte Doro.
Die plötzliche Stille war ohrenbetäubend. »Was ist passiert?«, fragte Yella.
»Eine Nachricht von unserer Hausärztin«, sagte Amelie. »Mama hat ihren Termin verpasst. Sie soll sich in der Praxis melden.«
Der Ton der Mail klang betont neutral, aber die reine Tatsache, dass die Frau sich so spät noch bei Amelie meldete, hatte etwas zutiefst Beunruhigendes. Groß stand die Frage im Raum: Was um alles in der Welt hatte es mit dieser merkwürdigen Einladung auf sich? Vielleicht bedeutete das gemeinsame Wochenende gar keinen Neuanfang? Vielleicht markierte der Brief den Anfang vom Ende.
»Hat die schon mal was von Schweigepflicht gehört?«, fragte Helen empört.
»Aus alter Verbundenheit mit eurer Familie«, zitierte Amelie tonlos aus der Nachricht.
Wie aus einem Luftballon entwich schlagartig alle Luft aus dem Raum. Yella schnürte es die Kehle zu. Die kryptische Mitteilung reichte, alle Angstgespenster zu wecken.
»Glaubt ihr, es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Termin und unserem Familienwochenende?«, fragte Amelie. Ihre Stimme schwankte.
»Vielleicht ist es auch was Schönes«, sagte Doro in einem aufgesetzt optimistischen Ton. »Ich würde mir nicht zu viele Sorgen machen.«
»Weißt du mehr?«, fragte Helen misstrauisch.
»Warte einfach ab«, konterte Doro.
»Wenn du was weißt, wäre es freundlich, du würdest uns einweihen«, insistierte Helen.
»Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Ich bin genauso ahnungslos wie ihr«, sagte Doro.
Helen sah nicht aus, als ob sie ihrer großen Schwester glauben würde.
»Wir haben morgen einen langen Tag vor uns«, sagte Doro, stand auf und begann ebenso übergangslos wie beiläufig, die Deko des Ferienhauses nach ihrem Geschmack umzuräumen.
»Ich gehe ins Bett«, sagte Helen ernüchtert.
»Wie machen wir das mit dem Schlafen?«, fragte Amelie.
»Ich nehme das große Zimmer mit dem Balkon«, sagte Doro. »Ich muss noch was arbeiten, bevor Lucy und Ludwig kommen, und will euch auf keinen Fall stören.«
Helen verschwand in die Klause mit dem Einzelbett im ersten Stock, Amelie in dem Zimmer neben der Küche.
Alle Energie wich aus Yella. Da war auf einmal nur noch bleierne Müdigkeit. »Ich nehme das Kinderzimmer«, sagte sie, als ob irgendeine Wahl bestand.