Seufzend sah Yella sich in dem pastelligen Zimmer um. Der erste Abend war nicht so gelaufen, wie sie sich das erträumt hatte: die aufgeladene Atmosphäre, die ewigen Diskussionen mit Doro, die Sorge um die Mutter. Warum war alles so kompliziert, wenn sie aufeinandertrafen? Von wegen Sommerschwestern. Als wären sie Figuren auf einem gigantischen Schachbrett, rutschten sie innerhalb kürzester Zeit auf ihre angestammten Positionen: Doro, flankiert von Amelie als immerwährendem Fanclub, setzte den Ton, Helen zog sich schweigend zurück, ohne den Raum zu verlassen, und stellte ab und an mal eine bohrende Frage. Und sie selbst hing irgendwo dazwischen, der Kopf halb in Berlin.

Auf einem Regalbrett stand ein einziges Spiel: Vier gewinnt. Ausgerechnet! Es gab Konstellationen, in denen die Zahl vier exakt richtig war. Bei einer Viererkette, der Vierschanzentournee, bei vierblättrigen Kleeblättern. Es gab vier Jahreszeiten, vier Mondphasen, vier Elemente, vier Adventssonntage. Und wenn sie sich gemeinsam mit Leo, Nick und David in eine Fotokabine quetschte, spuckte der Automat einen Viererstreifen mit einem Erinnerungsfoto für jeden von ihnen aus. In ihrer Herkunftsfamilie lagen die Dinge komplizierter. Die Thalberg-Schwestern navigierten durch das Leben wie ein Vierer ohne Steuermann. Jede ruderte im eigenen Tempo mit der eigenen

Yella faltete sich zusammen und krabbelte in den unteren Teil des Stockbetts. Aus dem Badezimmer klangen die unterdrückten Stimmen der Schwestern, draußen heulte der Wind um das Haus und ließ die Äste knacken. Die Bettwäsche roch angenehm frisch. Trotzdem hatte sie das Gefühl, in einem Sarg zu liegen. Sie wechselte nach oben und stellte fest, wie ungelenkig sie geworden war. Sie musste wieder mehr Sport treiben, aber wann? Als sie die pilzförmige Lampe ausknipste, flammten rund um ihr Bett fluoreszierende Einhörner in einem Universum aus grün schimmernden Sternen auf. Die Regenbogentierchen ließen sie zu dem verängstigten dreizehnjährigen Mädchen schrumpfen. Eben war sie noch tödlich erschöpft gewesen, jetzt galoppierten ihre Gedanken wild in alle Richtungen. Die Schwestern, der Arzttermin, der schwelende Streit.

Ich vermisse euch, schrieb sie an David. Das nächste Mal müsst ihr unbedingt mitkommen. Sie löschte den letzten Satz. Sie wollte nicht, dass er sich unter Druck gesetzt fühlte. Irgendwann will ich euch Bergen zeigen. Auch das war kein geeigneter Anfang. Viel Spaß heute beim Geburtstag schrieb sie und entfernte auch diesen Satz. War der Konflikt um ihre Mutter mehr als eine momentane Verstimmung? Wann war es zwischen ihnen so schwierig geworden, dass sie sich bei jedem Wort fragte, ob David es falsch verstehen könnte?

schrieb sie am Ende. Alle geben sich fürchterlich Mühe, und am Ende gibt es doch nur Stress. Sie wartete vergebens, dass sich die weißen Häkchen in blaue verwandelten. Ihre Nachricht blieb ungelesen.

Yella versuchte, Doros Optimismus und Helens nüchterne Betrachtungsweise mit in den Schlaf zu nehmen. Solange es keine Gewissheit über den Grund der Familienzusammenkunft gab, sollte sie ihre Zeit nicht mit Angstgespenstern vertun. Sie hatte gelesen, dass die allermeisten Dinge, vor denen Menschen sich fürchteten, nie eintraten.

»Wir müssen akzeptieren, dass nicht alles im Leben so geht, wie wir uns das wünschen«, hatte Dr. Deniz immer gesagt. »Das ist der erste Schritt, unsere Ängste zu besiegen. Wir können nicht alles kontrollieren.«

Helen hatte recht: Was für einen Sinn hatte es, Angst zu haben und noch nicht einmal zu wissen, wovor? Sie sagte sich tausendmal vor, dass es eine gute Erklärung für das rätselhafte Verhalten ihrer Mutter geben würde, hatte aber dennoch das Gefühl, an ihren eigenen Gedanken zu ersticken. Was, wenn sie ernsthaft krank war und es nicht mehr genug Zeit gab, alle Missverständnisse aus dem Weg zu räumen?

Der Westwind, der von der Nordsee über das Land fegte, wehte unablässig Erinnerungen an längst überwunden geglaubte Konflikte heran. Yella starrte auf die leuchtenden Einhörner und erinnerte sich auf einmal daran, wie Doro mitten in der Nacht in ihr Zimmer geschlichen war, ihr verzerrtes Gesicht vom Schein einer funzeligen grün strahlenden Taschenlampe erhellt, um sie mit verstellter Stimme zu erschrecken: »Ich sehe aus wie deine Schwester, aber ich bin in Wirklichkeit ein Geist«, hatte sie gekrächzt und dabei wild mit den

Erwachsen sein war wohl eher ein theoretisches Konzept. Wie in einer russischen Puppe war in ihr immer noch die verlorene Yella verborgen, die sie vor Leo und Nick gewesen war. Und vor David. War ihr Leben auf Treibsand gebaut? Seit sie David kennengelernt hatte, war sie im Dauerlauf unterwegs gewesen. Sie hatte es so eilig, dass sie nicht einmal dazu gekommen war, sich zu fragen, ob sie glücklich war. Mit ihrer Beziehung, mit ihrem Job. Sie hatte damit gerechnet, sich in Holland ein bisschen zu erholen, Kraft zu tanken, vielleicht sogar auszuschlafen, stattdessen stiegen Erinnerungen wie Luftblasen in die Höhe, als hätten sie nur darauf gewartet, an die Oberfläche schweben zu dürfen. Die Kinder gaben ihrem Leben Struktur, Richtung, Ziel, eine Aufgabe, vor allem aber auch Sinn. Sie liebte es, Mutter zu sein. Wie ein Kleid legte sich die Rolle wärmend um sie herum und beschützte den verletzlichen Kern. Wer war sie, wenn das alles wegfiel und sie sich wieder in die Tochter und Schwester verwandelte? Selbst im Bett hatte Yella das Gefühl, auf einer schiefen Ebene zu balancieren. Die Einladung ihrer Mutter hatte alles um sie herum ins Rutschen gebracht. Sie hatte nicht geahnt, wie wacklig der Boden war, auf dem sie stand. Ein einziger Brief hatte genügt, das Gestern nach oben zu schwemmen und den Halt zu verlieren. Ohne den Halt ihrer eigenen Familie, ohne David und ihre Jungs, war sie verloren.

Die Luft stand in dem winzigen Raum, als ob hier schon lange niemand mehr geschlafen hätte. Yella fand trotz tödlicher Erschöpfung einfach nicht in den Schlaf.

In diesem Moment drehte der Mann sich um und trat an das Tor. Das automatische Licht flammte auf. Yellas Atem stockte, als sie die groß gewachsene Gestalt erkannte. Zum ersten Mal fiel ihr die Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern auf. Das war ihr alter Studienfreund Paul, Helens Freund!

Seine leicht eckige Art, sich zu bewegen, die betont aufrechte Haltung und elegante Erscheinung waren unverkennbar. Yella

Was in aller Welt machte er da draußen? Mitten in der Nacht? Hatte Helen nicht erzählt, dass sie ihn überhaupt nicht gefragt hatte, ob er mitkommen wolle? Paul hielt sein Telefon ans Ohr gepresst, schüttelte den Kopf, gestikulierte aufgeregt und verzog sich unverrichteter Dinge in die Nacht. Irgendetwas war entschieden nicht in Ordnung zwischen den beiden, und wie üblich hatte Helen kein Wort über ihre persönlichen Probleme verloren. Sie wusste so wenig über ihre kleine Schwester. »Irgendwas mit Blut und Reagenzgläsern«, weiter kam sie nicht in der Beschreibung von Helens Berufstätigkeit. Yella seufzte auf. Es gab so viel, was sie morgen besser machen konnte.