Yella gab auf. Der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Vorsichtig setzte sie ihre nackten Zehen auf der knarzenden Holztreppe auf, in der Hoffnung, auf ihrem Weg ins Erdgeschoss niemanden zu wecken. Als sie den Wohnraum betrat, realisierte sie, dass sie nicht die Einzige war, die sich schlaflos durch die Nacht kämpfte. Doro war immer noch wach, ihr Kopf tief gebeugt über den langen Esstisch, den sie mit Papieren, Stiften und Laptop ausgestattet hatte. Das Bild kam ihr so vertraut vor. Wie viele Abende hatte Doro auf diese Weise am Küchentisch gesessen und selbstvergessen gemalt und gebastelt, während nebenbei Hörspiele auf dem CD-Spieler liefen. Doro zeichnete, zerknüllte das Papier und schleuderte es auf den Boden. Ein Meer aus Papierknäuel zeugte davon, dass sie nicht zufrieden war. Plötzlich sah sie auf und in Yellas Richtung.

»Der Frosch droht, die Aufführung zu schmeißen«, sagte sie.

»In einem Ganzkörperkondom kann ich unmöglich singen. Das Ding drückt mir auf die Lunge«, imitierte sie eine quäkende Stimme. »Er fordert, dass ich rausgeschmissen werde.«

»Simon Carlson?«, sagte Yella verblüfft. »Der Schauspieler?«

»Der Soapdarsteller will, dass sein Frosch sexy ist. Und der Regisseur will, dass er glücklich ist. Schließlich soll er das

Yella sah sie überrascht an. »Der hat dich heute Morgen über den grünen Klee gelobt«, wunderte sie sich.

»Die Probe lief katastrophal. Er hat vor Nervosität jedes Lied verhauen, und dann muss natürlich das Kostüm schuld sein. Wenn ich morgen früh keinen neuen Entwurf habe, beauftragen sie jemand anderes. Ich habe Wochen an den Kostümen gesessen. Und jetzt soll über Nacht alles geändert werden.«

Yella schüttelte den Kopf. Besonders verlässlich schien es in Doros Welt nicht zuzugehen. Sie hatte diese Geschichte in tausend Varianten von Doro gehört. Kein Wunder, dass sie so unter Strom stand.

»Wie hältst du es mit solchen Leuten aus?«, fragte Yella.

»Das ist wie im Wellenbad, mal schwimmst du oben, mal unten, beides ist nicht von Dauer«, witzelte Doro, aber in ihren Augen blitzten Tränen. Die sonst so starke und vehement auftretende Doro wirkte auf einmal verletzlich und schwach. Yella zog einen Stuhl heran und warf einen schnellen Blick auf Doros Kladde.

»Ich will den auch nicht als Frosch sehen«, sagte sie.

»Danke, du bist eine große Hilfe«, sagte Doro ernüchtert. »Soll ich dir die Nummer vom Regisseur geben, dann könnt ihr euch austauschen.«

»Darf ich?«, fragte Yella und griff nach dem Notizbuch.

»Der Depp kann sich keinen Text merken. Sie haben ihn nur angeheuert, weil er die Kids in die Theater bringen soll. Und jetzt soll ich schuld sein, wenn er nichts kann.«

»Ich zieh mir was anderes an«, sagte Doro.

Sie band die Haare zusammen, wischte sich das Make-up aus dem Gesicht, entfernte ihre künstlichen Wimpern und schlüpfte in einen Jogginganzug, der bestimmt viel Geld gekostet hatte. Als sie an den Tisch zurückkehrte, sah sie viel mehr aus wie ihre große Schwester und nicht mehr wie das Kunstobjekt, in das sie sich jeden Tag verwandelte. In der Hand schwenkte sie eine Flasche Prosecco.

»Ich dachte, die können wir köpfen, wenn es etwas zu feiern gibt. Aber wir können ebenso gut jetzt schon die Festlichkeiten starten.«

Sie kicherte, als der Korken knallte. »Ich bin immer unterwegs und weiß nicht mal, ob ich in die richtige Richtung renne«, sagte sie.

»Ich glaube, das geht uns allen so«, sagte Yella.

»Auf die richtige Richtung«, entgegnete Doro.

»Auf die Umwege«, sagte Yella.

»Gute Reise!«

Sie stießen an, die Gläser klangen gegeneinander. Doro leerte ihr Glas in einem Zug und schenkte sofort nach.

»Ich habe eine Pause verdient«, sagte sie.

Yella sah beunruhigt zu, mit welcher Geschwindigkeit Doro trank.

»Was würdest du ändern, wenn du die Zeit zurückdrehen könntest?«, fragte Doro.

»Keine Ahnung«, log Yella.

Dabei wusste sie nur zu genau, was sie tun würde. Sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihren Vater daran

»Ich lebe nach vorne, nicht nach hinten«, wich sie aus.

»Aber was ist, wenn der Anfang falsch war? Was ist, wenn wir alle einen Fehlstart hatten und wir deswegen sowieso keine Chance haben zu gewinnen?«

Yella schwieg.

»Es tut mir leid, Yella«, sagte Doro. »Ich erkenne mich manchmal selber nicht wieder.«

Yella spürte schon wieder Tränen aufsteigen. Seit sie mit Leo schwanger war, war sie nah am Wasser gebaut. Die Schwangerschaft hatte ihren Hormonhaushalt dauerhaft durcheinandergewirbelt. Edeka-Weihnachtswerbungen, sentimentale Youtube-Filme über heimkehrende US-Soldaten, romantische Komödien, Hochzeiten, Tagesschau-Berichte über Flüchtlingslager, Preisverleihungen: Sie war mühelos in der Lage, bei jeder Gelegenheit in Tränen auszubrechen. Leider auch bei Aufführungen im Kindergarten. Neulich hatte sie sich bis auf die Knochen blamiert, als Nicks Erzieherin in den Mutterschutz verabschiedet wurde und die Kinder ihr ein rührendes Ständchen sangen.

»Der Stress bringt mich um«, gab Doro zu. »Da haue ich Dinge raus, die ich gar nicht meine. Und dann verletze ich selbst die Menschen, die ich am meisten liebe. Frag mal Ludwig.«

Yella hatte miterlebt, wie aus dem dürren Kulissenbauer ein schwerer Mann geworden war, den so schnell nichts umhauen konnte. Er brauchte diesen dicken Panzer, um Doros Unbeherrschtheiten an sich abprallen zu lassen. Sie selbst war nicht so stressbeständig.

»War ich sehr schlimm?«

»Immer schon«, platzte Yella heraus.

»Ich will es nicht hören«, unterbrach Doro lachend. »Nicht jetzt. Nicht heute. Eigentlich überhaupt nicht.«

Doro schenkte wieder nach.

»Weißt du noch das eine Mal, als du mitten in der Nacht mit der Taschenlampe …«, setzte Yella an.

»Nein«, blockte Doro ab, noch bevor sie die Pointe landen konnte. »Daran erinnere ich mich nicht.«

Die Familienanekdote war so oft erzählt worden, dass es nur einen Halbsatz brauchte, um klarzustellen, worum es ging.

Yella lachte.

»Du bist mitten in der Nacht zu mir gekommen und hast so getan, als wärst du ein Geist.«

»Das war Helen.«

»Das warst du. Und du hast es nicht nur ein Mal getan. Du hast dir einen Spaß daraus gemacht, mich zu Tode zu erschrecken.«

»Oder Amelie. Amelie hatte es mit den Gespenstern.«

Yella schüttelte den Kopf.

»Du musst Amelie dankbar sein«, beharrte Doro auf ihrer Version der Geschichte. »Beim Theater sind solche Erfahrungen Gold wert. Ohne Trauma hast du nichts zu erzählen. Ganze Generationen Theatermacher leben von ihren Kindheitsdramen.«

»Aber ich bin keine Autorin«, sagte Yella. »Und du warst das mit der Taschenlampe.«

»Aber ich wünsche mir, es wäre jemand anderes gewesen«, sagte Doro kleinlaut. »Das muss doch auch zählen.«

»Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich mich zu dir legen, und wir würden gemeinsam Geister vertreiben«, sagte Doro.

Yella traute dem Frieden noch nicht ganz.

»Ich war immer ein bisschen neidisch auf dich«, gab ihre Schwester zögernd zu. »Ich kann vielleicht besser zeichnen, aber du hattest etwas zu erzählen. Weißt du noch, die kleinen Comics über den Pinguin, die du gemalt hast?«

»Ewig her«, sagte Yella.

Sie griff zur Flasche, aus der nur noch ein paar einsame Tropfen in ihr Glas rannen. Doro sprang auf und köpfte eine zweite Flasche.

»Und wie geht es dir wirklich, Yella?«, fragte sie. Ihre direkte Frage entwaffnete Yella.

»Ich weiß es nicht so genau«, gab sie erschöpft zu. »Es ist alles so unübersichtlich.«

»David?«, fragte Doro nach.

Yella nickte einfach. Der Kloß in ihrem Hals wurde mit einem Schlag so dick, dass sie kein einziges Wort mehr hervorbrachte.

»Es ist alles so schnell gegangen bei euch«, sagte Doro. »Kein Wunder, wenn du selber nicht mitkommst.«

Yella wusste, dass Doro recht hatte. Sie hatte David in ihrer schlimmsten Phase kennengelernt. Nach dem Tod des Vaters war ihr Leben zunehmend außer Kontrolle geraten. Sie war erst dreizehn gewesen, als ihr Vater verunglückte. Doch das Trauma sollte sie nie wieder loslassen. Mit Anfang zwanzig zog sie schlaflos durch die Berliner Nächte, verliebte sich in unerreichbare Männer und schlief mit den erreichbaren, für die sie nichts

Die Trauer über den Tod des Vaters hatte sich zu einem Geschwür ausgewachsen, das sie fast umbrachte. Mit Anfang zwanzig hatte sie keine Idee, wer sie war, und, was noch dramatischer war: Sie wusste nicht einmal, wer sie sein wollte und ob sie überhaupt leben wollte. In besonders dunklen Nächten wünschte sie sich, sie wäre in Holland am Straßenrand geendet und nicht ihr Vater.

»David hat mich gerettet«, sagte Yella.

»Ich dachte, es wäre Dr. Deniz gewesen«, lachte Doro. »Ohne den hättest du David nie kennengelernt.«

Doro hatte Yella damals zu einem Therapeuten geschleppt, der die Hälfte der Theaterleute, mit denen sie gerade zusammenarbeitete, behandelte. Dr. Deniz versuchte erst gar nicht, Yella zu erklären, dass es sich lohnte weiterzuleben. Er bestätigte sie in ihrer Ausweglosigkeit und gab ihr den Auftrag, ihren eigenen Nachruf zu verfassen: »De mortuis nil nisi bonum«, erklärte er. »Über die Toten nichts als Gutes. Einen positiven Nachruf zu schreiben, hilft, den Blick dafür zu schärfen, was man erreicht hat, und freundlicher auf die eigene Biografie zu schauen.«

Yella hatte nicht die geringste Lust auf die morbide Übung gehabt. »Ich will nicht zurückschauen. Meine Vergangenheit ist präsent genug in meinem Leben. Ich will sie lieber loswerden, als mich noch mehr mit ihr auseinanderzusetzen.«

»Ihre missglückte Kindheit gehört zu Ihnen, ob Sie jetzt wollen oder nicht«, war seine Antwort gewesen.

Yella verspürte keinen Wunsch, sich mit dem Tod des

Yella war nicht weiter gekommen, als ein sündhaft teures Notizbuch mit Ledereinband und einen schönen Stift zu erwerben, der sanft über das Papier geglitten war, als sie ihren Namen vorne hineinsetzte. Danach stockte der Schreibfluss. Vielleicht, hatte sie damals gedacht, lag es daran, dass das Wort nicht ihr Medium war. Yella liebte es, Dinge mit den eigenen Händen zu gestalten. Sie malerte in ihrer Wohnung, zimmerte, bohrte, baute Möbel und nähte Bezüge. Solange sie in Bewegung war, ging es ihr gut. Das Problem waren die Nächte, wenn sie keine Beschäftigung hatte.

Weil Yella keine Idee hatte, wo sie beginnen sollte, empfahl ihr ein Freund Davids Kurs in kreativem Schreiben. Dem jungen Autor gelang, was ihr Therapeut vergeblich versucht hatte. Er ließ sie die Vergangenheit vergessen. Sie verliebte sich in seinen klugen Kopf, den Klang seiner Stimme, die Art, wie er sich während der Seminarstunden durch den Raum bewegte, und seine schönen Sätze, mit denen er ihr erklärte, dass alles richtig und gut war. Er blieb vor ihrem Pult stehen und beobachtete, wie sie sich quälte, auch nur ein einziges Wort aufs Papier zu kritzeln. Sie verlor sich in seinen schönen dunklen Tiefseeaugen, die Leo geerbt hatte. Es gefiel ihr, dass auch sie ihn so offensichtlich aus dem Konzept brachte. Sie wusste

»Auf einen Drink?«, hatte Yella gefragt.

»Zum Frühstück. Irgendwann mal?«, war seine Antwort gewesen.

»Morgen«, schlug Yella vor.

»Dann lohnt es sich eigentlich nicht, sich heute noch zu verabschieden.«

So hatte alles angefangen.

Mit David an ihrer Seite fand sie Schlaf und das Glück, an eine Zukunft zu glauben. Sie hatte ihr angefangenes Notizbuch zugeklappt, den Rest der Therapie schriftlich abgesagt (Vielen Dank für Ihre Hilfe. Mir geht es schon viel besser) und sich kopfüber in das gemeinsame Leben gestürzt. Alleine das winzige Tattoo auf ihrem Oberarm mit dem Sterbedatum ihres Vaters erzählte von alten Wunden. Sie wurde in Rekordzeit schwanger, zog mit David zusammen und nahm übergangsweise einen Job an, bis er seinen zweiten Roman fertig haben würde, bekam ein zweites Kind und erhöhte die Stundenzahl, als David in seinem Text stecken blieb. Seine Vorstellungen von ihrem gemeinsamen Leben begannen alle mit dem Halbsatz: »Wenn ich mit dem Roman fertig bin, dann …« Er brauchte Ruhe und einen Tag ohne Termine, um in seine Geschichte zu finden. Schon die Ankündigung, dass am Nachmittag ein Paketbote kam, konnte ihn in tiefe Verzweiflung stürzen und seinen Arbeitstag ruinieren. »Wieso musst du mir das schon im Vorhinein erzählen?«, fragte er wütend. Das Zusammenleben gestaltete sich schwierig, und jede kleine Störung bot Anlass für

»Wir haben uns furchtbar gestritten«, gab Yella zu.

»Worum ging es?«, fragte Doro nach.

»Um Mama«, sagte sie. »Um die Einladung.«

»Und? Was machen wir diesmal falsch?«, hatte David mit ätzendem Unterton gefragt, als sie den Brief öffnete.

Er ärgerte sich schwarz über die Angewohnheit seiner Schwiegermutter, ihnen ungefragt Ratschläge via Post zukommen zu lassen. In der Altpapierkiste im Flur befanden sich bereits ein Artikel über die Gefahren von Zucker und Farbstoffen für Kinder (Hyperaktiv durch Fruchtgummis?), Abgaswerte im Wedding (So krank macht die Berliner Luft, Luft, Luft), die positiven Nebenwirkungen von Kinderchören (Singen ist Kraftfutter fürs Kindergehirn), die Zusammenhänge von Impfen und Autismus (Die verschwiegene Wahrheit) sowie ein Artikel über Umschulungsangebote für Künstler, der David besonders erbost hatte (Cyber für Schriftsteller: die zweite Karriere).

»In den Augen meiner Mutter mache ich alles falsch«, stöhnte Yella.

»Du weißt, ich mische mich nie ein …«, imitierte Doro die Stimme ihrer Mutter. »Aber hast du gesehen, was Lucy anhat? Doro, du kannst deine Tochter doch nicht im Ernst bauchfrei in die Schule schicken, Doro, du arbeitest zu viel, Doro, du solltest mehr essen, Doro, du solltest weniger essen. Wenn ich dir einen Tipp geben darf, Doro … Mach dir nichts draus, Yella. So ist sie eben. Sie meint es nur gut.«

»Das ist vielleicht das Allerschlimmste«, sagte Yella.

»Auf die gut gemeinten Ratschläge«, sagte Doro und stürzte das halbe Glas herunter.

»Ich bin perfekt im Scheitern«, sagte Doro. »Und für den Rest habe ich mir den richtigen Mann ausgesucht. Jeder sollte einen Ludwig haben.«

Doro hatte den wortkargen bayerischen Bären als Kulissenbauer an einem Münchner Theater kennengelernt und sofort für ihr Atelier abgeworben. Die Liebe wuchs mit seiner Hingabe für ihre Arbeit. In seinen großen Händen, mit denen er alles reparieren konnte, hielt er grundsätzlich eine Tasse schwarzen Kaffees oder eine Zigarette, während er den Mitarbeitern des Studios geduldig erklärte, was Doro meinte, wenn sie wieder mal durchs Atelier fegte und grob wurde.

»Ludwig ist immer zur Stelle, wenn was schiefgeht. Für ihn wird es erst interessant, wenn es quietscht und klappert«, lobte sie.

»David ist der richtige Mann«, sagte Yella. »Er hat eben einen besonderen Beruf.«

»Du musst ihn nicht ständig verteidigen«, sagte Doro. »Du darfst auch mal an dich denken.«

»Mama und David sind einfach nicht kompatibel«, sagte Yella.

Und das war noch höflich ausgedrückt. Wenn David Yella im Streit an den Kopf warf »Du klingst wie deine Mutter«, war das nie als Kompliment zu werten. Der Universalkiller war die beliebteste Abkürzung zu größeren Auseinandersetzungen.

Und plötzlich brach es aus Yella hervor. Ihre innere Pressesprecherin hatte offensichtlich kurzfristig gekündigt. Es tat gut, endlich laut auszusprechen, was sich abgespielt hatte. Davids Reaktion auf die Einladung war nämlich ebenso deutlich wie

»Ich habe alles getan, ihn davon zu überzeugen, dass es nur ein paar Tage sind. Und seine Eltern könnten auf die Jungs aufpassen«, erzählte sie.

»Vielleicht ist es was Schlimmes«, hatte sie argumentiert.

»Fünf Tage mit Henriette sind schlimm genug«, war seine Antwort gewesen. »Da muss sie noch nicht einmal einen Anlass haben.«

»Er hat das Seminar«, erklärte sie Doro. »Aber das hätte er vielleicht verschieben können.«

»Du klingst wie ein bockiges Kleinkind«, hatte Yella David vorgeworfen.

Seine Reaktion war gleichermaßen harsch ausgefallen: »Henriette ruft, und du springst«, hatte er sich beschwert und den Brief zum Altpapier geworfen. »Du musst endlich lernen, dich gegen diese Übergriffe zu wehren.«

»Sie ist meine Mutter«, hatte Yella gesagt.

»Seit wann?«, fragte er.

David kannte die Thalberg’sche Familiengeschichte in- und auswendig. Er wusste, wie einsam Yella sich nach dem Tod des Vaters gefühlt hatte. Als Teenager hatte sie sich an Henriettes zweitem Ehemann abgearbeitet, der viel zu schnell eingezogen war, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter für sich reklamierte und den vier Töchtern Vorschriften machte. »Ich weiß genau, was euer Vater für euch wollte«, behauptete er. Dabei kannte er Johannes Thalberg nur aus den Erzählungen ihrer Mutter. In der Phase, in der Yella am dringendsten eine Bezugsperson gebraucht hätte, badete Henriette Thalberg im Glück einer neuen Liebe. Und doch machte es Yella jedes Mal

»Sie tut dir nicht gut«, hatte David ein bisschen friedliebender eingelenkt. »Du bist jedes Mal hypergestresst, wenn wir sie besuchen.«

»Und was soll ich meiner Mutter ausrichten, warum du nicht mitkommst?«, hatte Yella gefragt.

»Mir egal. Sie hört ja doch nicht zu.«

Yella amtete einmal tief durch und erzählte Doro wortwörtlich, was David ihr alles an den Kopf geworfen hatte. »Sag einfach die Wahrheit«, hatte er vorgeschlagen. »Ich bin nicht mitgekommen, weil ich sie nicht leiden kann. Ich habe eine schwere Schwiegermutter-Allergie.«

Doro lachte herzhaft auf.

»Nichts ist so anstrengend wie eine Schwiegerfamilie«, bestätigte sie kichernd. »Frag mich mal. Meine ist so bayerisch, wenn die mich ansprechen, verstehe ich nur Bahnhof. Die sind überzeugt davon, dass ich mundfaul bin, weil ich nie an der richtigen Stelle antworte.«

Wenn Yella ehrlich war, tat sie sich mindestens ebenso schwer mit Davids Eltern, die sich verhielten, als habe ihr Sohn aus

»Schwiegermutter-Allergie«, prustete Doro wieder los. »Der ist gut.«

Ihr unkontrolliertes Lachen hatte etwas Befreiendes. »Ich glaube, 50 Prozent aller Menschen sind davon betroffen«, sagte sie. »Das ist eine Volksseuche.«

Wie gut es tat, ihre Ängste und inneren Kämpfe in Worte zu kleiden und die Ärgernisse wegzulachen. Vielleicht hatte Doro recht, und es war das Beste, sich und alle anderen nicht so ernst zu nehmen.

»Lass uns darauf einen trinken«, sagte Doro.

Yella nickte. Dieses Glas, das wusste sie, war zu viel. Aber es fühlte sich so gut an, so vertraut mit Doro zu sprechen.

Yella war dankbar für Doros offenes Ohr und ihren robusten Humor. Sie schämte sich ein kleines bisschen, so schlecht über ihre Schwester gedacht zu haben. Schwesternstreit war offenbar in Alkohol löslich und Bergen der schönste Ort der Welt. Vielleicht sogar der einzige Ort auf dieser Erde, wo man familiäre Differenzen hinter sich lassen und neu zueinanderfinden konnte. Als erwachsene Frauen.

»Ich habe eine Idee für dich«, sagte Yella plötzlich. »Wegen dem Frosch.«

Sie griff wieder nach dem Notizbuch, das noch immer vor ihnen auf dem Tisch lag, und suchte das Muster weichen Samts in Grün- und Brauntönen, das sie vorhin gesehen hatte.

»Dieser Stoff fühlt sich gut an«, sagte Yella.

»Und wenn schon«, meinte Yella.

»Ich könnte Simon im Vorhang einwickeln«, sagte Doro. »Dann fällt es nicht mehr auf, dass er nicht singen kann.«

»Warum verzichtest du nicht auf das Kostüm?«, schlug Yella vor.

»Weil ich dafür bezahlt werde, ihm was auf den Leib zu schneidern«, sagte Doro. »Nackt geht nicht im Musical.«

Yella schwebte Nicks Pandaverkleidung vor Augen, die sie neulich in letzter Minute für das Sommerfest in der Krippe zusammengestellt hatte. Statt einer Maske trug ihr kleiner Sohn schwarz-weiße Kleidung und einen Regenschirm, auf den sie große Pandaaugen geklebt hatte. Was für Nick gut war, eignete sich vielleicht auch für einen Schauspieler, der als Möchtegern-Doktor Karriere gemacht hatte.

»Du ziehst ihn ganz normal an, wie einen Dandy. Dazu trägt er einen Schirm mit Froschaugen. Dann hat er mehr Bewegungsfreiheit, und man erkennt ihn.«

Doro sah sie verblüfft an: »Das hat nichts mehr mit seiner Rolle zu tun.«

»Nicht mit Frosch, aber alles mit dem Schauspieler. Dem sexy Arzt von Station 17 verzeiht man alles.«

»Der kann nicht singen.«

»Macht doch nichts«, sagte Yella. »Das ist wie bei Pierce Brosnan in Mamma Mia. Solange er sexy dabei aussieht, ist vollkommen egal, wie er singt.«

Doro kommentierte ihren Vorschlag mit keinem weiteren Wort. Sie griff zum Stift und skizzierte einen coolen Herrenanzug. Daneben zeichnete sie eine Art Regenschirm, von dem Dutzende überdimensionierte rot leuchtende Froschaugen sie

Doro fotografierte ihr Werk. Drei Sekunden später hing das charakteristische Geräusch einer ausgehenden Mail in der Luft.

»Wir sind ein gutes Team«, sagte sie gerührt und mit schwerer Stimme. »Immer schon gewesen.«

Der Morgen dämmerte bereits über den Dünen herauf, als Yella leicht betrunken, aber getröstet in ihr Bett sank.

»Bis morgen, kleine Schwester«, sagte Doro sanft, bevor sie die Decke über Yella zog. »Was auch immer passiert, wir haben immer noch uns. Wir bleiben die Sommerschwestern.«

»Versprochen«, sagte Yella, schon im Halbschlaf. »Für immer und ewig.«