»Yella, wo bleibst du denn?«

»Yella, Schlafmütze.«

»Yella, willst du Kaffee?«

Der Morgen begrüßte Yella mit Glockengeläut, einem heftigen Kater und dem Geruch frisch aufgebackener Brötchen.

»Noch ein paar Minuten«, murmelte sie und drehte sich noch einmal um. Als sie wieder aufs Telefon sah, erkannte sie erschrocken, dass es bereits nach zehn Uhr war. War es die ungewohnte Stille, war es der Prosecco oder der chronische Schlafmangel, der sie in einen komaähnlichen Zustand versetzt hatte? Wann hatte sie das letzte Mal so lange geschlafen? Auf dem Handy standen sechs Mitteilungen von David, der im Modus heller Aufregung fragte, wo sie das Geschenk für Penelope hingelegt hatte. Und eine siebte Mitteilung, dass er sich anderweitig beholfen hatte.

Ihr Kopf protestierte gegen jede Bewegung, als sie sich vom Stockbett auf den Boden sacken ließ. Schwankend klammerte sie sich am Treppengeländer fest und nahm vorsichtig jede einzelne Stufe. In der Küche stieß sie gegen eine leere Proseccoflasche, die in eine Ecke rollte, wo sie mit ihren Artgenossen zusammenstieß. Ihr Kopf bestätigte ihre Befürchtungen. Hatten sie wirklich drei ganze Flaschen geleert? Unmöglich. Sie trank nie.

»Wo sind Amelie und Doro?«, fragte Yella.

Ihre Zunge klebte schwer und pelzig im Mund.

»Schwimmen«, sagte Helen. »Das heißt, Doro wollte schwimmen, und Amelie bewundert sie dafür. Die traut sich erst ab Badewannentemperatur ins Meer.«

»Und wo willst du hin?«

Helen winkte ihr zu. »Wir sehen uns am Pannenkoekenhuis«, sagte sie.

Yella hatte eine vage Ahnung, dass ihre Pläne etwas mit Pauls nächtlichem Auftritt zu tun hatten. Bevor sie sich weiter erkundigen konnte, war Helen bereits aus dem Haus gestürmt.

 

11.30 Uhr? Yella checkte auf ihrem Handy die Strecke. Google Maps verkündete, dass das Restaurant ungefähr zwei Kilometer entfernt lag, das war locker zu schaffen. Eilig spritzte Yella sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht, putzte zweimal die Zähne, um den unangenehmen Geschmack der Alkoholnacht aus dem Mund zu spülen, schlüpfte in die Jeans von gestern und einen neuen Pullover, der die Bezeichnung nicht verdiente.

Das würde ein guter Tag werden, sagte sie sich. Als sie die Tür vom Ferienhaus öffnete, schlug ihr angenehm kühle Nordseeluft entgegen. Am Himmel jagten Wolken über sie hinweg ihrem unbekannten Ziel entgegen, der Wind blies ihr ein paar Regentropfen ins Gesicht. Nach der langen Nacht eine wahre Wohltat. Sie stapfte los und hörte nebenbei noch einmal ihre Nachrichten ab.

Im Hintergrund hörte Yella das fröhliche Glucksen ihres kleinen Sohns, der sich vor Lachen ausschüttete.

»Nick hat keine Zeit«, sagte Leo trocken. »Der guckt mit Papa Youtube-Videos. Tschüss, Mama.«

Yella atmete auf. David bewältigte spielend das Leben mit den beiden Jungs. Ihr eigener Vater hatte im Kölner Alltag der Familie kaum eine Rolle gespielt. Als Gegenleistung für endlos lange Sommerferien ließ er sich den Rest des Jahres von seinem eigenen Vater und der ungeliebten Arbeit im Familienbetrieb auffressen. Zum Glück gehörte David einer Generation Mann an, die sich nicht nur als Urlaubspapa einbrachte, sondern es wertschätzte, auch in der Schulzeit viel Zeit mit den Kindern zu verbringen. David war ein großartiger Vater und immer für seine Söhne da. Ihre drei Männer amüsierten sich großartig ohne sie. Vielleicht hatte es sein Gutes, redete Yella sich ein, dass David sich so energisch geweigert hatte, sie zu begleiten. Ohne den Störsender im Ohr, der ihr ununterbrochen unangenehme Wahrheiten einflüsterte, schien es ihr leichter, mit ihrer Herkunftsfamilie umzugehen. Ganz zu schweigen davon, dass ihre Jungs ihr wohl kaum Gelegenheit gegeben hätten, ein ungestörtes Gespräch zu führen.

Nach wenigen Schritten bog Yella vom gestrigen Weg ab. Links ging es Richtung Strand, rechts zum Pannenkoekenhuis. Yella wunderte sich, warum hier neuerdings Zäune und schwere Zugangstüren platziert waren. Sie musste ihre ganze

Sie hörte plötzlich Rascheln und schweres Atmen hinter sich und zuckte erschreckt zusammen. Aus dem Busch brach eine pinkfarbene Frau hervor.

»Als je rustig blijft en afstand houdt doen ze niks«, sagte sie im Vorbeilaufen.

Die Einheimischen waren gewöhnt an Touristen. Als sie das Unverständnis in Yellas Gesicht wahrnahm, wechselte sie postwendend ins Deutsche.

»Schottische Hochlandrinder sind nicht gefährlich«, rief die Joggerin ihr zu. »Die tun nichts, solange man Abstand hält und die Muttertiere in Ruhe lässt.«

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, setzte die

Yella kicherte hysterisch. Was suchten diese Hochlandviecher im Dünengebiet, dessen höchste Erhebung kaum fünfzig Meter überstieg? Mussten die imposanten Biester ausgerechnet hier und jetzt dafür sorgen, dass die Biodiversität gewahrt blieb? Und was war ausreichend Abstand?

Vorsichtig schob sie sich näher, erst einen Schritt, dann zwei. Wenn die wirklich gefährlich wären, würden sie wohl kaum frei rumlaufen, sagte sie sich vor. Leider bewiesen Yellas Erfahrungswerte, dass ihre pure Anwesenheit eine negative Wirkung auf Haustiere aller Art hatte. Beim Ausflug des Kindergartens auf den Ponyhof trat das Minipferd nach ihr, der Nachbarsmops schnappte grundsätzlich nach ihren Waden, selbst die wollige Bürokatze wehrte sich, wenn sie auch nur versuchte, sie zu streicheln. Eine hastige Internetrecherche ergab, dass die Dünenrinder eher Flucht- als Angriffstiere waren.

»Hallo Kuh«, sagte sie laut, in der Hoffnung, dass das Monstrum eine freundliche Behandlung wertschätzen würde.

Das Tier erwachte aus seiner Lethargie und starrte sie aus feuchten Rinderaugen an. Ihm hingen noch Grasbüschel im Maul, als stünde das Tier Modell für einen Kalender.

Vorsichtig schob Yella sich an dem haarigen Koloss vorbei und folgte dem weiten Bogen des Weges. Hinter der Kurve lauerte neues Ungemach. Vor ihr, nur wenige Meter entfernt, standen zwei Muttertiere mit ihren Jungen. Hinter ihr trabte der Bulle auf sie zu. Ihr Puls, seit der Einladung permanent auf erhöhtem Niveau, stieg ins Unermessliche. Ihr Blick schweifte in alle Richtungen, um ihre Fluchtmöglichkeiten

Yella wich mit einem panischen Sprung in die Büsche aus. Sie verzog den Mund angesichts der schmerzenden Brennnesseln, sprang über einen umgestürzten Baum, durchquerte dorniges Gestrüpp, passierte die Pferdespur und fand einen Trampelpfad, der sich nach wenigen Metern gabelte. Zahllose Wander- und Fahrradwege durchkreuzten das Gebiet, überall taten sich Wege auf, die zu immer neuen Knotenpunkten führten, von denen es in unterschiedliche Richtungen weiterging. Wo waren die Wegweiser geblieben?

Yella hatte sich so sehr vorgenommen, das verlängerte Wochenende mit ihrer Mutter zu einem Erfolg zu machen. Sie wollte wiedergutmachen, was beim letzten Mal zwischen ihnen schiefgegangen war. Sie lag eins zu null zurück. Mindestens. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie zu spät kommen. Nach dreimaligem hektischen Abbiegen war Yella sich nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt in die richtige Richtung lief. Früher war ihr das Gebiet vertraut wie ihre Westentasche gewesen. Alles sah so anders aus. Angst war ein schlechter, Panik