Waar heb je trek in? Worauf hast du Appetit? Yella seufzte erleichtert auf, als sie endlich das große Schild erreichte, das seit Jahrzehnten Besucher vom Hauptweg zu der versteckt gelegenen Waldgaststätte lockte. Über der endlosen Liste mit Pfannkuchen in allen Variationen baumelte ein rundes Holzschild, das dem geneigten Wanderer mitteilte, dass das Restaurant heute für eine »Besloten gezelschap« reserviert war: geschlossene Gesellschaft. Hungrige und durstige Spaziergänger konnten sich jedoch am Kiosk mit Eis, Getränken und kalten Speisen eindecken. Daneben wiesen Pfeile den Weg zum Spielplatz, zum Streichelzoo und zu der Minigolfanlage. Der Minifreizeitpark war schon zu Zeiten der Sommerschwestern ein äußerst beliebtes Ausflugsziel für die ganze Familie gewesen. Gerührt sah Yella sich um. Hier war die Zeit stehen geblieben. Das Pannenkoekenhuis, eine tiefgrüne Holzhütte, die eher an einen Schuppen als an ein Restaurant erinnerte, lag noch genauso verwunschen zwischen den dunklen Bäumen wie früher. Dieselben bunten Lampions, die im Wind schaukelten, dieselben einfachen Picknickgelegenheiten, bei denen Tisch und Bank zu einer festen Einheit verwachsen waren, dieselben leuchtenden Ola-Sonnenschirme. Wie oft hatte sie mit ihren Schwestern auf den Klettergerüsten des Spielplatzes geturnt oder geschaukelt oder selig die Kaninchen im Gehege gestreichelt, während sie auf ihre Pfannkuchen warteten? Wie oft waren sie abends für eine Partie Minigolf hierhergekommen?
Vor der Eingangstür hielt eine imposante Gestalt Stellung, umgeben von der enormen Rauchwolke seiner E-Zigarette: Ludwig. Yella vermied einen Blick auf die Uhr. Sie wusste auch so, dass sie zu spät war. Ihr Schwager umarmte Yella mit so unverhohlener Freude, dass ihr der Atem wegblieb. Yella konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er seit ihrem letzten Treffen noch ein bisschen mehr zugelegt hatte. Sie verschwand fast in seiner Umarmung und dem Geruch von Sägespänen und Motoröl, der in seiner Lederjacke hing.
»Schön, dass du uns gefunden hast«, sagte er ohne jede Ironie.
Doro, die Ludwig beim Rauchen Gesellschaft leistete, war weniger friedlich gestimmt.
»Da bist du ja endlich«, sagte sie ungehalten.
Wie machte Doro das nur? Nach dem morgendlichen Bad in der Nordsee wirkte ihre große Schwester wie aus dem Ei gepellt. Die kurze Nacht, der Stress und der viele Alkohol hatten keinerlei Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Während Yella sich in T-Shirt und Hose geworfen hatte, ähnelte Doro einer ihrer Theaterfiguren. Overdressed in einem ausladenden gelben Tüllkleid mit großen Puffärmeln, perfekt geschminkt, die Haare sorgsam glatt gezogen, überstrahlte sie alle. Wie hieß ihre Musikgruppe früher so typisch? Doro und der Rest! Yella wünschte, Doros Talent, sich in Szene zu setzen, würde ein bisschen mehr auf sie abfärben.
»Es tut mir leid«, stammelte sie, »aber ich bin einem dieser Rinder begegnet. Kennst du diese langhaarigen Biester, die laufen frei rum …«
»Komm einfach rein, Yella«, unterbrach Doro gereizt. »Wir warten alle nur auf dich.«
Yella schwitzte, ihr Kopf brummte, sie fühlte sich ein bisschen schwindelig, als sie den Gastraum betrat. An einer langen rustikalen Tafel hatte dicht an dicht Yellas Familie Platz genommen. Ihr Blick blieb an ihrer Mutter hängen, die an der Stirnseite thronte. Fast hätte sie die Frau in dem pastellfarbenen Kleid nicht erkannt. Ihre Haare fielen in einem lockigen Bob auf die Schultern und verdeutlichten eindrucksvoll, wie lange sie einander nicht mehr gesehen hatten. Nach Johannes Thalbergs Tod war ihre lange Mähne einer strengen Kurzhaarfrisur und noch strengerer Miene gewichen. Ihr zweiter Ehemann sah sie am liebsten im konservativen Kostüm und gedeckten Farben. Mit fast siebzig ähnelte sie auf einmal wieder der jungen Frau im korallenfarbenen Bikini. Hatte Doro sie unter ihre Fittiche genommen? Erfand ihre Mutter sich gerade neu? War ihr wieder eingefallen, wer sie einmal gewesen war? Yella musste zugeben, dass ihr der weichere Look großartig stand. In allerbester Laune flirtete Henriette Thalberg ungeniert mit dem Ober. Sie kicherte, gurrte und benahm sich wie ein Teenager.
»Ich hatte schon immer eine Schwäche für Holländer«, verkündete sie und blitzte den Mann an.
»Habt ihr gesehen, wie er läuft?«, schwärmte sie. »Und diese Hände. Ich mag Hände, die zupacken.«
Ihre Stimme klang ein bisschen zu hoch, zu falsch und verriet ihre Anspannung. Plötzlich fiel Henriettes Blick auf die Tür. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Meine Zweitgeborene braucht immer eine Extraeinladung«, sagte sie. »Die musste schon bei der Geburt mit der Zange geholt werden.«
Alle lachten.
Blitzartig wurde Yella von Bildern aus der Vergangenheit eingeholt. Die alten Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden, die altertümliche Einrichtung, das Gelächter der Schwestern, das quälende Gefühl, vor versammelter Mannschaft bloßgestellt zu werden. Auf einmal fiel es Yella wieder ein: Hier hatten sie auch am Tag des Unfalls gegessen, und sie war das Gespött ihrer Familie gewesen, weil sie auf dem Weg vom Strand getrödelt und sich dann verlaufen hatte.
»Wenn man sich verirrt hat, muss man an den Ort zurückkehren, an dem man die falsche Abzweigung genommen hat«, hatte ihr Vater gerufen. »Aber das gilt nicht für Yella. Die bleibt am besten stehen und wartet, bis jemand sie abholt.«
Im Gegensatz zu Amelie, die begeistert war, an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren, hatte Yella in den letzten Jahren alles dafür getan zu vergessen. Vor allem den letzten Sommer, in dem alles anders gewesen war. Auf einmal stand es ihr wieder glasklar vor Augen. Vielleicht waren sie nie die glückliche Familie gewesen, an die sie sich so gerne erinnern wollte? Noch nicht einmal vor dem Unfall. Der letzte Tag mit ihrem Vater war alles andere als harmonisch verlaufen. Sie schüttelte sich und rief sich selber zur Ordnung. Sie wollte nicht in die Vergangenheit eintauchen. Sie hatte genug mit der Gegenwart zu tun. Sie hatte sich so fest vorgenommen, alle Differenzen mit ihrer Mutter auszuräumen. Sie wollte gutmachen, was bei dem Kölner Essen schiefgegangen war. Doch in Henriette Thalbergs Welt existierte keine Verjährung.
»Ihr lacht«, amüsierte sich ihre Mutter über Yellas spätes Eintreffen. »Aber ich hing zehn Tage am Tropf, so viel Blut, Schweiß und Tränen hat mich Yellas erster Auftritt gekostet. Aber am Ende bist du da. Und das ist die Hauptsache.«
Sie sprang begeistert auf, um Yella zu begrüßen, als hätte es nie auch nur die leiseste Verstimmung zwischen ihnen gegeben. Yella atmete erleichtert auf. In ihren Albträumen hatte sie eine gebrochene Frau vor sich gesehen, die ihre Familie mit einer tödlichen Diagnose konfrontierte. Henriette Thalbergs unbefangene Art, sie willkommen zu heißen, beruhigte ihre flatternden Nerven. Wer so lächelte, überbrachte keine schlechten Nachrichten. Wer so lächelte, hegte keinen Groll mehr über ein missratenes Familienessen.
Ihre Mutter nahm sie wortlos in den Arm. Der leise Hauch ihres Parfüms hüllte sie ein. Sie roch ein bisschen nach Zitrus und Orange, nach Bergamotte mit einem leisen Akzent Frucht. Die Männer an der Seite ihrer Mutter wechselten, ihr Parfüm blieb immer gleich. Mitsouko bedeutete »Geheimnis« auf Japanisch: Henriette sprayte den Duft auf ihre Kleidung, die Gardinen, auf Möbel, selbst im Urlaub sprühte sie einen Hauch auf die fremde Bettwäsche. Mitsouko roch nach zu Hause.
Einen Moment lang war Yellas Welt in Ordnung. Aller Druck fiel von ihr ab. Ihre Mutter wirkte ausgelassen und fröhlich. Vielleicht hatte Amelie recht mit ihrer Theorie, und das angebliche Geheimnis war nur ein kleiner, feiner Trick, die ganze Familie auch einmal kurzfristig an einen Tisch zu bekommen.
Erleichtert nahm Yella an der Stirnseite Platz, genau gegenüber ihrer Mutter und Doro. Yella registrierte betroffen, dass David und ihre beiden Jungen als Einzige in der Runde fehlten. Neben ihr spielte ihre dreizehnjährige Nichte Lucy desinteressiert auf ihrem iPhone herum, zu ihrer Linken hatten Helen und Amelie Platz genommen, rechts Ludwig und Paul. Ihre beiden Schwager hatten etwas von einem komischen Duo. Barock, mächtig und wortkarg der eine, intellektuell, eloquent und elegant der andere. Während Ludwig in sich ruhte, starrte der Architekt nervös in Helens Richtung und versuchte krampfhaft, ihren Blick einzufangen. Ihre Schwester ignorierte ihn demonstrativ und tat so, als wäre sie komplett absorbiert davon, sich ein Glas Wasser einzuschenken. Yella hätte schwören können, dass die beiden am Vorabend gestritten hatten, und auch jetzt konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass zwischen den beiden mehr als nur dicke Luft herrschte. Yella verstand Helens Not nur zu gut. Wenn sie ihre Beziehungsprobleme nicht live vor ihrer Familie austragen wollte, blieb ihr keine andere Wahl, als für die Dauer des Essens gute Miene zu Pauls überraschender Anwesenheit in Bergen zu machen. Wenn es etwas gab, was die beiden zu klären hatten, war dies der falsche Ort und der falsche Zeitpunkt. Noch irritierender aber war der eingedeckte Platz zwischen Paul und Ludwig. War dieser Stuhl für David reserviert? Erwartete ihre Mutter einen weiteren Gast?
»Habe ich etwas verpasst?«, fragte Yella mit gespielter Fröhlichkeit.
Niemand aus der Runde antwortete. Yella fing die gereizte und überhitzte Stimmung auf, als ihr Blick über die Schwestern glitt.
»Jetzt komm erst mal zu Atem«, sagte ihre Mutter.
Amelie sah sie mitleidig an, Helen schob ihr ein Erfrischungstuch zu, was kein gutes Zeichen war.
»Können wir ein bisschen Wasser haben?«, rief Doro dem Kellner zu, als wäre sie die Chefin der Veranstaltung.
Henriette Thalberg klopfte an das Glas, um das Wort zu ergreifen. »Ich weiß, dass ich euch überfahren habe. Umso dankbarer bin ich, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid.«
Ihre Stimme klang ein bisschen wacklig, aber ihre Wangen glühten vor Aufregung. Sie setzte zu einer großen Rede an.
»Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass ihr viele Fragen habt. Aber wir sind vor allem hier, um zu feiern. Wir haben viel zu wenig gefeiert in den letzten Jahren.«
Doro drehte sich um und gab der Küche ein Signal. Postwendend erschien der Ober mit einem Tablett Gläser und Prosecco. Sie weiß Bescheid, durchfuhr es Yella. Doro war wie immer bestens informiert und hatte kein Interesse daran, andere an ihrem Herrschaftswissen teilhaben zu lassen. Der theatralische Schwur am gestrigen Abend entpuppte sich als eine einzige große Lüge.
»Doro, Yella, Amelie, Helen«, begann ihre Mutter zeremoniell und sah jeder von ihnen in die Augen. »Ich weiß, dass ich euch nicht immer die allerbeste Mutter war. Ich wünschte, ich hätte in den schwierigen Jahren mehr bei euch sein können. Umso glücklicher bin ich, dass ihr heute hier seid. Ich wollte, dass dieser Flecken Erde, an dem wir die schlimmsten Stunden unseres Lebens ausgestanden haben, zu einem Ort wird, an dem eine neue Zeitrechnung für uns als Familie beginnt.«
Yella spürte einen dicken Kloß im Hals. Amelie wischte eine Träne aus dem Augenwinkel. Doro stieß Lucy an, um sie aus ihrer Social-Media-Welt zu wecken. Ihre Nichte richtete die Kamera auf ihre Großmutter, als wisse sie genau, dass gleich etwas Entscheidendes passieren würde, das ihrer aller Leben verändern würde.
»Aber erst mal essen wir einen kleinen Happen«, sagte Henriette.
Lucy ließ die Kamera sacken. Yella wünschte sich sehnsüchtig David an ihre Seite, jemanden, an den sie sich anlehnen konnte. Verstört kippte sie den Prosecco runter. Der Alkohol auf nüchternen Magen bekam ihr nicht. Schon der Anblick der Vorspeise, die plötzlich vor ihr stand, versetzte ihre Eingeweide in Panik.
Früher hatten sie hier Apfel- oder Speckpfannkuchen bestellt, ganz verwegene in Kombination mit Ananas und mit dickem Sirup und Puderzucker bedeckt. Jetzt lachte sie auf ihrem Teller ein winziger tiefgrüner Pfannkuchen an. Obenauf schwamm rot glänzender Kaviar in einem braungrünen Nest.
»Ist das Seetang?«, fragte Amelie begeistert und fotografierte die Vorspeise für Instagram. Seit dem überraschenden Erfolg ihrer Story mit dem älteren Paar auf der Terrasse hatte sie jede Menge neuer Follower gewonnen.
Der Geruch von Salz, Meerwasser und brackigen Algen stieg Yella in die Nase. Sie hatte die Vorteile eines Katerfrühstücks nie recht verstanden. Während die anderen wortreich den Minipfannkuchen lobten, der, wie sie hörte, tatsächlich aus frisch geernteten Nordseealgen hergestellt war, führte sie ein Zwiegespräch mit ihrem rebellierenden Magen.
»No way«, rief er ihr zu. »Echt nicht. Kann ich erst eine Tasse Kaffee haben? Oder ein Alka Seltzer?«
Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. David konnte zum Frühstück mühelos kalte Spaghetti vom Vortag vertilgen, die Reste vom Schnitzel verputzen oder sein Käsebrot mit Jalapeños belegen. Sie selber hielt sich morgens lieber an die Reste Nutellabrot, die sie im Laufschritt von den Tellern ihrer Söhne pflückte.
Die Vorspeise wurde verbal filetiert. Alle stürzten sich begeistert auf die Details.
»Und die Algen muss man wässern, bevor man sie zubereiten kann?«, fragte Hobbykoch Ludwig interessiert.
Normalerweise schwieg der bayerische Buddha sich durch die Thalberg’schen Familientreffen. Doch jetzt kam Leben in ihn. Nicht umsonst war er Mitglied eines Kölner Männerkochclubs. Wohl auch als Ausgleich für den Frauenüberschuss in seiner Familie kam er einmal im Monat mit seinen Freunden zusammen, um unbehelligt von weiblicher Einmischung die kompliziertesten Gerichte auszuprobieren. Ludwigs übertriebenes Interesse an der Zubereitung von Algen offenbarte, dass der erklärte Liebhaber mediterraner Küche Holland bislang für ein kulinarisches Entwicklungsland gehalten hatte.
Yella verstand nur zu gut, dass es in Wirklichkeit um etwas anderes ging. Ihre Familie erging sich in Lobreden auf die Vorspeise, um mit Worten die in der Luft hängende elektrische Spannung zu bannen. Einzig Paul blickte ein wenig skeptisch auf seinen Teller. Das lag, so vermutete Yella, nicht an den Algen, sondern an der Unübersichtlichkeit der Mahlzeit. Schon im Studium stand der erklärte Purist nicht auf Zierrat und überflüssiges Dekor. Weder bei Bauwerken noch auf seinem Teller. Seine Vorliebe für eine einfache gutbürgerliche Küche war legendär. »Wir haben eben ein Bratkartoffelverhältnis«, hatte Helen einmal erklärt. Seine angeborene Höflichkeit ließ ihn jedoch auch bei Algen kommentarlos zugreifen. Pauls Magen war wohl robuster als der ihrige.
»Ich warte noch ein bisschen«, sagte sie auf Doros auffordernden Blick hin.
Wozu brauchte es eine Vorspeise, wozu den Moment der großen Eröffnung weiter hinauszögern? Warum mussten sie überhaupt essen? Seit der Brief in ihren Briefkasten geflattert war, lebte sie in konstanter Alarmstimmung. Sie wollte keine delikate Vorspeise serviert bekommen, sie wollte nur noch wissen, worum es ging.
»Probier einfach, Yella,«, sagte ihre Mutter in einem Ton, mit dem man bockigen Kindern weich gekochtes Gemüse schmackhaft machte. »Yella war schon immer ein problematischer Esser«, erklärte Henriette lachend in die Runde.
Yella schluckte den Ärger runter. War man ein problematischer Esser, wenn man auf normales Frühstück stand? Bei Berliner Beans in ihrer Straße schlürften ihre hippen Nachbarn gerne mit blauem Algenpulver gefärbten »Ocean-Latte«. Yella trank am allerliebsten Filterkaffee ohne jeden Schnickschnack. Die Bemerkung ihrer Mutter reichte, ungewollt die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Yella pikste mit der Gabel vorsichtig in den grünen Teig, bevor der Minipfannkuchen sich zur Staatsaffäre auswuchs. Die Algen zappelten wie Wackelpudding auf ihrem Teller. Als sie aufblickte, bemerkte sie, dass die Augen aller Anwesenden interessiert auf sie gerichtet waren. Von allen Seiten prasselten aufmunternde Kommentare auf sie ein.
»Du weißt nicht, was du verpasst«, erklärte Amelie.
»Ich habe Lucy von Anfang an dazu erzogen, alles zu probieren«, erklärte Doro. »Bram hat sich solche Mühe mit dem Menü gegeben.«
Bram? Woher kannte Doro den Namen des Kochs? Wieso sprach sie ihn mit solcher Selbstverständlichkeit aus? Welches Spiel wurde hier gespielt?
»Am besten, du gewöhnst dich frühzeitig daran«, sagte Helen. »Das Zeug ist die Ernährung der Zukunft. Algen wachsen schneller als die Weltbevölkerung und versteppen keine Böden.«
Inzwischen warteten alle nur noch darauf, dass sie ihre Vorspeise probierte. Selbst die Kaviaraugen grinsten sie erwartungsvoll an. Die gut erzogene Lucy nutzte den unbeobachteten Moment, ihren Teller mit dem leeren von Ludwig auszutauschen, der begeistert und kommentarlos zugriff, als hätten sie dieses Manöver bereits tausendmal ausgeführt. Kein Wunder, dass er immer runder wurde. Ludwig war nicht einmal der leibliche Vater von Lucy, kümmerte sich jedoch hingebungsvoll um die Dreizehnjährige. Ihre Nichte machte es richtig und übte sich in stillschweigender Rebellion. Warum hatte sie überhaupt etwas gesagt? Nach ihrer ärgerlichen Verspätung wollte sie nicht schon wieder schlechte Laune verbreiten. Sie spießte entschlossen den Pfannkuchen auf, nahm ihn in den Mund, spülte das fischige, glitschige Etwas mit dem eiskalten Prosecco herunter, bevor ihre Geschmackspupillen wach wurden, schluckte und reckte den Daumen in die Höhe.
»Wirklich gut«, sagte sie. »Großartig.«
Ihr Magen, der noch mit dem Alkohol vom Vorabend beschäftigt war, protestierte. Waren Kohlensäure und Fisch eine gute Kombi?
»Also«, sagte sie, während sie krampfhaft den Druck in der Bauchgegend überspielte. »Warum sind wir hier?«
Ihr Satz fiel ins Leere. Die plötzlich eintretende Stille war ohrenbetäubend. Henriette drehte sich wie in Zeitlupe um und gab dem Personal ein Zeichen. Der Ober trat an den Tisch heran und räumte die Teller ab. Besonders eilig schien er es damit nicht zu haben, aber Henriette amüsierte das eher. Sie schien jede Sekunde der zeitraubenden Prozedur zu genießen. Yella unterdrückte den Anflug von Ärger. Flirtete ihre Mutter allen Ernstes mit dem Ober, während ihre Töchter sehnsüchtig auf Antworten warteten? Was war das für ein merkwürdiges Machtspiel? Wie lange wollte ihre Mutter sie noch hinhalten?
Erst als die Bedienung mit dem allerletzten Teller in der Küche verschwunden war, erhob sich Henriette Thalberg. Yella fiel erst jetzt so richtig auf, wie viel sie an Gewicht verloren hatte. Unter der sorgfältig aufgetragenen Schicht Make-up zeichneten sich dunkle Augenringe ab. Ihre zitternden Finger verrieten die Nervosität, als sie die ungeteilte Aufmerksamkeit des Tisches genoss.
»Ich weiß natürlich«, hob sie feierlich an, »dass ihr euch den Kopf darüber zerbrochen habt, was es mit meiner Einladung auf sich hat. Bergen ist natürlich nicht ohne Grund gewählt.«
»Jetzt mach’s nicht so spannend, Mama«, platzte Helen ungeduldig heraus.
»Ihr seid hier, weil euer Vater es so wollte«, erklärte Henriette feierlich. »Zwanzig Jahre nach seinem Tod hat er mir ein letztes Geschenk gemacht.«
Yella wurde schwindelig. Amelie hatte also recht gehabt. Es ging um ihren Vater. Yella war jetzt schon schlecht. Henriette Thalberg zog ein großes, flaches Paket unter dem Tisch hervor. Das dicke rote Packpapier war ausgeblichen und an vielen Stellen eingerissen.
»Wer von euch will?«, fragte ihre Mutter mit ihrer zeremoniellsten Stimme, als wären sie Kinder unterm Weihnachtsbaum. Gemeinschaftsgeschenke im Hause Thalberg waren immer problematisch. Schon die Frage, wer auspacken durfte, führte grundsätzlich zu Diskussionen, lautem Geschrei und schließlich Tränen. Am Ende verwandelte sich jedes Geschenk in einen Zankapfel. Aber sie waren keine Kinder mehr. Doro, die sich sonst gerne vordrängelte, lehnte sich genüsslich zurück, als habe sie selber das geheimnisvolle Gut verpackt. Ihre Mutter übergab das Paket an Amelie, die ihr am nächsten saß. Hatte sie Helens ausgestreckte Hand nicht bemerkt?
Amelie drehte und wendete das Präsent ausführlich in ihren Händen, tastete es ab und schnüffelte vorsichtig daran.
Yella wollte ihrer kleinen Schwester das Paket am liebsten aus den Händen reißen. Warum musste alles in dieser Familie bis zum Überdruss zelebriert werden? Warum konnte ihre Mutter nicht einfach sagen, was los war?
Noch erstaunter war sie, als aus der Verpackung ein schwarzer Bilderrahmen zum Vorschein kam. Auf der Rückseite prangte eine handschriftliche Notiz: Wordt door J. Thalberg afgehaald. Wird von Johannes Thalberg abgeholt. Darunter stand das verhängnisvolle Datum, das auch den Grabstein ihres Vaters zierte. War das eines seiner Wolkenbilder? Amelie schluckte schwer. Yella versuchte, in ihrer Miene zu lesen, was sie erblickte. Sie sah Rührung, sie sah Tränen. Helen schaute ernst über ihre Schulter mit, dann reichte sie das Bild weiter an Doro, die es, ohne einen Blick draufzuwerfen, zu Ludwig und Paul weiterschob. Ihre Gleichgültigkeit war das letzte Indiz, dass Doro in die Pläne ihrer Mutter eingeweiht war. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Yella endlich an der Reihe war. Sie erschrak, als sie in ihr eigenes dreizehnjähriges Gesicht blickte. Gemeinsam mit ihren Schwestern posierte sie vor einer Art Fototapete mit absurd kitschigem Alpenpanorama.
Das Foto dokumentierte nur zu genau, wie unterschiedlich die Schwestern schon damals gewesen waren. Doro überragte die anderen drei um einen ganzen Kopf. Der selbst genähte Matrosenanzug mit dem riesigen Ausschnitt, den sie trug, war zu keiner Zeit modern gewesen, dafür aber ultrakurz und provokant. Yella erinnerte sich, dass Doro den Look einer alten Postkarte von einem Pin-up-Girl aus den Zwanzigern nachempfunden hatte. Dazu passte auch ihr leuchtend schwarzer Pagenkopf mit dem superkurzen Pony. Die Zwillinge wirkten dagegen unschuldig klein. Amelie trug über rosa Shorts ein T-Shirt der Spice Girls, Helen ein viel zu großes rot-weißes Fußballshirt, auf dem riesig der Sponsor der Bank und ein bisschen kleiner Ajax Amsterdam stand. Nur Yella, in Jeans, T-Shirt und mit praktischem Pferdeschwanz, hatte ihren Geschmack nicht sonderlich verändert.
Yella erinnerte sich sofort. Die Aufnahme stammte aus den dunklen Ecken ihrer Kindheit. Nachdem Doro und Yella sich in ihrem letzten Holland-Sommer erfolgreich gegen einen Besuch im Tierpark gewehrt hatten, wo der Zoofotograf sie jedes Jahr abgelichtet hatte, hatte ihr Vater in der Nähe des Albert-Cuyp-Markts, dem ältesten Amsterdamer Straßenmarkt, ein Fotostudio für das traditionelle Schwesternporträt aufgetan.
»Ich weiß noch, wie exotisch ich den Laden fand«, sagte Helen. »Es roch merkwürdig. Eine Mischung aus Fotoentwickler und fremden Gewürzen.«
»Das weißt du noch?«, fragte Amelie erstaunt.
»Der Besitzer vereinte so viele Kulturen«, erzählte Helen weiter. »Er kam ursprünglich aus Hongkong, war dann weitergezogen in eine der niederländischen Kolonien in Südamerika und schließlich in Amsterdam gelandet.«
»Irgendwas ist bei uns im Bauch schiefgegangen«, meinte Amelie. »Ich erinnere mich an nichts, du erinnerst dich an alles.«
»Yella sieht auf dem Foto aus, als hätte sie Magenschmerzen«, meinte Lucy, nicht ahnend, dass sie damit den Nagel auf den Kopf traf.
Yella erinnerte sich weder an den Fotografen noch, woher er kam, aber sie hatte den Streit mit ihrem Vater noch gut in Erinnerung. Es war der erste und der letzte Sommer. Der erste Sommer, in dem die Familie sich ein Ferienhaus leisten konnte, der erste Sommer, in dem die großen Schwestern energisch von den kleineren absetzten. Mit dreizehn und sechzehn waren sie definitiv zu alt für Elefanten, Löwen, Erdmännchen und Zoofotos vor einem steinernen Gorilla. Der erste Sommer, in dem die Freunde bei der Surfschule wichtiger waren als die Zeit mit den Eltern. Es war der Sommer, in dem Yella lernte, wie schnell der billige Wein von Albert Heijn (mit der bonuskaart der Supermarktkette drie voor de prijs van twee) ihr bei sommerlichen Temperaturen in den Kopf stieg. Die Lippen schmeckten nach Salz, als sie hinter der Surfschule zum ersten Mal auf die von Frenkie trafen. Als sie trunken vor Liebe und huiswijn rood endlich den Nachhauseweg fand, erwartete sie ein tobender Vater, der sie erst dazu aufforderte, ihn anzuhauchen, und dann zu Hausarrest verdonnerte. Und das im Urlaub!
»Ich bin maßlos enttäuscht von dir«, hatte ihr Vater mit bebender Stimme geschimpft.
Im Hintergrund hatte sich Doro mit Unschuldsmiene herumgedrückt. Bis heute fragte sie sich, wie es ihrer großen Schwester, dem von allen Surfern umschwärmten Mittelpunkt aller Strandpartys, gelungen war, sich rechtzeitig und unbemerkt ins Ferienhaus zu schleichen und somit der Strafe zu entgehen. Anders als Doro, die mit ihrer Kreativität der ganze Stolz des Vaters war, die zarte Amelie, die liebevoll am Papa hing, und Helen, die schon als Kind unabhängig wirkte, aber immer seine Hochachtung genoss, spürte Yella in dem letzten Sommer eine unüberwindbare Distanz zu ihm. Es war der erste Sommer, in dem sie ununterbrochen aneinandergerieten, und der letzte Sommer ihres Vaters. Ihr Streit hatte eine offene Wunde hinterlassen, die nie mehr heilen konnte.
In dem Foto las sie die stumme Wut heraus, die sie daran erinnerte, was sie am liebsten vergessen wollte. Das Leben war nicht perfekt. Noch nicht einmal vor dem Unfall. Sie hatte nicht die geringste Lust auf das gestellte Foto gehabt. Wozu sollte sie vor diesem altmodischen Hintergrund posieren? Wenn sie schon nicht bei der Surfschule sein durfte, wäre sie viel lieber über den Markt gebummelt auf der Suche nach neuen Klamotten. Mit dem Abstand von zwanzig Jahren erkannte sie auf den ersten Blick, wie außergewöhnlich das fahlfarbene Porträt und der Fotograf, den ihr Vater aufgetan hatte, waren.
»Die Fotos von Lee To Sang sind inzwischen Kult«, erklärte Doro. »Heute findest du niemanden mehr, der Retuschemethoden aus dem 19. Jahrhundert beherrscht.«
Yella starrte auf das gerahmte Bild, das ihr so seltsam vorkam, ohne dass sie fassen konnte, was sie an dem Gesamtbild störte.
»Wir sind nach Holland gefahren, um ein altes Familienporträt anzuschauen?«, wunderte sie sich.
Ihre Mutter lachte glockenhell. »Natürlich nicht.«
»Wo kommt das Foto plötzlich her?«, fragte Helen.
Ihre Mutter wies mit dem Zeigefinger auf Helen. »Und deswegen ist Helen die klügste von uns Thalberg-Frauen. Weil sie die richtigen Fragen stellt. Genau darum geht es. Das ist genau das Wunder, das ich mit euch teilen will.«
In diesem Moment kam der Hauptgang aus der Küche.