Der Kaviar und die Nordseealgen in Yellas Magen freuten sich nur sehr bedingt über die Gesellschaft von butterglänzender gebratener Scholle, Weißer Bete und Kartoffeln. Yella kämpfte an allen Fronten. Geräusche und Gespräche rauschten an ihr vorbei. Sie fühlte sich wie vor Beginn eines klassischen Konzertes, wenn alle Musiker gleichzeitig ihre Instrumente stimmten. Ein unbestimmtes Gefühl von Spannung und Erwartung füllte den Raum. Die Töne, die gleich erklingen würden, könnten ihr Leben verändern. Yella musste sich die ganze Hauptspeise lang gedulden, bis ihre Mutter neu ansetzte.
»Am Ende verbinden sich alle losen Fäden zu einem großen Ganzen«, sagte Henriette Thalberg. »Euer Vater hat mir ein Geschenk aus dem Himmel gesendet. Und deswegen sind wir an dem Ort, an dem Johannes seine glücklichsten Tage verbracht hat. So kann er ein bisschen bei uns sein.«
»Mama, es reicht«, sagte Helen entnervt. »Du hast lange genug um den heißen Brei herumgeredet.« Ihre Geduld mit ihrer Mutter war am Ende. »Wir haben jetzt lange genug herumgerätselt.«
»Ihr wart an meiner Seite in den schlechten Zeiten«, sagte ihre Mutter. »Ihr sollt an meiner Seite sein, wenn wir die guten Zeiten feiern. Als meine Trauzeugen.«
Das Wort schlug ein wie eine Bombe. Yella begriff nicht, worum es ging. Alle redeten durcheinander.
»Trauzeugen? Wer braucht hier Trauzeugen?«, sagte Amelie.
»Du willst heiraten?«, fragte Helen sachlich.
»Wieso willst du heiraten?«, fragte Yella verwirrt.
»Wen?«, schob Amelie nach.
Yellas Magen fühlte sich flau und übersäuert an. Und das lag nicht nur an der fischigen Beilage, die in ihrem Bauch im Prosecco hin und her schwappte. Die Schwestern tauschten ratlose Blicke aus. Amelies übertriebenes Kichern hallte in Yellas Kopf.
»Jetzt lasst sie doch mal ausreden«, mischte Paul sich ein und erntete postwendend einen bösen Blick von Helen, die ihm die Einmischung in interne Angelegenheiten der Thalberg’schen Sippe nicht dankte. Doro wies mit dem Zeigefinger Lucy an, die Kamera in die andere Richtung zu drehen. Yella folgte der Blickrichtung.
Lucys Kamera fing den Ober ein, der gerade aus der Küche trat. Yella sank in sich zusammen. Nicht schon wieder! Bitte nicht. Ein neuer Gang? Sie brachte kein Blatt mehr herunter. Und ganz bestimmt keinen weiteren Fischgang. Sie atmete erleichtert auf, als sie erkannte, dass es sich offenbar um die Nachspeise handelte. Eis mit Wunderkerzen. Er stellte den Teller auf den Tisch, dann legte er die Schürze ab, faltete sie sorgfältig, übergab sie dem feixenden Besitzer des Restaurants, der genauso rund und dick war wie seine Pfannkuchen, und trat an den Tisch heran. Er stellte sich hinter den Stuhl ihrer Mutter und legte ihr vertraut die Hand auf die Schulter.
»Ich freue mich, euch Thijs vorzustellen«, sagte Henriette Thalberg bewegt.
Wie bitte? Das war er? Der zukünftige Mann ihrer Mutter? Yella starrte in das Gesicht des Fremden, den sie bislang wie eine Tapete nur schemenhaft im Hintergrund wahrgenommen hatte. Er war deutlich jünger als ihre Mutter und hatte das, was man wohl einen Charakterkopf nannte. Die tiefen Linien in seinem Gesicht fügten sich zu einer eigentümlichen Landschaft und ließen offen, ob sie Lachen oder tiefem Kummer geschuldet waren. Vielleicht sogar beidem.
»Das ist Thijs«, wiederholte ihre Mutter noch einmal, als ob der Name alleine irgendetwas erklärte.
Yella war so überrumpelt, dass sie kaum reagieren konnte.
Der Mann lächelte gewinnend in die Runde. »Ich freue mich, euch alle endlich kennenzulernen«, sagte er mit deutlichem Akzent. »Ich muss gestehen, ich war ein bisschen nervös.«
Er verschluckte die Endungen, sein s tendierte in Richtung »sch«, die eeess und die ooos zog er lang. Er klang wie Rudi Carrell, dessen Sendungen sie als Kinder sehen durften, oder wie Hape Kerkeling als Königin Beatrix. Vielleicht war das alles ein großer Witz. Ein Blitzlicht blendete sie und nahm Yella die Gelegenheit festzustellen, wie der Rest der Familie auf die überraschende Eröffnung reagierte.
»Thijs hat euer Foto rein zufällig im Lager eines Ladens mit Künstlerbedarf entdeckt. Jonkmans, im Zentrum von Bergen, ihr wisst schon. Er hat die Rechnung für das Rahmen bezahlt und mich dann ausfindig gemacht«, erklärte ihre Mutter. »Erst haben wir gemailt, dann gesimst, später telefoniert. Vor ein paar Wochen kam Thijs nach Köln, um das Foto höchstpersönlich zu überbringen. Von da an ging alles ganz schnell.«
Yella war zutiefst verunsichert, ja geradezu verstört. Dieser Ehemann fiel geradewegs vom Himmel. Wieso hatte sie nicht die geringste Ahnung, was sich im Leben ihrer Mutter abspielte? Wussten ihre Schwestern davon? Henriette erklärte in einer Art Vorwärtsverteidigung ihren überraschenden Schritt.
»Ich wollte keine voreiligen Meinungen, keine Gerüchte und Geschichten, ich wollte, dass ihr Thijs kennenlernt. Alle gemeinsam.«
Sie schenkte ihrem zukünftigen Ehemann einen schmachtenden Blick, als müsse sie sich seiner vergewissern.
»Das Bild war wie ein Fingerzeig des Schicksals«, sagte sie. »Wie ein Zeichen, das Johannes mir aus dem Jenseits sendet. Ich bin sicher, dass er es so gewollt hätte.«
»Meine Mutter heiratet zum dritten Mal. Dabei dachte ich, ich wäre jetzt mal an der Reihe«, sagte Amelie verblüfft.
Ihre Mutter atmete tief auf. Erst jetzt begriff Yella, wie viel Kraft sie diese Enthüllung gekostet haben musste.
»Trauzeugen«, wiederholte Helen, die sich dem Faktensammeln verschrieben hatte. »Ihr wollt also heiraten?«
»Ihr seid meine Trauzeuginnen«, nahm Henriette den Faden wieder auf. »Schließlich habt ihr vier uns zusammengebracht.«
»Morgen Abend«, sagte Thijs.
Yella schnappte nach Luft. Sie erlebte schließlich nicht zum ersten Mal, dass ihre Mutter sich Hals über Kopf in eine Ehe stürzte. Nach dem Unfall war Henriette Thalberg in ihrem eigenen Schmerz ertrunken, unfähig, die Familie zusammenzuhalten. Anstatt Trost zu spenden, ließ sie sich trösten. Ganze neun Monate nach der Beerdigung wurden die vier auf das Standesamt 2 geschleppt, um Zeuge zu werden, wie Henriette Bernhard Seitz heiratete, den sie kurz nach dem Tod des Vaters kennengelernt hatte. Keines der vier Mädchen konnte den Mann, der sich als Ersatzvater aufspielte, leiden. Die Ehe hielt nicht, ebenso wenig die familiäre Bande. Doro packte am Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag ihre Koffer, Yella verwandelte sich in einen unkontrollierbaren rebellischen Teenager und zog eine Zeit lang zu wohlmeinenden Freunden, die Zwillinge gingen übergangsweise aufs Internat. Dieser Übergang dauerte jedoch bis zum Abitur, der Riss in der Familie bestand bis heute. Und jetzt präsentierte Henriette ihren zweiten Überraschungsehemann?
»Ich freue mich so für dich, Mama«, sagte Amelie.
Während ihre kleine Schwester die Überglückliche mimte, wusste Yella nicht, was sie fühlen sollte. In die Erleichterung darüber, nicht mit einem schrecklichen Geheimnis konfrontiert zu werden, mischte sich eine Prise Enttäuschung. Sie wollte sich für ihre Mutter freuen, aber wie konnte sie irgendetwas für diesen Fremden empfinden? Irgendwie hatte sie gehofft, die Mutter habe den Urlaub organisiert, um Zeit mit ihren Töchtern zu verbringen, um gemeinsam in Erinnerungen zu schwelgen und die zerrissenen Familienstrukturen zu kitten. In ihr kämpften widerstreitende Gefühle. Enttäuschung, Ratlosigkeit, Ärger und dann war da noch der Kater.
Das frisch verlobte Paar wirkte vertraut, beide konnten es kaum erwarten, ihre gemeinsame Geschichte zu erzählen. Henriette und Thijs kürzten gegenseitig ihre Sätze ab, fielen einander ins Wort und wirkten vergnügt. Aus dem lustigen Kauderwelsch zweier Stimmen, Sprachen und Versionen schälte sich ein Stück von Thijs’ Biografie.
»Es brauchte schon eine Pandemie, um das Unmögliche möglich zu machen«, hob ihre Mutter an.
»Vor Corona ging ich in Arbeit unter, da hätte ich nie die Muße gehabt, mich mit einem gefundenen Foto zu beschäftigen«, fiel Thijs mit ein. »Mein Handwerksbetrieb hatte einen festen Vertrag mit dem Campingplatz. Und auf einmal blieben die Touristen aus.«
»Sonst hätte er gar nicht die Zeit gehabt, nach Köln zu kommen«, unterbrach ihn Henriette.
Die beiden redeten nun wild durcheinander.
»Ich habe mich gelangweilt ohne Arbeit, und deswegen habe ich mich auf die Suche gemacht.«
»Wir sind eine Corona-Liebe. Es ist, als ob erst alles zusammenbrechen musste, bevor wir einander finden.«
»Glück und Unglück liegen so nah beieinander, in uns und da draußen«, sagte Thijs. »Ohne Lockdown hätten wir uns nie getroffen.«
Am Tisch herrschte Verblüffung, Fassungslosigkeit und Belustigung, bis Amelie ihr Glas erhob. Doro, ihre jüngere Schwester missachtend, stand auf und riss das Wort an sich.
»Mama, lieber Thijs«, sie nickte in seine Richtung. »Wir beide hatten ja bereits das Vergnügen, und ich freue mich, dass ich endlich von der Last der Mitwisserschaft erlöst bin. Was Männer anbetrifft, stehen wir den Königshäusern in nichts nach. Bislang war kein Mann gut genug für unsere Mutter. Aber Thijs hat es mir leicht gemacht, ihn zu mögen, und wir Schwestern werden ihn gerne als Ehrenmitglied der Sommerschwestern aufnehmen.«
Ihre offensichtlich vorbereitete Rede endete in einem fröhlichen »Willkommen in der Familie Thalberg, Thijs«.
Yella schwirrte der Kopf. Wie konnte Doro sich rausnehmen, für alle zu sprechen? Sie wollte keinen Mann in der Riege der Sommerschwestern aufnehmen. Sie wusste nicht einmal, ob die Sommerschwestern überhaupt noch bestanden.
Der Fisch im Bauch tanzte Cha-Cha-Cha mit den Algen. Ihre Stirn wurde heiß. Sie nieste und sprang auf. Sie erkannte die Anzeichen sofort. Yella raste nach draußen, gerade noch rechtzeitig, bevor ihr Magen sich umdrehte.