Yella starrte bedenklich in den düsteren Himmel: »Minigolf? Jetzt? Das ist nicht euer Ernst.«
»Wenn man auf das passende Wetter wartet, verpasst man sein Leben«, sagte Henriette Thalberg.
Die drohende Himmelsdusche hielt sie nicht davon ab, ihr Wunschprogramm wie geplant durchzuziehen.
»Ich habe seit hundert Jahren kein Minigolf mehr mit euch gespielt«, sagte sie. »Das bisschen Wetter wird mich jetzt nicht davon abhalten.«
Nicht nur Frisur und Kleidung hatten sich verändert, Henriette Thalberg wirkte, als ob die Last von Jahrzehnten von ihr abgefallen war. Thijs brachte eine unbekannte Seite an ihrer Mutter zum Vorschein. Wie ein verliebtes junges Mädchen hing sie an seinen Lippen und himmelte ihn förmlich an.
»Du holst die Schläger«, sagte Doro und wies Ludwig in Richtung Kiosk. Er verdrückte sich, bevor die Diskussion ausartete.
Ludwig hatte sich im Lauf der Jahre für die Strategie des Nichteinmischens entschieden. Hatte es in den Anfangsjahren noch heftig gekracht, war er inzwischen ein Meister im Weg- und Überhören. »Bassd scho« lautete sein Mantra. Yella bewunderte, wie er Doros Wutanfälle mit einem gebrummten »Ja mei« oder »Schau ma moi, donn seng ma scho« abfederte. Seine Standardsprüche wirkten wie ein dicker Theatervorhang, der jeden Streit im Keim erstickte, leider auch jedes Gespräch. Ludwig war Yella immer ein bisschen fremd geblieben.
»Gott hat das Meer erschaffen, die Holländer das Land und die passende Kleidung«, verkündete Thijs gut gelaunt. Er verteilte grellorangefarbene Regenüberwürfe, als wäre es die normalste Sache der Welt, sich selbst unter widrigsten Rahmenbedingungen an eine Runde Minigolf zu wagen.
»Holland spielt seit Menschengedenken gegen das Wasser«, erklärte Thijs. »Wir kennen es nicht anders.«
»Geht schon mal los«, tönte Ludwigs tiefer Bass vom Kiosk. »Ich komme nach.«
Während ihr Schwager am Kiosk für die Schläger anstand, schlenderte der Rest der Familie Thalberg über den Außenbereich des Restaurants und den Spielplatz in Richtung Minigolfanlage, die malerisch hingeworfen zwischen den Bäumen lag. Erste Regentropfen trommelten gemütlich auf die Kapuzen ihrer Regenumhänge. Auf ihren Rücken leuchteten die niederländische Flagge und der Schlachtruf Hup Holland Hup.
»Die Ponchos gab’s nach der verlorenen EM im Sonderangebot«, verkündete Thijs lachend.
Ein Esel, Teil des Streichelgeheges, iahte fröhlich, als wolle er sämtliche Kollegen im angrenzenden Streichelzoo auf die absurd grellfarbene Truppe aufmerksam machen.
»Hi ho hi ho, wir sind vergnügt und froh. Hi ho hi ho hi ho«, sang Lucy lauthals das Lied aus dem alten Disney-Zeichentrickfilm »Schneewittchen und die sieben Zwerge«, den Leo und Nick so liebten. Als sie an Yella vorbeistapfte, wirkte sie plötzlich wieder wie das kleine Mädchen, mit dem sie früher so viel Zeit verbracht hatte. Lucy bewegte sich in einem Niemandsland zwischen Kind- und Erwachsensein. Unter ihrem T-Shirt zeichneten sich deutlich erste Spuren von Brüsten ab. Ihr ganzer Körper war aus der Proportion geraten. Die Arme schienen zu lang, die Füße zu groß, die Schultern zu schmal, das Gesicht zu rot, ihre Ohren zu abstehend. Die Tatsache, dass sie jedes ihrer Instagram-Fotos mit Filtern bis zur Unkenntlichkeit bearbeitete, zeigte deutlich, wie unsicher sie sich in ihrer neuen Haut fühlte. Sie war jetzt genauso alt wie sie selbst damals. Yella schüttelte sich. Sie wollte nicht schon wieder gedanklich in den verhängnisvollen Sommer abtauchen.
Während sie auf Ludwig warteten, versuchte sie an den Mienen ihrer Schwestern die allgemeine Stimmungslage abzulesen. Amelie hatte sich bei Paul eingehakt und unterhielt sich angeregt mit ihrem Noch-nicht-Schwager. Seine größte Stärke war, vorurteilsfrei zuzuhören, ohne augenblicklich die Meinungsmaschine zu aktivieren. Vielleicht lag es daran, dass er aus einfachen Verhältnissen stammte und sein Leben vom Widerspruch geprägt war zwischen der Tankstelle mit Kiosk und Einliegerwohnung, in der er groß geworden war, und den glänzenden Bürotürmen, die er heute als Architekt mitentwarf. »Ich habe alles, was ich fürs Leben brauche, bei Esso gelernt«, sagte er immer. »Es gibt keinen Ort der Welt, an dem so viele unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen. Du musst alle bedienen, und das rund um die Uhr.«
Vielleicht sollte David darüber mal einen Roman schreiben. Aber vielleicht war Paul als potenzielle Romanfigur einfach zu anständig. »Glück schreibt mit weißer Tinte«, lehrte David in seinen Seminaren. »Nette Figuren taugen nicht fürs Drama.«
Der aufstrebende Architekt war so verständnisvoll und zurückhaltend, dass Yella sich kaum vorstellen konnte, wie man überhaupt mit ihm streiten konnte.
»Er trug dieses dämliche Motto-T-Shirt«, hörte sie Amelie sagen. »Da habe ich gedacht, das muss er sein. Ich habe immer Pech in der Liebe. Warum kommt bei mir nie jemand mit einem alten Foto vorbei?«
Ganz offensichtlich weihte ihre Schwester Paul gerade in die Geschichte ihres missratenen Blind Dates ein. Im Gegensatz zu Yella hatte Amelie nicht die geringste Mühe, ihre Fehlschläge, Desaster und Unsicherheiten mit jedem, der ihr ein Ohr schenkte, zu teilen.
»Ich wünschte, ich wäre mir bei der Auswahl meiner Männer so sicher wie Mama. Wenn sie glücklich ist, bin ich es auch.«
In Amelies Leben war immer Platz für neue Menschen. Ihre lange Liste von Beziehungsirrtümern dokumentierte eindrucksvoll, dass ihr gesundes Misstrauen, Skepsis und Vorsicht fehlten. Sie glaubte beharrlich an das Gute in jedem einzelnen Menschen. Beneidenswert, fand Yella.
»Was ist dein Eindruck?«, fragte eine Stimme neben ihr. Helen schob sich an sie heran.
»Ich fühle mich, als hätte ich beim Seminar die Vorstellungsrunde verpasst. Ich weiß einfach nicht, was ich von alledem halten soll.«
Ihr Kopf platzte von all den Fragen. Wohnte Thijs in Bergen? Arbeitete er noch? War er schon in Rente? Wie stellten sie sich das vor? Wollte ihre Mutter etwa auswandern? Zog Thijs zu ihr nach Köln? Oder wollten sie in Zukunft zwischen Deutschland und den Niederlanden pendeln? Weil er noch eine Familie hatte, um die er sich kümmern musste? Hatte ihre Mutter nicht von Kindern gesprochen? Warum waren die eigentlich nicht eingeladen? Wollten die ihre Mutter nicht kennenlernen? Und ihre neue Schwiegerfamilie? Wussten sie schon von den plötzlichen Heiratsplänen ihres Vaters? Oder waren sie genauso ahnungslos? War Thijs geschieden? Verwitwet? Und warum wollten sie so plötzlich heiraten? Sie wusste nichts über den Verlobten ihrer Mutter. Sie kannte noch nicht einmal seinen Nachnamen.
»Er hat nichts über sich erzählt«, sagte Helen. »Gar nichts. Der feuert im Sekundentakt Fragen und Anekdoten auf uns ab, als ob er verhindern will, dass er selber etwas gefragt wird.«
Eigentlich war das Helens Spezialität, dachte Yella, verkniff sich jedoch die Bemerkung.
»Wir wissen nichts über ihn«, sagte Helen.
»Das hier ist kein Bewerbungsgespräch, in dem man sich die eigene Biografie so schön wie möglich zusammenlügt«, sagte Yella. »Vielleicht müssen wir einfach dankbar sein, dass unsere Mutter nicht mehr alleine ist.«
Besonders überzeugend klang sie anscheinend nicht.
»Hast du keine Bedenken?«, fragte Helen.
»Es geht doch gar nicht darum, was ich von dem Mann halte. Es ist der Freund unserer Mutter, nicht meiner. Unsere Aufgabe ist, Thijs unvoreingenommen in den Kreis unserer Familie aufzunehmen«, sagte Yella und spürte sofort, wie weit sie von einer entspannten Haltung entfernt war.
Yella beobachtete, wie Thijs schützend den Arm um Henriette legte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Sie schmiegte sich verliebt an ihn. Das ungewohnte Bild weckte widerstreitende Gefühle.
»Es gibt so was wie Liebe auf den ersten Blick«, sagte Yella, als wolle sie sich selbst überzeugen. »Ich bin da quasi Spezialistin.«
»Du wusstest wenigstens, welchen Beruf David hat«, sagte Helen.
»Du klingst wie unsere Mutter«, sagte Yella und klang dabei wie David. »Du ahnst nicht, was ich mir anhören musste, als ich David zum ersten Mal nach Hause mitgebracht habe.«
»Du warst schwanger«, gab Helen zu bedenken. »Schwanger wird sie jedenfalls nicht sein.«
»Ich hasse diese Frage beim Daten: Und? Was machst du so?«, mischte sich Amelie ein. »Als ob der Beruf einen Menschen beschreibt. Vom Beruf wird nämlich direkt auf das Einkommen geschlossen. Der ideale Partner, habe ich gelesen, verdient 4.200 Euro im Monat. Was für ein Unsinn. All die biografischen Details sind doch nur wichtig, damit wir sie mit unseren Vorurteilen abgleichen können. Ah, ein Arzt, oh, ein Gemüsehändler, ein Abfallspezialist, wie interessant, schon ist die Schublade auf, die Meinung fertig und der Mensch verschwunden. Wir sind nicht mehr neugierig, weil wir glauben, alles verstanden zu haben.«
»Amelie, wir haben keine Ahnung, mit wem wir es zu tun haben«, sagte Helen eindringlich. »Unsere Mutter ist nicht sie selber.«
»Ich bin immer noch dabei, mich selber kennenzulernen«, erklärte Amelie. »Wie soll ich mir da rausnehmen, jemanden in einer Stunde zu beurteilen?«
Angeblich brauchte man höchstens sieben Sekunden, um eine erste Meinung über einen Menschen zu formen. Aber wie lange brauchte man, um sein Gegenüber wirklich einzuschätzen? Wann kannte man einen Menschen wirklich? Wenn man eine bestimmte Anzahl Stunden gemeinsam verbracht hatte? Wenn man ihn einmal betrunken erlebt hatte? Wenn man seine Familie kannte und die Schule, auf die er gegangen war? Wenn man das Wohnzimmer inspiziert und jede noch so geheime Schublade durchsucht hatte, wenn man wusste, welches Auto er fuhr und was er im Keller zwischenlagerte? Was sagte der Kontostand über einen Menschen aus und was ein tabellarischer Lebenslauf?
Yella selbst war in Rekordtempo in ihre Beziehung hineingestolpert. Wieso fühlte sich eine überstürzte Ehe so anders an, wenn es die eigene Mutter betraf?
Doro wollte Yellas Fragen gar nicht erst hören. »Was spricht gegen eine Hochzeit?«, fragte sie. »Nicht jede will so leben wie du, Yella. Sieben Jahre, zwei gemeinsame Kinder, aber sich immer noch nicht festlegen wollen. Manche entscheiden sich eben schneller.«
Noch bevor Yella antworten konnte, unterbrach ihre Nichte Lucy das Gespräch. »Wenn ich erwachsen bin, will ich auch so leben. Das ist das Romantischste, was ich je gehört habe. Oma könnte mit der Fotogeschichte ins Fernsehen.«
»Mir würde es vorerst genügen, seinen ganzen Namen zu kennen«, witzelte Yella.
»Janssen«, sagte Thijs, der sich auf einmal einmischte. »Thijs Janssen.«
Yella lief rot an. Sie hatte nicht mitbekommen, dass er direkt hinter ihr stand. »Und für alles andere haben wir Zeit, bis dass der Tod unsere Familien scheidet.«
Helen hatte andere Sorgen: »Wenn wir halbwegs trocken durchkommen wollen, sollte Ludwig sich mit den Schlägern ein bisschen beeilen«, sagte sie und winkte mit ihrem Handy, auf dem sie eine Wetter-App aufgerufen hatte.
Paul an ihrer Seite sah aus, als wäre er im falschen Film gelandet. Als Einziger hatte er auf den grellorangen Regenschutz verzichtet. Ohne den Packen Bücher und die Rolle Entwürfe, die er schon im Studium immer mit sich herumgetragen hatte, sah er immer ein bisschen nackt aus. Nach seinem Abschluss war Paul bei einem renommierten Büro untergekommen. Dass er dort in der Macht-sich-gut-im-Lebenslauf-Phase seiner Karriere nur einer von vielen Architekten und chronisch unterbezahlt war, interessierte ihn nicht. Genauso wenig wie Hobbys. Freizeit bedeutete für ihn, mit befreundeten Architekten zu fachsimpeln, wie Architektur die Welt verbessern kann. Auf dem Minigolfplatz wirkte er so deplatziert, dass es fast schon lachhaft war.
»Ich muss noch ein paar Mails erledigen«, sagte er mit gequältem Blick auf die Anlage.
Ihre Mutter, erste Vorsitzende des Paul-Fanclubs, schien enttäuscht. »Ich will nachher alles über euer Kölner Projekt wissen. Ich war schon dreimal auf der Baustelle.«
Paul nickte begeistert: »Ich habe dir Fotos und ein paar Pläne mitgebracht. Ich bin so neugierig, was du davon hältst.«
Paul konnte den Satz aussprechen, ohne falsch zu klingen. Helen schien geradezu erleichtert, als ihr Freund zwischen den Bäumen verschwand.
»Ein paar Mails« hieß bei Workaholic Paul, dass man in den nächsten Stunden nicht mehr mit ihm rechnen musste.
»Er hat ein Zimmer in einer Pension gemietet, um ungestört arbeiten zu können«, erklärte sie.
Yella verstand die Welt nicht mehr. »Was ist eigentlich los bei euch?«, fragte sie.
»Wir haben eine kleine Meinungsverschiedenheit«, gab Helen zögerlich zu.
In Helens nüchternem Sprachgebrauch deutete die vorsichtige Formulierung auf eine massive Krise hin.
»Es kann losgehen«, brüllte eine verrauchte Stimme. Ludwig trabte heran: mit rotem Kopf, die Arme voll mit Schlägern in verschiedenen Längen und Gewichtsklassen. Aus den Taschen seiner dicken Lederjacke zauberte er die dazugehörigen Bälle.
»Ich erzähle es dir ein andermal«, sagte Helen.
Yella seufzte auf. Neben der Frage, was sich im Leben ihrer Mutter abspielte, hatten sie alle ihren eigenen unsichtbaren Rucksack mit Problemen mit nach Holland gebracht. Sobald man an der Oberfläche kratzte, wurde das Leben unübersichtlich. Vielleicht hatten ihre Mutter und Thijs recht. Am besten, man ignorierte die dunklen Wolken am Himmel und konzentrierte sich stattdessen auf die schönen Dinge im Leben.