Amelie atmete auf. Die Familie hatte sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Bis zum gemeinsamen Abendessen blieb ihr genug Zeit, sich endlich um die mitgebrachten Familienfotos zu kümmern. Mit ihrem letzten Geld gönnte sie sich am Kiosk vom Pannenkoekenhuis eine Flasche Bier als Gegengift gegen die allzu süßen Tempoezen und die streitlustigen Schwestern. Auf einem fröhlichen gelb-rosa Etikett prangte der ausgesprochen seltsame Name des Biers Mannenliefde, Männerliebe. Amelie kicherte. Vielleicht war das ja eine Art Zaubertrank? Das musste sie probieren. Sie hatte kaum die Flasche angesetzt, als eine atemlose Stimme sie unterbrach.
»Hier bin ich!«
Amelie fuhr herum und erkannte überrascht die Taxifahrerin vom Vortag, die ihren Wagen verbotenerweise in der Auffahrt geparkt hatte. Die junge Frau mit der heiseren Stimme war nicht einmal einen Meter sechzig groß, drahtig und voller Energie. Sie trug den knallroten Fußballdress des VV Bergen und wirkte so entschlossen, als wäre sie bereit, sich sofort in jeden Zweikampf zu werfen.
Amelie sank schuldbewusst in sich zusammen. »Ich habe das mit dem Fahrpreis immer noch nicht geregelt«, gestand sie. »Aber ich kümmere mich. Versprochen.«
»Du hast mich angerufen«, sagte die junge Frau.
Amelie kramte ratlos ihr Telefon hervor und warf einen prüfenden Blick auf das Display.
»Hosentaschengespräch«, sagte sie entschuldigend. »Mein Po hat ohne mein Wissen ein Taxi bestellt.«
Philomena musterte Amelie, als ob sie auf irgendetwas wartete. Aber worauf?
»Wie viel hast du mitgehört?«, fragte Amelie misstrauisch.
»Genug, um mir Sorgen zu machen«, antwortete Philomena.
»Der ganz normale Schwesternwahnsinn«, sagte Amelie.
»Es klang eher nach Mord und Totschlag«, sagte Philomena.
»Du kommst deswegen vom Fußballplatz? Wegen uns?«
»Ich saß sowieso auf der Ersatzbank«, sagte sie. »Ich sitze immer auf der Ersatzbank. Ich bin schlecht in Fußball …«
Ihre Ehrlichkeit hatte etwas Entwaffendes.
»Unsinn, das Spiel war gerade vorbei«, sagte Philomena lachend.
»Unseres auch«, sagte Amelie. »Wir haben alle verloren. Und Geld habe ich auch keins.«
Philomena wandte sich schon zum Gehen, als ihr auf einmal etwas einfiel.
»Du kannst deine Schulden auch bei mir abarbeiten«, sagte sie.
Amelie lachte auf.
»Ich habe keinen Führerschein. Taxi fahren kann ich nicht.«
»Brauchst du auch nicht.«
»Nein?«
»Ich meine es ernst. Ich brauche jemanden«, bekräftigte Philomena. »Du musst echt nichts können.«
»Klingt wie gemacht für mich«, lachte Amelie.
So kompliziert sich die Beziehungen in ihrer Familie gestalteten, so federleicht war der Kontakt mit Philomena.
»Ich bin dabei«, sagte sie. Die Fotos konnten warten.
Eine Stunde später fand Amelie sich auf dem dorpsplein wieder, dem zentralen Platz des Dorfs. Gemeinsam mit Philomena versuchte sie, Publikum für ihre Comedyshow zu werben.
»Es ist diesmal ein deutscher Abend«, erklärte Philomena. »Wir konzentrieren uns auf Touristen.«
»Was soll ich sagen?«, fragte Amelie.
»Nichts«, sagte sie.
»Nichts?«
»Ja.«
»Oh.«
Amelie starrte Philomena an, die offenbar glaubte, sie umfassend genug insistiert zu haben.
»Bei uns im Unverpackt-Laden wollen die Leute immer alle Bestandteile wissen, bevor sie was kaufen.«
»Du verkaufst nichts«, erläuterte Philomena ihre Strategie. »Du verschenkst was.«
Sie übergab der verdutzten und komplett überrumpelten Amelie einen Korb mit einzeln verpackten Sirupwaffeln, die mit zwei Aufklebern versehen waren. Auf der einen Seite stand: Bezahlen Sie mit einem Lächeln. Auf der anderen las sie die kryptische Botschaft: Mehr davon? Darunter stand eine Internetadresse: Niemandemverraten.nl.
Sie lächelte stolz: »Das war meine Idee«, sagte sie. »Wir sind schließlich ein geheimer Comedyclub.«
Voller Energie warf sie sich ins Getümmel auf dem Dorfplatz.
Philomena hatte ihre eigene unkonventionelle Methode entwickelt und konzentrierte sich auf die Passanten, die Kopfhörer im Ohr hatten. Sie stellte sich auf und fuchtelte aufgeregt vor ihnen herum.
»Wenn die stehen bleiben und die Hörer rausnehmen, habe ich schon mal die volle Aufmerksamkeit«, hatte sie ihre besondere Taktik erklärt. »Der Rest ist ein Kinderspiel.«
Amelie war in ihrem Element. Endlich konnte sie den männlichen Blicken, die ihr folgten, etwas entgegensetzen. Ihr unschuldiger Blick sagte etwas wie: Ich würde dich gerne etwas fragen, bin aber leider ein bisschen schüchtern. Mit verlegenem Kichern übergab sie einen Keks und eilte zum nächsten Passanten. Die Waffeln fanden reißenden Absatz, ohne dass sie sich besonders anstrengen musste.
Es lief großartig und machte Spaß, bis sie auf einmal in der Menge eine orangefarbene Jacke aufblitzen sah. Auf dem Rücken prangte die bekannte schwarze Aufschrift: You’ll never walk alone. Es war Thijs. Ganz offensichtlich hatte er ihre Mutter alleine im Hotel zurückgelassen. Vielleicht musste sie sich ausruhen. Amelie wollte bereits auf ihn zugehen, als eine Frau ihr zuvorkam und ihn überschwänglich umarmte. Thijs drückte ihr drei Küsse auf die Wangen. Als er sich aus ihren Armen löste, entdeckte er Amelie. Sein Lächeln gefror.