Yella atmete tief durch. Die Regenwolken hatten sich verzogen, und mit den Sonnenstrahlen kehrte das Leben zurück. Während Doro und Amelie mit dem Rest der Familie zum Ferienhaus zurückgefahren waren, liefen Helen und Yella zum Meer.
Die Flut drückte das Wasser an Land, Wellen mit großen Schaumkronen brachen sich eindrucksvoll am Strand, der betupft war von todesmutigen Sonnenanbetern und Spaziergängern. Über ihnen knatterten bunte Drachen in der Luft.
Yella zog ihre Schuhe aus und krempelte die Jeans hoch. Vorsichtig tauchte sie ihre Zehen in das Wasser, nur um im nächsten Moment von einer überraschend großen Welle erfasst zu werden. Das Kreischen der Möwen klang gehässig, als der Kälteschock durch ihren Körper zitterte, aber schon nach ein paar Metern gewöhnte sie sich an die eisige Temperatur.
»10 Grad. Höchstens«, sagte Helen, die es ihr gleichtat.
Die Wellen umspielten ihre weiß glänzenden Knöchel und zeichneten unablässig mit Algen immer neue Linien in den Sand, die ebenso flüchtig waren wie die Wolkengebilde am Himmel. Die Nordsee hatte eine beruhigende Wirkung auf Yella. Gemessen an der Unermesslichkeit des Meeres kamen ihr ihre eigenen Probleme gering vor. Um keinen Preis der Welt wollte Yella den Rest des Tages mit Doro in einem Raum verbringen. Sie brauchte einfach eine Pause von ihrer großen Schwester. Vor allem aber brauchte sie eine Pause von sich selbst.
»Findest du mich anstrengend?«, fragte sie kleinlaut.
Helen biss auf ihrer Lippe herum und sah sie hilflos an. Eigentlich hätte ihr das Antwort genug sein sollen.
»Sei ehrlich«, insistierte sie, als ob der Teufel sie ritt.
»Erst trinkst du zu viel, dann kommst du nicht pünktlich aus dem Bett, erscheinst wie der lang erwartete Überraschungsgast auf unserem Fest, stocherst ein bisschen pikiert im Essen rum, bevor dir schlecht wird und unsere Mutter dir hinterhergehen muss, um dich persönlich an den Tisch zurückzubitten. Und dann krachst du mit Doro zusammen. Aber sonst finde ich dich ganz okay.«
»Anstrengend«, sagte Yella schuldbewusst. Sie konnte nur allzu gut nachvollziehen, wie all ihre Handlungen von außen wirkten. Wieso gelang ihr einfach kein entspannter Umgang mit ihrer Familie? Sie gab sich wirklich Mühe, es allen recht zu machen, und erreichte am Ende doch nur das Gegenteil. Was machte sie falsch? Wie war sie in diesen Kreislauf hineingeraten? Wenn sie ehrlich war, konnte sie die Yella, in die sie sich verwandelte, sobald sie in ihre Herkunftsfamilie eintauchte, nicht ausstehen. Innerhalb von achtundvierzig Stunden hatte sie es geschafft, wirklich alle gegen sich aufzubringen. Ihr Holland-Aufenthalt, eine Reihe von tausend winzigen Fehlentscheidungen und Unaufmerksamkeiten wuchs sich zum Problem aus.
»Manchmal ist es schwierig zu akzeptieren, wer man geworden ist«, sagte Helen tröstend.
Der Himmel riss immer mehr auf, sodass man die Windräder draußen auf dem Meer gut erkennen konnte. »Thijs hat erzählt, dass er da draußen Kabel gelegt hat. Das muss ein Höllenjob sein.«
Sie ließen sich am Rand der Dünen nieder und starrten schweigend in den Sonnenuntergang.
»Bist du glücklich?«, fragte Yella.
Helen zuckte mit den Achseln. »Wer hat uns eigentlich eingeredet, dass wir immer glücklich sein müssen? Arbeit ist immer auch Stress und jede Beziehung eine Herausforderung. Und dann sollen wir obendrauf auch noch ständig glücklich sein.«
Yella lachte. »Keiner will unglücklich sein.«
»Mir ist wichtiger, dass das, was ich tue, einen Sinn hat«, sagte Helen. »Ich will etwas für andere tun. Und das macht mich dann glücklich.« Sie legte eine Pause ein. »Im besten Fall«, schob sie nach.
»Was ist eigentlich los bei dir und Paul?«, fragte Yella, ihre selbst auferlegte Zurückhaltung über Bord werfend. Und zu ihrer Überraschung antwortete Helen.
»Pauls Arbeit ist nur eine Ausrede«, sagte Helen. »Ich habe ihn ausgeladen. Und er bestand darauf, trotzdem zu kommen. Deswegen ist er im Hotel.«
Helen log nie. Aber sie erzählte auch nie die ganze Wahrheit.
»Was hat er denn so Furchtbares angestellt?«, fragte Yella vorsichtig.
»Ich weiß nicht, ob ich noch mit ihm zusammen sein kann«, sagte Helen traurig.
»Weil …«, ergänzte Yella.
Sie hatte das Gefühl, über rohe Eier zu laufen. Bei Helen wusste man nie, wann man ihr zu nahe trat. Ihre Schwester grub ihre Zehenspitzen in den kühlen Sand ein, bis sie auf eine Muschel stieß.
»Vor drei Wochen hat er mich am Wochenende entführt«, setzte sie stockend an und unterbrach sich sofort. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich das erzählen kann.«
»So schlimm?«, fragte Yella.
»Er ist mit mir auf ein Schloss gefahren, er hat großartiges Essen bestellt, und dann ist er auf die Knie gefallen und hat mir einen Heiratsantrag gemacht«, sagte Helen.
»Das ist doch toll«, sagte Yella. »Wo ist das Problem?«
Man musste ihrer kleinen Schwester wirklich jedes Wort aus der Nase ziehen.
»Und dann habe ich Nein gesagt.«
Yella lachte laut auf. Helen sprang auf, klopfte allen Sand von ihrer Kleidung.
»Es ist mir ernst, Yella«, sagte sie verletzt.
Yella erhob sich mühsam aus dem Sand und lief Helen hinterher. Am Horizont erkannte sie die ersten Strandhütten vom fünf Kilometer entfernten Egmond aan Zee, in weiter Entfernung zeichneten sich die hohen Schornsteine der Hochöfen von IJmuiden ab.
»Was spricht gegen heiraten?«, fragte Yella. »Ihr seid so ein gutes Paar.«
»Weil wir freiwillig zusammen sind«, sagte Helen. »Ich will nicht werden wie unsere Mutter. Sie wartet ihr ganzes Leben darauf, dass ein Mann sie glücklich macht. Sie vergisst, dass sie für ihr eigenes Schicksal verantwortlich ist.«
Yella sah sie an. »Du sagst Nein wegen unserer Mutter?«
»Paul will heiraten. Und er will Kinder«, gab Helen endlich zu. »Aber ich weiß nicht, ob ich das hinbekomme. Ich war noch nie gut mit Kindern. Noch nicht mal als kleines Mädchen. Ich war schon früher lieber mit Erwachsenen zusammen. Aber keiner hatte Lust, die Weltprobleme mit einer Siebenjährigen zu diskutieren.«
Yella schluckte schwer. Helens trotzige Unabhängigkeit hatte auch eine traurige Seite.
»Nach Papas Tod war alles anders. Ich war ein Kind, das es kaum erwarten konnte, erwachsen zu werden, mit einer Mutter, die sich wie ein Kind verhielt und sich diesem Mann unterordnete.«
Yella realisierte, dass sie seit vielen Jahren nicht über die dunkle Periode nach dem Tod ihres Vaters gesprochen hatten. Die ganze Familie vermied kollektiv das Thema, das unweigerlich zu Tränen führte.
»Kinder sind das Schönste auf der Welt«, sagte Yella. »Beziehungen sind schwierig.«
»Was, wenn es nicht funktioniert? Was, wenn meine Kinder dieselben Probleme haben wie ich? Das hat kein Mensch verdient. Was, wenn ich eine genauso schlechte Mutter bin wie unsere?«
»Sie war keine schlechte Mutter«, sagte Yella.
»Doch«, sagte Helen. »Sie war eine schlechte Mutter. Und sie ist bis heute eine schlechte Mutter.«
Der Wind trug ihren wütenden Satz davon. Für einen Moment starrten sie schweigend auf das Strandleben. Spaziergänger stemmten sich gegen die steife Brise, ein Vater schrie nach seinem Sohn und schaffte kaum, die brechenden Wellen zu übertönen. Der kleine Junge schleppte in einem Eimer Nordseewasser für seinen frisch gebuddelten Burggraben heran, während seine Baby-Schwester ausprobierte, wie Sand schmeckte. Überall wurden Fotos geknipst und Filme aufgenommen. Irgendwo dudelte Musik. Jugendliche gruppierten sich um einen Minilautsprecher wie um ein imaginäres Lagerfeuer. Yella wollte nie wieder weg von diesem Strand.
»Ich habe mich nie gesehen gefühlt«, sagte Helen. »Da kann sie mir noch so oft einflüstern, dass ich ihr Liebling war.«
»Das hat Mama gesagt?«, fragte Yella betroffen.
Helen nickte. »Sie hat mich an die Seite genommen und mir ganz verschwörerisch zugeraunt, dass sie sich mir am nächsten fühlt. Weil sie meine Unabhängigkeit bewundert.«
»Ihr Zwillinge wart immer ihre Lieblinge«, sagte Yella schwach.
»Sie hat uns rausgeputzt. Sie liebte es, uns einzukleiden wie Puppen. Alle fanden uns so niedlich, bis wir nicht mehr so niedlich waren, dass man mit uns angeben konnte.«
Das Leben ihrer Mutter war sicher nicht das geworden, was sie sich als junge Frau einmal erträumt hatte. Mit achtzehn war sie aus ihrer erzkonservativen Familie in die Arme des Erstbesten geflüchtet, der ihr einen Ausweg bot, und begann als Stewardess zu arbeiten. Das erste Kind war ungeplant, beim zweiten legte sie die Berufstätigkeit und ihre hochfliegenden Pläne, mit Johannes die Welt zu bereisen, endgültig auf Eis. Die Zwillinge zementierten ihre Situation. Richtig fröhlich war sie nur in Holland, wenn sie nicht den ganzen Tag mit den Kindern beschäftigt war.
»Sie hat nach dem Unfall den Halt verloren«, verteidigte Yella ihre Mutter.
»Sie war auch vorher nie da, Yella.«
»Wir waren glücklich hier. Wir waren die Sommerschwestern mit einer intakten Familie.«
»Unsinn«, sagte Helen scharf.
Yella sah ihre Schwester überrascht an. Alle Wut schien aus ihr herauszubrechen.
»Wir waren uns selber überlassen. Nur fiel es hier nicht so auf. Hast du dich jemals gefragt, was sie in all den Sommern getan hat, während wir am Strand waren und alleine über den Campingplatz streunten?«
»Was meinst du damit? Worauf spielst du an?«
»Ich weiß nur, dass sie an uns nicht sonderlich interessiert war.«
Yella hatte den Eindruck, dass Helen mehr wusste als sie. In ihrem Elefantengedächtnis ging nichts verloren.
»Du meinst, wir waren Sommerschwestern, weil sich sonst niemand um uns gekümmert hat?«, fragte Yella nach.
»Ich will niemanden verantwortlich machen für mein Leben«, nahm Helen den Faden wieder auf. »Noch nicht mal auf dem Papier. Und ich will für niemand anderen verantwortlich sein. Am allerwenigsten für ein Kind.«
Yella konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt so offen mit ihrer Schwester gesprochen hatte.
»Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn unser Vater noch lebte«, schob Helen leise nach.
Yella drückte Helens Hand. Ihre kleine Schwester war so introvertiert, dass sie es anderen Leuten leicht machte, sie falsch zu verstehen. Anders als Doro, die immer Publikum brauchte, und Amelie, die schnell zu verunsichern war, schien Helen unbeeindruckt davon, was andere Menschen von ihr hielten. Für einen Moment zeigte die Mauer, die Helen um sich errichtet hatte, Risse. Vielleicht war Helen ihr gar nicht so unähnlich, wie sie immer gedacht hatte.
»Und was ist mit dir?«, fragte ihre Schwester. »Warum habt ihr nie geheiratet?«
»David und ich haben sowieso lebenslang, schon wegen der Jungs«, sagte Yella. »Wenn wir nicht verheiratet sind, wer dann?«
Helens hartnäckiges Schweigen zwang sie weiterzusprechen. Es war nicht leicht, ihrer aufmerksamen Schwester etwas vorzumachen. Sie schien ihre Ausweichmanöver zu durchschauen.
»David hat mich noch nie gefragt«, gab sie kleinlaut zu. »Einmal dachte ich, es wäre so weit. Er ging plötzlich auf die Knie.«
»Und dann …?«
»Schenkte er mir einen schönen Stein, den er auf dem Boden entdeckt hatte«, sagte Yella.
Sie lachten.
»Vielleicht ist das auch gut so. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihm die Ewigkeit versprechen kann. Es ist schwierig.«
Helen lachte auf einmal auf. »Unsere Mutter legt mehr Wert darauf, verheiratet zu sein, als wir. Dabei ist ihr sogar egal, wie würdig der Kandidat ist.«
Vom Lautsprecher der Jugendlichen wehte ein bekanntes Lied heran. »You’ll never walk alone.«
Yella ließ sich von der Melodie anstecken und fiel ein: »Walk on through the wind, walk on through the rain, though your dreams be tossed and blown, walk on, walk on, with hope in your heart and you’ll never walk alone.«
Helen neben ihr war blass geworden. Ihre ganze Haltung hatte sich verändert.
»You’ll never walk alone«, wiederholte sie. »Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wo ich den Text schon mal gesehen habe.«
Sie holte ihr Handy heraus und scrollte sich durch Amelies Instagram-Account, bis sie den erfolgreichen Post fand, den Amelie auf der Terrasse gefilmt hatte. Sie zoomte ein auf das ältere Paar, das anscheinend nicht nur ihre Zwillingsschwester gerührt hatte. Über dem Stuhl hing die orangefarbene Jacke mit der Aufschrift: You’ll never walk alone. Nijmegen 2012. Es war Thijs’ Jacke.
In Egmond aan Zee tranken Yella und Helen in einem Strandrestaurant heißen Tee. Sie hatten keinen Blick mehr für Wellen, den Strand und die zauberhafte Atmosphäre. Mithilfe von Suchmaschine und Google Translate durchforsteten sie das Internet nach weiteren Informationen. Nijmegen 2012 spielte ganz offensichtlich auf ein Event an, bei dem man vier Tage lang die niederländische Provinz Gelderland rund um Nijmegen abmarschierte: die berühmte Vierdaagse.
»Fünfzig Kilometer am Tag, und das mit über 40.000 anderen Wanderern«, las Helen vor. »Bei der Tour läuft man wirklich nicht alone. Kein Wunder, dass Amelie so viele Reaktionen bekommen hat.«
Yella fand in einer alten Ausgabe vom Nordhollands Dagblad einen Artikel über die schwierige Offshorearbeit auf einer Bohrinsel, der unter anderem Thijs Janssen erwähnte. Auch seine Exfrau und die Mutter seiner Kinder gehörte zu den Interviewten: »Man kann keine Ehe führen«, so hatte sie dem Journalisten zu Protokoll gegeben, »wenn der Mann auf der Nordsee unterwegs ist. Die Kinder bekommen ihn wochenlang nicht zu Gesicht. Und wenn er mal zu Hause ist, will er sich amüsieren. Die Scheidungsrate unter Offshorearbeitern ist enorm.«
Ein paar Jahre später berichtete dieselbe Zeitung über einen Betriebsunfall, bei dem Thijs schwer verletzt worden war. Danach verlor sich seine digitale Spur. Einen Handwerksbetrieb, der auf seinen Namen zugelassen war, konnten sie nicht finden. Weder vor noch nach Corona. Womit hatte er in den letzten Jahren sein Geld verdient?
Wie bei einer Zwiebel schälte sich langsam der Kern einer Biografie heraus. Thijs Janssen hatte die Hälfte seines Lebens auf dem Meer verbracht und war, was Hochzeiten, Scheidungen und gescheiterte Familien betraf, Wiederholungstäter.
»Er passt kein bisschen zu ihr«, sagte Helen. »Was findet sie nur an ihm?«
Dr. Deniz sagte immer, dass hinter jeder Tat eine gute Absicht steckte. Sie glaubte fest daran, dass ihre Mutter genau diese guten Absichten auch Thijs unterstellte. Aber war das auch die Wahrheit?
»Unsere Mutter verschweigt etwas«, wiederholte Yella. »Genau wie Thijs.«
Helen nickte einfach nur.