Nach einer unruhigen Nacht war Yella viel zu früh aufgewacht. Sofort standen die Schreckgespenster des gestrigen Tages wieder vor ihr: die überraschenden Heiratsabsichten ihrer Mutter, die Auseinandersetzung mit Doro, der schwelende Konflikt mit David, die verstörenden Informationen über Thijs.

Nach der Rückkehr vom Strand hatten sie Amelie auf den Film von der Terrasse angesprochen. Doch die konnte nichts Beunruhigendes erkennen.

»Ich habe die beiden gestern auf dem dorpsplein getroffen«, lachte sie. »Das ist seine Exfrau. Die zweite. Sie ist Floristin und liefert die Blumen für die Hochzeit. Deswegen treffen die beiden sich.«

Yella wünschte, sie könnte die Gutgläubigkeit ihrer Schwester teilen.

»Sie waren nur zwei Jahre verheiratet. Deswegen verstehen sie sich noch«, hatte ihre Schwester Thijs’ Erklärung zitiert. »Und drei Küsse als Begrüßung sind in Holland ganz normal. Wusste ich auch nicht.«

Yella kämpfte mit sich. Wenn man den Film Bild für Bild auseinandernahm, konnte man tatsächlich nicht zweifelsfrei beurteilen, ob die beiden ein Liebespaar waren oder doch nur als allerbeste Freunde Blumenarrangements besprachen und auf Thijs’ Hochzeit anstießen.

 

Vielleicht sollte sie Amelies Antistressprogramm folgen und den Tag mit Affirmationen starten.

»Ich habe mein Leben im Griff«, quetschte sie zwischen dem Schaum der Zahnpasta heraus. »Ich kann alles schaffen, ich liebe mich selbst, ich bin attraktiv, ich bin ein wertvoller Mensch und verdiene, glücklich zu sein. Ich bin geduldig und ausgeglichen und lasse mich von nichts und niemandem provozieren. Noch nicht mal von Doro.«

Das Programm versagte bei Yella genauso wie bei Amelie, die trotz Affirmationen und Achtsamkeitstraining immer etwas verweht wirkte.

Das Ferienhaus lag noch im Tiefschlaf, als sie auf Zehenspitzen die Treppe hinunterschlich. Als Kind war sie im Urlaub oft heimlich aus dem Zelt gekrochen und vor Tagesanbruch herumgestromert. Noch heute liebte sie die besondere Morgenstimmung, den Moment des Alleinseins vor Tagesanbruch, bevor das Leben wieder unübersichtlich und kompliziert wurde.

Sie erschrak, als sie als Erstes in ihr eigenes dreizehnjähriges Gesicht blickte. Eine ihrer Schwestern hatte die Seelandschaft vom Nagel geholt und stattdessen das neu aufgetauchte Schwesternporträt an die Wand gehängt. Mit dem dünnen schwarzen Rahmen passte es so perfekt in die Einrichtung, als hätte es seinen ultimativen Platz gefunden. Wieder beschlich Yella dieses merkwürdige Gefühl, dass das Geheimnis tief in diesem Bild verborgen war. Ihr Blick glitt über die Gesichter ihrer Schwestern und blieb an ihrer grimmigen Miene hängen. Was irritierte sie nur so an diesem Bild? Hatte ihre Mutter sich

Die Küche lag genau neben dem Zimmer, in dem Amelie schlief. Um keinen Krach zu verursachen, beschloss Yella, sich im Dorf auf die Suche nach frischen Brötchen und einem Kaffee zu machen.

 

Nach der Erfahrung des gestrigen Tages achtete Yella genau auf ihren Weg. Solange man sich nicht von einem schottischen Hochlandrind in die Büsche treiben ließ, war es selbst für ortsunkundige Wanderer und Fahrradfahrer ein Kinderspiel, sich zu orientieren. An Straßenlaternen wiesen bunte Pfeile von Knotenpunkt zu Knotenpunkt. Ohne große Mühe folgte sie der Route, die in weitem Bogen ins Dorf führte. Hatte sie bislang vor allem den Wald und die Dünen erkundet, entschied sie sich heute für die nördliche Seite des Dorfs, die einen freien Blick über die Polderlandschaft bot.

Die Sonne versteckte sich hinter einer grauen Wolkenfront. Noch waberte der Nebel dunstig über die Felder, Wiesenflächen glänzten, feucht vom Morgentau. Sie sog jedes kleine Detail in sich auf. Yellas Augen schweiften über die flache Landschaft. Erfreut entdeckte sie die zarten Umrisse einer Windmühle, die vermutlich kilometerweit entfernt war. Daneben durchkreuzte ein Boot die Landschaft, als ob es sich durch die Äcker pflügen würde. Sie balancierte auf einer schmalen Holzbrücke über einen der unzähligen Kanäle, die überschüssiges Wasser aus den Feldern abtransportierten und die Landschaft schraffierten. Der Wanderweg führte über Privatgelände, an Feldrändern und Uferböschungen vorbei. Immer wieder versperrten

Ein grüner Schlund verschluckte sie. Die schiefen Bäume der Eeuwigelaan verneigten sich neugierig über ihrem Kopf. Unter dem Schild Fietsstraat. Auto te gast stand der entscheidende Hinweis: Centrum 500 meter. Zu ihrer Linken tauchte das Museum Kranenburgh auf, eine stattliche Klinkervilla, deren Fläche mit einem modernen Glasanbau erweitert worden war. Wie oft war sie im baumreichen Außenbereich der Kunstsammlung im sogenannten Skulpturenwald zwischen den Statuen herumgetollt, während ihr Vater die Werke der berühmten Bergener Schule studierte? Am Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sich viele namhafte Künstler in dem noch jungen Dorf niedergelassen. Die Künstlerkolonie hatte es zu überregionaler Bedeutung gebracht und bis heute nichts an Strahlkraft eingebüßt. Noch immer lebten am Ort überdurchschnittlich viele Künstler. Ihr Vater erforschte in Bergen nicht nur akribisch Farbe und Lichtgestaltung der von den Impressionisten

Jeder einzelne Meter, den sie im Dorf zurücklegte, war voller Erinnerungen. Die Proportionen, die sie abgespeichert hatte, stimmten nirgendwo mit der Wirklichkeit überein. Der Park wirkte größer, die geduckten Häuser im Zentrum wesentlich kleiner, die Wege belebter. Zu allen Seiten begrenzten Bäume den Blick. Es mussten Tausende sein, die im Zentrum von Bergen angepflanzt worden waren. Rechts und links der Allee standen reetgedeckte historische Millionenvillen einträchtig neben hypermodernen Bungalows mit gigantischen Gärten, deren Preise astronomisch sein dürften. Die Straße, das wusste sie noch von früher, bildete das überraschend schmale Nadelöhr in den Ort hinein. Viele Bäume trugen Narben in der Rinde, die darauf schließen ließen, dass es nicht jedem Autofahrer gelungen war, auf dem schmalen Weg Spur zu halten. Unwillkürlich fiel ihr der Unfall ihres Vaters ein. Es war, als ob die dazwischenliegenden Jahre wegschmolzen wie Schnee in der Sonne. Hinter jeder Ecke rechnete sie damit, seine lange, hagere Gestalt zu entdecken. In den Fluchten dieses holländischen Dorfs war Johannes Thalberg schmerzhaft gegenwärtig. Unaufhaltsam wirbelte der Wind, der von der Nordsee her durch die Straßenzüge fegte, verloren geglaubte Bilder heran.

Die Erinnerungslawine drohte Yella mit Haut und Haar zu verschlucken. Abgeschnitten von ihrem normalen Leben ohne den permanenten Laufschritt, der sie davon abhielt, sich in der Vergangenheit zu verlieren, verwandelte sie sich wieder in das Mädchen von einst. Es war, als tanze die kleine Yella immer noch durch die engen Straßen des Dorfes. Ein Teil von ihr war hier zurückgeblieben, als sie nach dem Unfall überstürzt abgereist waren. Alles in Bergen erzählte die Geschichte der Familie, die sie einmal gewesen waren. Aber wo war ihre Mutter in dem Bild? Hatte die Trauer alle positiven Gedanken überlagert? Oder war sie wirklich so abwesend gewesen, wie Helen behauptete? Stattdessen sah sie Menschen vor sich, an die sie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gedacht hatte. Schwankend lief sie weiter. In jedem Gesicht, das ihr begegnete, suchte sie fieberhaft einen Bekannten von früher. Ob es hier jemanden gab, der sich an ihre Familie erinnerte? Was war zum Beispiel aus Sjaak mit den riesigen abstehenden Ohren geworden, der in der Snackbar auf dem dorpsplein Pommes mit dicker weißer Mayo verkaufte, oder aus Frenkie, dem blond gelockten Surfer, in den sie im letzten Sommer unsterblich verliebt gewesen war?

Jedes Haus, jeder Baum, jeder Stein schien mit einer geheimen Botschaft aufgeladen. Find me later luden verschnörkelte Buchstaben, die mit einem Pfeil versehen waren, ein. Mit klopfendem Herzen folgte sie dem Wegweiser, nur um festzustellen, dass »Find me later« der Name eines Geschäfts war, das antike

In den engen Gassen hatten sich zahllose Restaurants, Cafés und Geschäfte angesiedelt. Ein paar Ecken weiter, zwischen edlen Lifestyle- und verblüffend teuren Boutiquen, einer Metzgerei, deren Logo mit dem blauen K und der roten Krone sie noch von früher kannte, und einem Gemüsehändler befand sich Het Stokpaardje, der Kinderladen, in dem sie jedes Jahr aufs Neue für das wechselhafte holländische Wetter eingekleidet wurden. Nie hatten sie die passende Kleidung, mit der sie Wind und Wolkenbrüchen trotzen konnten, aus Köln mitgebracht. Nie hielten die dauerstrapazierten Regensachen länger als eine einzige Holland-Saison. Sie erinnerte sich, wie ihr funkelnagelneuer Regenanzug knirschte, als ihr Vater ihr auf diesen Straßen das Fahrradfahren beigebracht hatte. Ich kann jetzt fietsen, hatte Yella ihrer Kölner Freundin im Urlaubskauderwelsch mitgeteilt.

Yella hatte das Gefühl, im Museum ihres eigenen Lebens unterwegs zu sein. Sie war so damit beschäftigt, in sich nach Erinnerungsstücken zu fahnden, dass sie nicht wahrnahm, wie sie das ultimative Kapitalverbrechen beging. Sie trat zurück, um ein Foto von einer besonders anheimelnden Fassade aufzunehmen, als sie um ein Haar von einem Fahrrad erfasst wurde.

»Sorry«, rief ein fröhlicher junger Mann auf die typisch holländische Art mit einem imaginären scharfen s am Anfang.

Sie wich mit einem hastigen Satz nach hinten aus, nur um fast von einem Fahrradgeisterfahrer erfasst zu werden. Eine

Yella staunte über die auffällige Ruhe. Während in Berlin längst der Morgenwahnsinn begonnen hatte, herrschte hier im Dorf eine gemütliche Stimmung. Die Bäume, die überall die Straßen säumten, wirkten wie ein beschützendes Dach. Darunter hatten die Leute auffallend viel Zeit und gute Laune. Im Glücksatlas schnitt Berlin meist sehr schlecht ab. Die Mütter und Väter am morgendlichen Schultor konnten sich über alles aufregen: über steigende Mieten, viel zu niedrige Einkommen, den BVG-Bus, der nicht pünktlich oder überfüllt war, das letzte Burn-out, die Kälte, die Hitze, die Baustelle an der Ecke, den wenigen Schlaf, über Touristen auf Segways und das Wetter. Und das durchgängig von Oktober bis März, wenn es in Berlin chronisch viel zu wenig Sonne gab.

In Bergen ging es gemütlicher zu. Das Fahrrad war in Bergen erste Wahl für alle täglichen Erledigungen, was das Tempo drosselte und, so man den Radlern nicht in die Quere kam, einen Hauch universeller Gelassenheit vermittelte. Eltern radelten mit ihren Kindern auf den Lenkstangensitzen, ultralangen, mit Polstern ausgestatteten Gepäckträgern und breiten Lastenfahrrädern zur Schule, ein Mann mit Anzug und Aktentasche schwang sich auf sein Rennrad, Teenager machten sich in dicken Trauben auf den Weg nach Alkmaar in die

»Mann, habe ich Hunger«, sagte eine männliche Stimme in klarstem Ruhrpottdialekt.

Während Yella ihren Söhnen verbot, ohne Kopfschutz auf ihre kleinen Räder zu steigen, waren Helme in Holland offensichtlich Touristen vorbehalten.

Yella hielt erschrocken den Atem an, als sie ein paar Meter weiter den altehrwürdigen Laden mit Künstlerbedarf entdeckte: Jonkmans. Art, Verf en Lijsten. Mit zittrigen Knien trat sie an die Fensterscheibe, um einen Blick in den Innenraum zu erhaschen. Ob es den schrulligen Besitzer noch gab, der ihrem Vater alle Blautöne dieser Welt verkauft hatte? Die Tür flog krachend auf. Yella fuhr zusammen, als hätte man sie bei einer verbotenen Aktion ertappt.

Eine lange, hagere Gestalt verließ den Laden. Ihr Gesicht blieb hinter einer Malerei verborgen. Einen Moment lang hegte sie die absurde Hoffnung, hinter der Leinwand könne sich ihr Vater verbergen. Wie oft hatte Johannes Thalberg, anstatt zügig die Familieneinkäufe zu erledigen, einen Zwischenstopp bei Jonkmans eingelegt, um durch die langen Regale mit Pigmenten, Farben, Pinseln und Papier zu streunen. Wie oft war er mit einem neuen Zeichenblock, besonderen Stiften oder Einladungen zu Ausstellungen, Atelierbesichtigungen und Malkursen, jedoch ohne Milch, die verlangten Nudeln oder das Brot fürs Frühstück auf den Campingplatz zurückgekehrt. Yella fühlte eigentümliche Schockwellen

Er drehte sich immer wieder zu ihr um und lachte sie freundlich an.

»Gaat het?«, fragte er.

Als sie nicht reagierte, versuchte er es auf Deutsch: »Alles in Ordnung?«

Yella nickte hastig. »Ich habe Sie verwechselt«, murmelte sie und machte sich davon.

»Kein Problem«, rief er ihr hinterher. »Das passiert mir dauernd. Ich habe ein Allerweltsgesicht.«

Yella fiel das merkwürdige Schwesternfoto ein, das sich zwanzig Jahre lang im Lager dieses Ladens versteckt hatte, bevor Thijs es zufällig entdeckte und ihrer Mutter überbrachte. Was irritierte sie nur so an diesem Foto und seiner Geschichte? Sie konnte den Finger einfach nicht drauflegen. Fast schon erleichtert entdeckte sie ein paar Schritte weiter das vertraute blau-weiße Logo der Supermarktkette Albert Heijn. Gleich daneben lag der Bakkerswinkel. Endlich Kaffee!