Die Ladenglocke klingelte fröhlich, als Yella die Bäckerei betrat. Das Angebot an Backwaren war überschaubar im Vergleich zu ihrem Berliner Bäcker, der noch fünfzehn Minuten vor Ladenschluss mit einer großen Palette an verschiedenen Brötchen, süßen Teilchen und Kuchen aufwartete. In der Schlange fühlte sie sich wieder wie das kleine Mädchen, das nervös auf ihren Auftritt wartete. Von allen Seiten flogen die niederländischen Worte sie an. »Dag«, »Tot ziens«, »Een halfje«, was bedeutete, dass ein Brot in einen Brotschneider gelegt und ratternd in zwei Hälften geteilt wurde.
Von früher wusste sie noch, dass es im Dorf nicht gerne gesehen war, einfach auf Deutsch loszuplappern. Und das, obwohl viele Einheimische die Sprache problemlos verstanden. Die kindliche Unbedarftheit, sich ohne Rücksicht auf Verluste in der fremden Sprache auszuprobieren, war ihr abhandengekommen. Yella war fast schon bereit, sich mit Zeigefinger und Gebärden aus der Affäre zu ziehen, als aus den Untiefen ihres Gedächtnisses ein Satz an die Oberfläche trieb. »Mag ik vier krentenbollen, alstublieft.« Wie viele Strandtage an der Nordsee hatten mit diesem Satz begonnen? »Dank u wel«, sagte sie automatisch, als sie eine längliche Verpackung mit sechs weichen Rosinenbrötchen ausgehändigt bekam. Sechs waren, so hatte das Mädchen hinter der Theke freundlich erläutert, viel günstiger als vier. Auch daran erinnerte Yella sich lebhaft: In holländischen Geschäften gab es ständig Mengenrabatt, Sonderaktionen und Spargelegenheiten. Jeden Sommer rissen sie ihren Eltern die Marken von der Shell-Tankstelle aus den Händen, schnitten die Punkte auf den Douwe-Egberts-Kaffeeverpackungen aus und sammelten gewissenhaft die Rabattmarken, die in verschiedenen Supermärkten ausgegeben wurden. Sie sparten für Strandhandtücher, besondere Trinkbecher, Tischwäsche, Besteck oder Aufbewahrungsdosen. Noch beliebter waren bei den Schwestern jedoch die Gratisgeschenke für Kinder, die je 30 Gulden an der Kasse ausgegeben wurden. Manchmal lungerten sie sogar an der Kasse herum, um die begehrten Aufkleber fürs Sammelalbum, Schlüsselanhänger, Tattoos oder Lebensmittelminiaturen für den Kaufmannsladen von anderen Kunden zu erbetteln.
Yella fotografierte gerührt den länglichen Plastikbeutel und schickte die Aufnahme in die Familiengruppe. Wer will?, fragte sie. Ganz offensichtlich waren die Schwestern inzwischen wach, denn die Antworten trudelten sofort bei ihr ein: Für mich nicht, schrieb Helen. Ich habe gestern zu viel gegessen.
Oh mein Gott, die habe ich als Kind gehasst. Ich habe den halben Tag damit verbracht, die Rosinen rauszupulen, antwortete Amelie. Ich hatte dich immer im Verdacht, sie nur zu kaufen, damit du zwei essen kannst. Und ihre große Schwester war wieder mal auf dem Planeten Doro unterwegs. Ohne eine Antwort auf die eigentliche Frage zu geben, schickte sie eine Sprachnachricht: »Yella, wenn du einkaufen bist, könntest du so lieb sein, mir schwarzen Tee mitzubringen? PG tips, aber nicht die Pyramidenbeutel, sondern den losen. Wenn du den nicht findest, nimm grünen Tee, aber nur den japanischen Matcha. Von dem billigen bekomme ich Herzrasen. Aber nur wenn es dir nicht zu viel ist, Liebes. Und vielleicht noch Milch für meinen Kaffee, Hafermilch, aber achte darauf, dass er keine künstlichen Zusätze hat. Bei manchen Marken mischen sie Phosphat und künstliche Vitamine rein …«
Der Rest der Ansage ging im Zischen der Kaffeemaschine unter.
»Danke dir, du bist ein Schatz, Yella!«, sagte sie.
Willkommen in Doros Welt. Den gestrigen Krach hatte sie offenbar schon wieder vergessen. Einen Moment später ging eine zweite Sprachnachricht ein.
»Wenn du überhaupt noch mit mir redest«, sagte Doro und klang überraschend zerknirscht und kleinlaut. »Es tut mir leid, Yella. Ich bin so was von gestresst. Die ganze Hochzeit hängt an mir. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht.«
Es folgte eine lange Reihe Entschuldigungen, in denen vor allem das Wort ich vorkam. Doro war Spezialistin in verbalen Attacken und Weltmeisterin im Entschuldigen. Wenn sie keine Schwestern wären, würden sie es wohl kaum miteinander aushalten. Aber diesmal würde sie nicht auf das Gesäusel reinfallen. Sie löschte die Sprachnachricht und schlenderte gemütlich rüber zur Kirche, die, umgeben von einem Ring aus Bäumen, leicht erhöht über das Dorf wachte. Ruïnekerk. Protestantse kerk. Evangelische Kirche. Eglise Réformé: Das viersprachige Holzschild wies auf die kulturgeschichtliche Bedeutung des imposanten Baus hin. Alles war besser, als sofort zurück zum Ferienhaus zu laufen, wo Doro allen Sauerstoff für sich beanspruchte.
Yella nahm Platz an einem der langen Holztische, die vor der Kirche zum Verweilen einluden, trank den heißen Milchkaffee und biss genüsslich in ihr weiches Rosinenbrötchen, das herrlich nach früher schmeckte. Die Kirche wirkte in dem Dorf, in dem kleine Häuser dicht an dicht aneinanderlehnten, geradezu überdimensioniert. Die riesigen bogenförmigen Fenster in den verfallenen Backsteinmauern erzählten von alter Größe, Kugellöcher von leidvoller kriegerischer Vergangenheit.
Ganz pragmatisch hatten die Holländer die zerstörte Kathedrale wiederaufgebaut, so gut es ging. Die eine Hälfte der Kirche war intakt, die andere bestand nur noch aus den Grundmauern aus dem 15. Jahrhundert, die wie eine monumentale Zahnreihe aus der sorgfältig geschnittenen Grasfläche herausragte. An der Rückwand des halbierten Kirchenschiffs, umgeben von Mauern, die seit Jahrhunderten malerisch verwitterten, klebte ein niedriges dunkel gelacktes Holzhaus, das den Bauten im Dorf ähnelte. Was aussah wie ein Wohnhaus, diente in Wirklichkeit als Eingangsportal der Kirche. Der spitze Giebel des Häuschens, in dessen Seitenflügel gerade mal zwei Fenster passten, war mit Farbe abgesetzt, als hätte Leo die Hausumrisse mit dickem weißen Stift nachgezeichnet.
Sie kramte ihr Handy heraus, machte ein Foto und begutachte noch einmal Davids Mitteilungen. Sie war ihm unendlich dankbar, dass er ihre Söhne nicht in ihre Auseinandersetzung hineinzog. Auch wenn seine Antworten einsilbig ausfielen und sich nur noch um die Kinder drehten, hielt er sie auf dem Laufenden und übergab regelmäßig sein Handy an die beiden. Leo berichtete mit sich überschlagender Stimme von dem Piratenschatz, den sie in Penelopes Garten gefunden hatten, und Nick bestand darauf, Mama die Schramme an seinem Knie zu zeigen. Die Tränen in seinen Augen brachen Yella auch beim fünften Mal Abspielen fast das Herz. Sie schickte Leo ein paar Grüße mit einem Gif von einer Katze, die als Pirat verkleidet war, und nahm für Nick einen kurzen Film auf, in dem sie in die Kamera pustete. »Falls du wieder hinfällst«, sagte sie.
Dann zog sie den Notizblock aus ihrer Handtasche. In ihrem Start-up wurde sie immer ausgelacht, wenn sie Papier und Stift brauchte, um ihre Gedanken zu sortieren, anstatt ihre Aufgaben mit Apps zu verwalten. Heimlich leistete sie Abbitte bei Dr. Deniz, dem größten Verfechter des Denkens mit dem Stift. Früher hatte sie seine altmodische Herangehensweise abgetan. Jetzt tat es ihr gut, alles, was in den letzten achtundvierzig Stunden schiefgegangen war, mit der Hand in eine Prioritätenliste umzusetzen.
Unter Punkt Nummer 1 stand David. Seitdem die Einladung ihrer Mutter eingetroffen war, hing eine Art permanenter Gewitterstimmung über ihnen. Vielleicht hatte sich in den Jahren, in denen sich alles um Kinder und Arbeit drehte, zu viel Unausgesprochenes angesammelt. Sie beschloss, dass es wenig Sinn hatte, die Missverständnisse von hier aus ausräumen zu wollen. Sie verschob das klärende Gespräch auf einen Zeitpunkt, wo sie einander leibhaftig gegenübersaßen.
Unter Punkt 2 schrieb sie Doro und setzte sofort vier große Fragezeichen dahinter.
Kinderstimmen wehten zu ihr an den Tisch. Ein Ball rollte vor ihre Füße, dahinter tobten zwei kleine Mädchen heran. »Niet doen«, kreischte das schnellere Mädchen, als die kleinere sich in den Pullover festkrallte, um der Schwester den Ball abzujagen. »Laat me los.« Sie fielen und verwandelten sich in ein Knäuel aus Armen und Beinen. Yella strich energisch Doros Namen durch. Sie hatten tausendmal Krach gehabt, und tausendmal hatte sich Doro entschuldigt. Sie konnte mit den Gefühlsschwankungen ihrer großen Schwester einfach nicht umgehen.
Dann setzte sie Mama darunter, strich auch diesen Namen durch und ersetzte ihn durch Thijs.
Als sie aufsah, bemerkte sie, dass sie nicht mehr alleine war. Helen kam mit einem Kaffee aus der Bäckerei.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte Yella.
»Ich auch nicht«, sagte Helen.
Stöhnend ließ sie sich neben Yella nieder. »Ich habe von unserem Vater geträumt«, erzählte sie.
»Ich wünschte, ich würde auch mal von ihm träumen«, entgegnete Yella traurig. »Hat er was gesagt?«
»Wissen Sie vielleicht, wo ich die Dosenravioli finde?«, sagte Helen.
Yella sah sie verblüfft an. »Wie bitte?«
»Ich bin ihm im Supermarkt begegnet. Unser Vater suchte eine Dose Ravioli. Und er hat mich gesiezt.«
Yella verschluckte sich beinahe vor Lachen.
»Ich habe jahrelang gehofft, dass Papa einen Brief für uns versteckt hat, in dem Dinge stehen, die ich noch nicht von ihm weiß. Einen Brief, in dem er mir eine Weisheit für das Erwachsenenleben hinterlässt. Irgendetwas, woran ich mich festhalten kann. Und dann taucht er in meinem Traum auf und fragt nach Ravioli in Tomatensoße«, sagte Helen. »Ich habe Angst vor Dosenravioli.«
»Er liebte sie, weil sie immer gleich schmecken«, sagte Yella. »Papa wollte immer dasselbe. Denselben Campingplatz, denselben Urlaub, dieselben Abläufe.«
Helens Mundwinkel zuckten. »Es gibt so wenig, was von unserer Kindheit übrig ist. Er hat mich nicht einmal erkannt.«
Auf einmal füllten sich Helens Augen mit Tränen. So emotional hatte Yella ihre Schwester noch nie erlebt.
»Ich verstehe nicht, warum unsere Mutter unbedingt hierherkommen wollte«, sagte Helen. »Die ganzen Erinnerungen machen mich fertig.«
Yella drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Lass uns was Gutes aus dem Tag machen.«
»Was ist dein Vorschlag?«, schniefte Helen.
»Lass uns noch mal ganz von vorne anfangen. Bei dem Schwesternfoto.«
Helen nahm einen Schluck heißen Kaffees.
»Weißt du, was mich umtreibt?«, begann sie zögerlich. »Mich wundert, dass unser Vater es überhaupt hat rahmen lassen. Das hat er nicht mal mit seinen eigenen Bildern gemacht.«
Helen hatte recht. Die Zoofotos, alle Familienaufnahmen, selbst die Zeichnungen endeten in Pappkartons auf dem Dachboden.
»Es geht nicht ums Besitzen, Yella«, sagte er immer. »Es geht um den Schaffensprozess.«
Yella dachte an den kleinen Eisvogel über ihrem Bett, den sie selber hatte rahmen lassen: »Er hatte nie das Gefühl, dass etwas gut genug war, um es aufzuhängen.«
»Wenn du etwas hinter Glas bannst, ist es abgeschlossen. Dann hört es auf zu leben«, wiederholte Helen Worte ihres Vaters.
»Lass uns das Foto noch mal genauer untersuchen«, sagte Yella.
Helen nickte. Das Gefühl, endlich auf einer brauchbaren Spur angekommen zu sein, einte sie.